Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Auf dem trockenen, gelben Rasen liegend, lachen und scherzen wir über die erstaunlichen Gänge, die unser Essen durch unseren Körper zurücklegt und müssen alle feststellen, dass unser Interesse geweckt ist.

„Puh, also wenn ich mein Essen ewig in meinem Körper behalte, werde ich dick und rund bleiben“, jammert Andrea. „Aber, wenn ich doch nicht aufs Klo kann!“

Sabine lacht. „Tja, das werden wir dann morgen mal als Gesprächsrunde in unserer Biostunde anbringen. Was machen wir mit Andrea, die nicht auf die Toilette gehen kann.“

„Nein, bloß nicht!“, ruft Andrea bestürzt aus und wird rot.

Wir halten uns den Bauch vor Lachen, und völlig albern und verspielt wie Grundschüler reißen wir weiter dumme Witze.

Mein Handy klingelt und ich hole es aus der Tasche. Es zeigt mir eine Nummer ohne Namen an. Also ist das niemand, den ich kenne.

„Ja!“, kichere ich immer noch völlig albern in das Handy.

„Carolin?“, höre ich eine tiefe Stimme fragen.

„Ja“, hauche ich und mir bleibt mein Kichern im Hals stecken.

Verdammt, das ist Erik!

Ich werfe Ellen einen schnellen Blick zu und stehe auf, um mich ein Stück von der Gruppe zu entfernen. Wer weiß, was jetzt kommt? Ich für meinen Teil bin schrecklich wütend auf ihn, weil er Ellen so zugerichtet hat.

„Ich bin es, Erik!“

„Ja. Was willst du?“ Ich klinge auch dementsprechend.

„Nur hören, ob du den Samstagabend gut überstanden hast. Wenn ich gewusst hätte, dass du dir die Kekse reinziehst, hätte ich besser auf dich achtgegeben. Ellen ist deswegen ziemlich sauer auf mich.“

Einen Moment bin ich sprachlos. Dann raune ich ungehalten: „Du hast genug auf mich achtgegeben und du wusstest sehr wohl, dass ich die Kekse esse, wenn mir keiner sagt, was da drinnen ist. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir sogar noch den Teller zugeschoben. Aber egal. Ich kann selbst auf mich aufpassen“, brumme ich.

„Und warum bist du dann abgehauen?“, fragt er herausfordernd.

„Das war nicht ganz freiwillig, aber letztendlich wohl besser“, antworte ich und sehe zu den Mädels, die immer noch kichernd und herumalbernd sich in der Sonne aalen.

Erik brummt missmutig: „Warum besser? Dir wäre doch bei uns nichts passiert. Aber so weiß ich ja nicht, wo du in der Nacht noch gelandet bist.“

Komisch, hatte Ellen ihm nicht gesagt, dass mein Ex-Marcel mich abgeholt hat und der nun nicht mehr mein Ex ist?

Ich will nicht weiter mit Erik reden. Es geht ihn auch nichts an, wo ich abgeblieben bin. Aber es gibt etwas, was ich ihm zum Nachdenken mitgeben will. Unbedingt!

„Erik, wenn du das nächste Mal ein Problem mit mir hast, kläre das gefälligst mit mir und nicht mit deiner Schwester. Sie hat mir die blauen Flecken gezeigt, die du ihr zugefügt hast. Ich hasse solche Leute!“, fauche ich aufgebracht. „Ist das klar?“

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und vor meinem inneren Auge baut sich Eriks Gestalt in seiner vollen Größe auf. Vielleicht hätte ich meine Worte bedachter wählen sollen.

Einige Zeit ist es still am anderen Ende, was mich noch mehr beunruhigt. Dann verrät ein Räuspern, dass überhaupt noch jemand am anderen Ende der Leitung ist. „Okay, wann und wo?“, höre ich Erik wütend zischen.

Mir fällt die Kinnlade runter. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich versuche meine aufsteigende Unruhe zu ignorieren. Was soll ich jetzt tun? Ich werfe Ellen erneut einen schnellen Blick zu.

Am anderen Ende höre ich ein leises Lachen. „Ah, Schiss?“

Verdammt.

„Bestimmt nicht! Wir werden sehen, wann wir uns über den Weg laufen. Und ich habe keine Zeit mehr, die anderen warten. Tschau!“

„Okay! Dann bis ganz bald … zur Problembesprechung“, knurrt Erik übellaunig.

Oh weh. Wo habe ich mich da wieder hineinbugsiert? Ich lege schnell auf.

Als ich zu den Mädels zurückgehe, sieht Ellen mich fragend an.

Ich winke nur ab. Ich kann ihr nicht sagen, dass ihr Bruder so etwas wie eine Aussprache mit mir haben will … worüber auch immer. Wahrscheinlich ist er sauer, weil ich weiß, dass er Ellen so zugerichtet hat. Mir wird mulmig. Könnte er mir auch etwas antun? Oder ist das eins seiner Psychospiele, die Ellen erwähnte?

„Meine Güte, es ist schon nach fünf. Mein Bus fährt in zwanzig Minuten.“ Andrea springt auf. „Ich muss los. Muss noch jemand zum Bahnhof?“

Sabine steht auch auf, während Ellen an ihr Telefon geht, das zu klingeln begonnen hat. Sie winkt den beiden zu und wirkt irritiert, als sie sich meldet.

„Wo gehen wir denn am besten von hier aus lang?“, fragt Andrea mich und ich schüttele unwissend den Kopf. Ausgerechnet mich hier in Osnabrück nach dem Weg zu fragen ist wirklich unklug.

„Moment!“, raunt Ellen ins Telefon und wendet sich an Andrea. „Geht hier den Weg lang, dann kommt ihr direkt an der Hauptstraße beim Haseplatz raus. Dort haltet ihr euch rechts, bis zur Ampel. Dort geht ihr geradeaus drüber und folgt der Straße auf der anderen Seite, bis ihr links den Bahnhof seht. Ganz einfach.“

Gut das Ellen sich hier bestens auskennt.

Die wendet sich wieder ihrem Gespräch zu und wirkt beunruhigt. Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu und schüttelt verständnislos den Kopf.

Wir winken Sabine und Andrea noch mal zu, die eilig aufbrechen und ich lege mich ins Gras, die Sonne genießend. Während Ellen telefoniert, gebe ich mich der Müdigkeit hin, die mich überfällt. Ich bin nach den letzten zwei Nächten und dem Ganzen, was passiert ist, müde und wie erschlagen, und das Gespräch mit Erik hat mich nicht gerade aufgebaut. Was will der eigentlich? Bloß weil ich mit seiner Schwester befreundet bin, muss ich mich nicht auch noch mit ihm auseinandersetzen. Oder soll das ein normaler Zustand werden? Ellen ist schließlich auch irgendwie mit seinem Daniel liiert. Glaubt er, weil er die beiden ständig tyrannisiert, kann er das auch mit mir machen?

Ich höre Ellen ziemlich fassungslos immer nur „Ja“ und „Nein“ ins Handy murmeln und dämmere vor mich hin. Dabei schweifen meine Gedanken zu Marcel ab. Die Vorfreude auf unseren gemeinsamen Abend und die Nacht in seinen Armen jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Völlig durchgeknallt, sage ich dir“, höre ich Ellen neben mir raunen. „Weißt du, was gerade passiert ist?“ Sie wartet erst gar nicht auf eine Erwiderung von mir. „Mein Bruder hat sich bei mir entschuldigt. Das hat er in seinem ganzen Leben noch nie gemacht. Das ist bestimmt erneut so ein Psychoscheiß mit Hintergedanken. Sonst kann ich mir das nicht denken“, murrt sie aufgebracht.

Ich tue so, als wäre ich eingeschlafen. Erik hat sich also bei ihr entschuldigt. Das ist auch das mindeste, was er tun konnte.

Ich lasse meine Gedanken wieder zu Marcel wandern, was ein weitaus erfreulicheres Thema ist und sinke weiter in eine angenehme Traumwelt.

Die Sonne brennt in mein Gesicht, als Ellen mich am Arm wachrüttelt.

„Carolin, wir sollten hier schnellstmöglich verschwinden.“

Ich finde kaum aus dem Tiefschlaf heraus, der mich immer noch mit aller Macht festhalten will. Es ist so schön warm und ich höre Vögel zwitschern, Kinder spielen, Autos röhren. Das ist das Großstadtleben, das sich in unsere kleine grüne Oase nur als Geräuschkulisse traut.

„Hey, wach auf!“ Ellen klingt beunruhigt. Was ist denn plötzlich los?

Als ich mich langsam aufsetze, um sie anschauen zu können, ohne dass das gleißende Sonnenlicht mir die Augen versengt, starrt sie immer noch nachdenklich auf ihr Handy.

„Was ist passiert?“, frage ich verwirrt und etwas untröstlich, dass sie mich geweckt hat. Ich hatte von Marcel geträumt …

„Ich weiß nicht genau. Daniel hat mir eine SMS geschrieben, dass wir von hier verschwinden sollen.“

„Hä? Woher weiß er denn, wo wir sind?“, frage ich.

Ellen hält mir ihr Handy unter die Nase und ich lese: „Verschwindet von da, wo ihr gerade seid.“

„Hm, verstehe ich nicht. Und die ist wirklich von Daniel und an dich gerichtet? Da steht nicht viel“, bemerke ich etwas genervt. Die haben schon einen komischen Umgang miteinander.

Ellen steht auf. „Das hat er schnell geschrieben, damit das keiner mitbekommt. Es ist eine Warnung. Aber ich weiß nicht, weshalb.“ Ellen klingt besorgt. „Wir sollten aber besser machen, was er sagt.“

Ich sehe das etwas anders. Aber da ich als Mauerblümchen keine Ahnung von der lauernden Großstadtwildnis habe, stehe ich auch auf. Vielleicht ist Ellen aus irgendeinem Grund in Gefahr und ich will nicht diejenige sein, weswegen sie wieder Stress hat.

Wir greifen nach unseren Sachen und gehen den Weg weiter, der uns in die Innenstadt führt.

„Ich rufe ihn später an, wenn ich das Gefühl habe, ihn ohne Probleme fragen zu können, was los ist.“ Sie wirkt unsicher und sieht sich ein paar Mal um.

Auch ich ertappe mich dabei, mir die Leute, die uns entgegenkommen, genauer anzuschauen.

Mann, das ist schon alles aufregend!

Erst als wir in das Getümmel der Fußgängerzone eintauchen, wird Ellen ruhiger.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist schon nach sechs. Ich muss tatsächlich einige Zeit geschlafen haben.

„Was machen wir jetzt?“, fragt Ellen, nun besser gelaunt und wieder beruhigter.

„Ich weiß nicht. Hast du meinen Schlüssel zufällig in der Tasche? Sonst müssten wir den holen.“ Bei dem Gedanken wird mir mulmig. Ich will auf gar keinen Fall Erik begegnen.

„Nö, wo ist der denn?“ Ellen schaut mich verwirrt an.

„Eigentlich in meiner Jacke, die ich am Samstag bei dir gelassen habe. Du hast mir mein Handy in die Hand gedrückt und meine Geldtasche hatte ich in meiner Hosentasche. Aber der Schlüssel …?“

 

„Brauchst du den denn heute noch? Sonst bringe ich ihn dir morgen mit zur Schule.“ Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ihr die Option, den Schlüssel morgen mitzubringen, mehr zusagt. So überlege ich kurz.

„Nö, ich brauche den nicht. Ich bleibe heute Nacht bei Marcel. Aber morgen muss ich den dann schon haben.“ Mir fällt mit Schrecken ein, dass ich meiner Mutter noch Bescheid geben muss, dass ich heute Nacht bei Marcel schlafe. Ich habe das lange genug aufgeschoben.

Ellen scheint erleichtert. „Kein Problem. Ich schaue heute Abend noch danach und bringe ihn dir morgen mit.“

Wir kommen an einen Brunnen, an dem wir uns hinsetzen, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Ich nehme mein Handy und rufe meine Mutter an.

Sie ist überhaupt nicht begeistert, dass ich bei Marcel bleiben will. Sie macht mich sogar richtig wütend, als sie mich energisch nach Hause beordern will.

„Ich denke, ich komme morgen wieder nach Hause, wenn ihr mir keinen Stress macht. Ansonsten überlege ich mir das noch. Tschüss!“, zische ich aufgebracht.

Wenn meine Eltern glauben, dass ich mir mein neues Leben mit Marcel verbieten lasse, haben sie sich geschnitten. Ich kann auch ganz wegbleiben, wenn sie es darauf anlegen, mir mein Leben zu versauen.

Ich lege auf und sehe Ellen an. „Das passt denen gar nicht, dass ich heute bei Marcel schlafe. Aber sie müssen damit leben“, erkläre ich ihr meinen wütenden Ausbruch, als ein Schatten auf uns fällt.

Zwei Jugendliche treten an uns heran. „Habt ihr was?“, raunt uns einer der beiden zu.

„Verpiss dich“, brummt Ellen und sie verschwinden schnell.

Ich sehe ihnen hinterher und dann Ellen an. „Was war das denn? Was sollen wir haben?“

Ellen sieht mich kopfschüttelnd an. „Wo kommst du nur her? Von einem anderen Planeten? Sie wollten Stoff.“

Ich brauche einige Zeit, bis ich begreife. „Ach so.“

„Hör mal!“, raunt Ellen neben mir leise. „Wenn dich jemand anspricht, ob du was haben willst, dann sagst du immer Nein. Und auch, wenn jemand dich fragt, ob du etwas hast. Und lass dich niemals mit denen auf ein Gespräch ein. Es können auch verdeckte Ermittler sein. Dass du mit mir zusammen bist, kann für dich zum Nachteil werden. Erik und ich sind schon bekannt. Dass ich damals mit Alex zusammen war, hat mich ziemlich tief reingerissen. Und Erik sowieso. Den haben sie schon ein paar Mal hochgenommen. Er war auch schon in Untersuchungshaft und sechs Monate in Jugendhaft. Das allerdings, weil er jemanden übel zugerichtet hat. Und jetzt ist er auf Bewährung.“

Ich starre sie völlig sprachlos an und denke nur: Gut, dass Marcel das nicht weiß.

„Okay, immer nein sagen“, flüstere ich leise. „Wird gemacht.“

Mann, ist das aufregend!

Ellen drückt ihre Zigarette aus und steht auf. „Komm, ich habe Hunger. Wie wär’s mit einem Burger bei McDonald?“

Ich nicke, noch immer etwas Platt von ihrer kurzen Schulung im Benehmensfragen bei Dealern und Junkies und der Ausführung von Eriks Vorstrafenregister. Wenn ich auch noch Probleme mit der Polizei bekomme, wird Marcel mich für immer einsperren. Mal ganz davon abgesehen, dass meine Eltern ausflippen werden.

„Gerne. Ich habe auch Hunger.“

So schlendern wir ganz gemütlich durch die Fußgängerzone zu McDonald, holen uns einen Burger und eine Cola und setzen uns auf zwei freie Plätze an einem Tisch voller Chinesen, die aufgeregt in ihrer quickenden Sprache durcheinanderreden und dabei ihr Essen fotografieren.

Um diese Zeit ist es Glückssache, wenn man noch einen Platz in dem Laden findet und so tragen wir es mit Fassung.

Um halb zehn bringt Ellen mich zum Bahnhof und wartet mit mir auf meinen Zug, der kurz vor zehn abfährt.

Ich winke ihr zum Abschied aus dem Abteilfenster zu und kann es kaum erwarten, endlich loszufahren. Spätestens in einer halben Stunde werde ich bei Marcel sein. Endlich!

In Bramsche steige ich am Bahnhof aus. Ich versuche mich zu orientieren. Eigentlich muss ich nicht weit. Aber es ist Dunkel und die Straßenbeleuchtung irritiert mich. Ich kann nur hoffen, dass ich den richtigen Weg nehme.

Mein Handy klingelt. Ich sehe auf dem Display, dass es Marcel ist.

„Hi, Schatz! Ich bin unterwegs“, sage ich ohne Umschweife.

„Gut, das wollte ich nur hören. Ich kann dich auch abholen. Wo bist du denn?“

„Keine Ahnung. Aber ich denke, ich bin gleich bei dir. Das müsste die richtige Straße sein.“ Ich bin mir fast sicher, dass ich das Haus schon sehe.

„Soll ich mich an die Straße stellen?“, fragt Marcel.

„Nicht nötig! Ich habe es schon gefunden.“ Eine kleine Gartenpforte öffnend, betrete ich den verwilderten Garten. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich hier etwas Ordnung schaffen. Die Grundlage dazu lerne ich schließlich jetzt in meiner Schule.

Die Tür fliegt auf und Marcel steht im Lichtkegel der Flurlampe, das Handy in der Hand und mich angrinsend.

Ich beende das Gespräch und stopfe mein Handy in meine Schultasche, die über den Nachmittag an Gewicht zugelegt haben muss. Sie fühlt sich tonnenschwer an. Oder kommt das, weil ich so müde bin?

„Hey, Süße! Endlich!“, raunt er mit seiner tiefen, sanften Stimme und zieht mich in den Flur.

Ich lasse die Tasche fallen und mich in Marcels Arme sinken.

Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich, was gleich ein Buschfeuer in mir entfacht und ich lasse meine Hände unter sein T-Shirt gleiten. Meine Müdigkeit scheint sich im Nullkommanix aufzulösen.

Marcel gibt der Tür einen Tritt und sie knallt hinter uns zu. Kurz lassen wir uns los und sehen uns an. In seinen Augen glüht die gleiche Begierde, wie ich sie in meinem Körper spüre. Ich ziehe an seinem T-Shirt und er lässt es sich über seine Arme ziehen, mir meines in der gleichen Weise ausziehend. Wir küssen uns erneut und in einer unausgesprochenen Einigkeit gehen wir, aneinandergedrängt und an unseren Lippen klebend, in sein provisorisches Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin verliere ich meine Schuhe und Marcel seine Hose. Meine folgt vor dem Eisenbett, auf dem die Matratze liegt. Ich registriere kurz, dass wir nicht mehr auf der Erde schlafen. Aber nur ganz kurz. Marcels Hände auf meinem Körper, sein Körper an meinem und seine Zunge mit meiner spielend, lässt mich alles andere vergessen. Ich will ihn jetzt sofort! Und er will mich … auch sofort.

Als wir eng umschlungen in seinem Bett liegen, bin ich glücklich. Ich möchte nirgendswo anders sein und auch mit niemand anderem. Das ist meine Welt.

Irgendwo klingelt ein Handy, und ich sehe Marcel fragend an. Er schüttelt nur den Kopf. „Das muss deins sein.“

Ich springe aus dem Bett und laufe nackt durch die Wohnung zu meiner Tasche, greife mein Handy, das sich wie wild in meiner Hand gebärdet und flitze wieder zum Bett zurück, wo Marcel mir schon die Decke hochhält und mich in seine Arme zieht.

„Ja, Ellen!“ Ich bin etwas beunruhigt, weil Ellen mich so spät noch anruft. Ist etwas passiert?

„Hallo Carolin! Sag mal, warum hast du mir nicht gesagt, dass Erik dich heute Nachmittag angerufen hat?“ Sie klingt wütend.

„Ich wollte dich nicht beunruhigen“, sage ich und sehe Marcel an. Langsam setze ich mich auf und er entlässt mich nur widerwillig aus seiner Umarmung. „Warum?“

„Ich habe eben mit Daniel gesprochen. Erik wollte zu unserem Platz kommen. Deshalb hat er geschrieben, wir sollen verschwinden.“

Okay! Ich verstehe aber nicht ganz, wieso er uns warnte. Was hatte Erik seiner Meinung nach vor?

Ellen fährt fort: „Daniel sagte, dass Erik dich angerufen hat und du ihn wegen mir zusammengefaltet hast. Du hast zu ihm gesagt, dass er alles gefälligst mit dir selbst klären soll und das wollte er auf der Stelle tun. Wir hatten Glück, dass Daniel gerade bei ihm war und uns schreiben konnte.“

Ich bin sprachlos und beunruhigt. Hatte ich Erik zu sehr in Rage gebracht und er wollte sich an mir für meine große Klappe rächen? Oh Mann. Ein halbes Jahr Jugendknast für das Verprügeln von armen Mitmenschen hat er schon hinter sich. Und dass Erik kein „nettes“ Gespräch führen wollte wird klar, weil Daniel es für nötig hielt, uns zu warnen.

Aber vor Ellen und vor allem Marcel, der das Gespräch von meiner Seite her mitverfolgen kann, spiele ich die Coole.

„Mach dir keine Sorgen. Ich werde schon mit dem fertig.“

Ellen schreit ins Telefon: „Was? Bist du verrückt? Du sollst dem ganz fernbleiben! Ich weiß nie, was der gerade im Schilde führt. Der hat sich bestimmt eine neue teuflische Psychoscheiße überlegt. Ich wusste doch gleich, dass da etwas nicht stimmt, als er sich bei mir entschuldigt hat.“

Mir kommt etwas anderes in den Sinn. Es ist mehr ein seltsames Gefühl, dass sich in mir hocharbeitet. „Vielleicht meinte er das aber auch ernst und hat gar nicht vor irgendwelchen Stress zu machen. Mach dir mal keine Sorgen. Und um mich schon mal gar nicht. Ich habe schon andere Sachen überlebt.“

Ich grinse Marcel unsicher an, dessen Gesichtsausdruck sehr ernst wird.

Ellen scheint das Ganze auf sich wirken zu lassen. „Mir ist da nicht wohl bei. Schauen wir mal. Aber dann hatte ich recht, dass er sich deine Nummer aus meinem Handy geholt hat.“

„Ja, hattest du. Ist nicht schlimm!“, versuche ich sie zu beruhigen. „Lass uns morgen in der Schule weiterreden, okay? Ich muss jetzt ein wenig schlafen.“

Ellen murmelt: „Okay, dann bis morgen. Gute Nacht.“

„Bis morgen, Ellen.“ Ich lege auf und sehe in Marcels zusammengekniffenen Augen.

„Das war Ellen“, sage ich unnötigerweise.

„Hast du irgendwelche Probleme?“, fragt er lauernd.

Ich lache. „Blödsinn. Ellen hat Probleme. Ich nicht!“

Um weiteren Diskussionen zu entgehen, schiebe ich mich dicht an ihn heran und küsse ihn. Seine Arme legen sich wie Schraubstöcke um mich und ich schmiege seufzend meinen Kopf an seine Brust. „Ich bin todmüde. Die letzte Nacht ohne dich war nicht gerade der Hit. Heute schlafe ich bestimmt besser.“

„Und länger! Es reicht, wenn wir um halb sieben aufstehen, frühstücken und ich dich dann zur Schule bringe.“

„Hört sich das himmlisch an“, säusele ich noch und lasse meine Augen zufallen.

Marcel gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf schön, mein Engel.“

Zu gerne. Keinen anderen Gedanken mehr zulassend als den, dass Marcel neben mir liegt und mich mit seiner vertrauten Wärme und seinem Geruch einlullt, falle ich schnell in den Schlaf.

Am nächsten Morgen von Marcel geweckt zu werden, lässt meinen Tag sofort gut starten.

„Hm, kann ich das für immer haben?“, frage ich und strecke mich.

Marcel zieht mich in seinen Arm. „Oh ja! Das steht auch ganz oben auf meiner Wunschliste“, raunt er und versenkt sein Gesicht in meinen Haaren. „Aber es nützt nichts. Wir müssen jetzt aufstehen. Ich habe dir schon eine kleine Verlängerung gewährt. Komm, es ist gleich zwanzig vor sieben.“

„Oh Mann, ist das doof. Darf ich nicht ein bisschen schwänzen?“

„Nix da! Das fangen wir erst gar nicht an.“

Schmollend quäle ich mich aus dem Bett, gehe unter die Dusche und setze mich an den fertig gedeckten Frühstückstisch.

„Möchtest du Kaffee oder Tee?“, fragt Marcel.

„Bitte nur ein Glas Wasser.“

Er setzt sich zu mir und wir essen Toast mit Marmelade oder Nutella. Marcel wirkt etwas nervös und ich sehe mehrmals fragend in sein Gesicht. Aber er sagt nichts.

Als ich fertig gefrühstückt habe und aufspringe, um noch einmal auf die Toilette zu gehen, hält er mich auf. „Moment! Bitte, Carolin! Warte!“

Ich sehe ihn verunsichert an.

Er zieht mich direkt vor seinen Stuhl und sieht mir um Verzeihung heischend in die Augen. „Bitte, sei jetzt nicht wütend oder so. Aber es lässt mir keine Ruhe und ich möchte, dass wir Gewissheit haben.“

Ich sehe ihn groß an. Was meint er?

Marcel hält mir etwas hin, was ich nicht gleich erkenne. Aber dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es ist ein Schwangerschaftstest.

„Soll ich den jetzt machen?“, frage ich ungläubig.

Er nickt nur.

Ich nehme ihn und gehe ins Badezimmer.

Manometer. Marcel kann einen schon am frühen Morgen schocken. Bin ich bereit für die Wahrheit?

Auch wenn ich glaube, nicht schwanger zu sein, packt mich nun doch die Unsicherheit.

Etwas zittrig lese ich, wie ich ihn benutzen muss.

Gut … draufpinkeln und abwarten. Das müsste zu schaffen sein.

Mein Herz wummt wie eine kaputte Auspuffanlage. Ich lege den Streifen auf die Kiste, während mein Magen vor Aufregung zu rebellieren beginnt.

 

Schnell bringe ich das Ganze zu Marcel. Soll der doch davorsitzen und warten. Das halten meine Nerven nicht aus.

Der schaut mich nur irritiert an.

„Bitte schau du? Mir ist schon ganz übel. Ich föhne mir in der Zwischenzeit die Haare.“

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzt Marcel vor der Kiste und starrt immer wieder von der Beschreibung auf den Streifen. Als ich zu ihm gehe, steht er auf und nimmt mich in den Arm. „Ich denke, wir können unsere Familienplanung neu beginnen“, sagt er und ich bin mir nicht sicher, ob er sich freut oder enttäuscht ist. „Aber wir lassen ihn noch etwas liegen, okay?“

Ich nicke und atme auf. Mein Leben ist gerettet. „Oh Mann, bin ich froh. Ich hatte schon Panik!“

„Ich auch. Aber hauptsächlich, weil du in letzter Zeit nicht gerade zimperlich mit dir und deinem Körper umgegangen bist“, erwidert er.

Ich löse mich etwas aus seinem Griff und sehe ihn an. „Wir werden irgendwann Kinder haben. Einen ganzen Stall voll“, versichere ich ihm. „Aber nicht jetzt. Jetzt fährst du mich erst mal zur Schule, sonst komme ich zu spät.“ Ich grinse ihn frech an.

Marcel nickt und lässt mich los. Seine grauen Augen leuchten. „Wird gemacht, Frau Blum“, sagt er und grinst.

Ich suche meine Schuhe und sehe ihn nicht an. Das alles erweckt schon wieder schlimme Erinnerungen in mir, die ich lieber verdränge.

Marcel hält mich fest, als ich endlich mit meinen Schuhen an den Füßen an ihm vorbei zur Tür gehen will. Er legt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und sieht mir nachdenklich in die Augen. „Alles klar?“

„Ja, sicher!“, versichere ich ihm. Aber die Erinnerung an unsere Verlobung, wie seine Eltern reagierten und was das dann alles ausgelöst hat, legt sich schwer auf mein Gemüt.

„Gut! Dann komm!“

Wir gehen über den kleinen Weg zur Garage und ich steige vorsichtig in sein Auto ein, um seine Tür zu schonen. Im Auto lächele ich ihn an. Ich will mit aller Macht die Schrecken aus der Vergangenheit verdrängen.

Er setzt aus der Garage in den trüben morgendlichen Frühdunst eines Sommertages und lässt die Garagentür mit einem Druck auf die Fernbedienung sich wieder verschließen. Wir fahren zügig durch die kleine Stadt zur Schnellstraße.

„Dann sehen wir uns heute nicht mehr“, stelle ich betrübt fest. „Heute Abend muss ich mich bei meinen Eltern blicken lassen. Aber wenn du willst, komme ich morgen Abend zu dir.“

Marcel wirft den Kopf herum. „Oh Mann! Morgen erst? Wenn es anders nicht geht!“

„Nein, wird es wohl nicht“, raune ich leise und weiß schon, dass es erneut keine gute Nacht wird.

„Okay, aber wir telefonieren heute Abend, wenn ich zu Hause bin.“

„Auf alle Fälle.“ Ich küsse meinen Zeigefinger und streiche über seine Wange.

Er zwinkert mir zu, als wir über die Schnellstraße die Anhöhe hinabfahren, die uns direkt nach Osnabrück hineinbringt.

Ich sehe auf die Uhr und weiß, dass ich mich beeilen muss.

An der zweiten Ampel biegt Marcel in die Nebenstraße ein und fährt rings um das Schulgebäude herum, zu der kleinen Nebenstraße, an der er mich beim ersten Schultag abgefangen hatte.

Die meisten Schüler sind schon in die Schule gegangen und auch von meinen Mädels sehe ich nichts.

„Ich muss mich beeilen!“, sage ich und laufe zu seiner Tür, während Marcel sein Fenster herunterkurbelt. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn, mir alle Zeit der Welt lassend. Diesen Moment muss ich einfach auskosten. Wir werden uns erst am nächsten Tag wiedersehen können.

„Hey, nun ist aber Schluss“, höre ich jemanden hinter mir wettern. Es ist Susanne, die mir auf den Rücken schlägt und uns angrinst, wobei sich ihre dicken Wangen aufblähen wie bei einem Frosch.

„Tschüs Schatz! Bis heute Abend am Telefon.“

„Ja, leider“, raunt Marcel. „Aber morgen habe ich bestimmt wieder etwas in der Wohnung fertig. Lass dich überraschen.“

„Nestbau, nennt man so etwas“, sage ich lachend, angesichts der Schocktherapie mit dem Schwangerschaftstest.

„Joop.“ Marcel grinst schelmisch.

„Kommst du jetzt endlich?“, brummt Susanne und zieht an meinem Arm. „Die anderen sind schon weg.“

Ich winke Marcel noch einmal zu und folge ihr schnell. Gott sei Dank haben wir in der ersten Stunde nicht unsere Klassenlehrerin.

Als ich mich noch einmal umdrehe, fährt Marcel gerade weg.

Ganz untypisch für mich, möchte ich schon mit dem ersten Bus nach der Schule nach Hause fahren. Aber auch die anderen wollen an diesem Tag nicht bleiben und Ellen wartet mit mir an der Bushaltestelle.

„Soso! Da hat es dich wieder ganz schön erwischt“, sagt sie und grinst schief, als ich ihr von Marcel und mir erzähle.

„Das stimmt! Wir können einfach nicht ohne einander. Dass haben uns die zwei Wochen gezeigt. Marcel hat mir sogar das mit Tim verziehen. Das ist schon der Hammer. Ich denke, wir werden nun wirklich für immer zusammenbleiben.“

Ich hatte Ellen schon in der ersten Pause von meinem Schwangerschaftstest erzählt und sie war entsetzt gewesen.

„Mann, wenn du jetzt auch noch schwanger gewesen wärst, dann hätte Erik auch noch eine Schwangere mit Drogen versorgt. Nicht auszudenken!“

Sie hatte mich einige Zeit nachdenklich angesehen, bevor sie sagte: „Der ist komisch. Er ist nett. Was hast du mit dem gemacht?“

„Nichts!“, hatte ich ihr nur geantwortet.

Nun fragt sie, mich mit ihren braunen Augen musternd: „Und wann seht ihr euch wieder … du und dein Marcel?“

Ich erkläre ihr, dass er in dieser Woche Spätschicht hat und mein Vater ziemlich gegen unsere neu auferstandene Beziehung ist und daher Stress macht. „Deswegen fahre ich heute mal brav nach Hause. Aber morgen bleibe ich wieder bei ihm, … und das Wochenende werde ich auch mit ihm verbringen. Wir haben so viel nachzuholen.“

Ellen nickt. „Dann muss ich das Wochenende ohne dich auskommen?“

Sie klingt etwas traurig und ich lege meinen Arm um ihre Schulter. „Ich fürchte schon. Das wird das erste Mal sein, dass wir völlig ungestört zusammen sein können. Ich freue mich da schon total drauf. Aber für das Wochenende danach ist noch alles offen“, versuche ich sie zu vertrösten.

„Das passt schon. Dann werden Daniel und ich mal wieder einen Kinoabend machen, … wenn Erik ihn lässt.“

Ich sehe sie verwirrt an. „Wieso sollte er nicht?“

„Daniel ist Eriks bester Freund. Die beiden sind immer zusammen oder zumindest immer, wenn Daniel nicht mit mir zusammen ist“, erklärt sie.

„Oh, ich verstehe. Ich finde, ihr passt gut zusammen.“

„Ja, das finde ich auch. Aber Erik wollte das erst nicht. Der hat am Anfang einen ganz schönen Aufstand gemacht. Aber mittlerweile …“ Sie grinst.

„Was macht dein Bruder eigentlich?“, frage ich neugierig.

„Ach der!“, knurrt sie herablassend. „Erst hat er einige Semester Psychologie studiert und ist dann in die Wirtschaftslehre umgestiegen. Das wollte mein Vater so, weil er mal in dessen Fußstapfen treten soll.“

„Will er das denn?“ Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Erik wirkt nicht wie ein Geschäftsmann.

„Nicht wirklich. Aber Papa dreht ihm sonst den Geldhahn zu.“

Ich nicke verstehend.

Als mein Bus kommt, verabschieden wir uns und ich steige ein. Mich in einen freien Sitz werfend, freue ich mich tatsächlich drauf, erneut in mein behütetes Zuhause zu fahren, wo mein Zimmer auf mich wartet und die ruhige Abgeschiedenheit der ländlichen Welt. Ich vermisse manchmal das viele Grün der Felder und Wälder und die besondere Luft. Außerdem möchte ich mich etwas von allem erholen. Ich möchte einen ruhigen Nachmittag verbringen, in Ruhe meine Hausaufgaben machen und am Abend meine Eltern beruhigen, damit sie mich auch weiterhin mein Leben allein meistern lassen.

Am Abend warte ich darauf, dass Marcel mit seiner Arbeit fertig ist und mich endlich anrufen kann. Nach einem längeren Gespräch mit meinen Eltern, in dem Papa erst noch meinte herumtoben zu müssen, brauche ich Marcels Stimme und Zuwendung.

Das Gespräch mit meinen Eltern war anders verlaufen als von mir gewünscht. Letztendlich hatte ich ihnen mitgeteilt, dass sie sich aussuchen können - entweder ich breche die Schule ab und verschwinde ganz nach Osnabrück und lebe da von Luft und Liebe oder ich mache brav die Schule weiter und verbringe meine Zeit mit Marcel, was heißt, ich komme auch ab und an bei ihnen vorbei. Etwas anderes gibt es für mich nicht mehr und meine Eltern hatten entsetzt eingelenkt. Wohl auch, weil sie mittags bei Julian gewesen waren, der erneut völlig fertig und weinend meinte, er hält das nicht länger in dieser Klinik aus.