Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Marcel sieht mich wütend an. „Was soll daran süß sein? Von dem behältst du eine Kette und meinen Ring nicht?“, faucht er.

„Das war etwas anderes. Er hat sie mir gegeben, weil wir immer irgendwie familiär verbunden sein werden, auch wenn wir nicht zusammen sind. Es ist nichts daran gebunden. Dein Ring war als Verlobungsring gedacht, damit deine Eltern und diese Katja wissen, wen sie zerfleischen müssen.“

Mich sprachlos anstarrend, versucht er meine Worte zu begreifen. „So siehst du das?“, flüstert er fassungslos.

„So war das!“, bestätige ich mit großen Augen und heftigem Nicken.

Ich sehe mich um. Irgendwie fühle ich mich seltsam. Ich komme immer schlechter mit den Gefühlschwankungen klar, die mich mal in die eine oder andere Richtung ziehen. Wir müssen aufhören uns über alte Geschichten zu unterhalten. Das kann nicht gut gehen.

„Lass uns damit aufhören. Das ist alles vorbei. Du hast mich verlassen, ich habe Tim verlassen und jetzt müssen wir alle unser eigenes Leben leben“, sage ich, etwas zu laut und aufgedreht.

„Mit Drogen und Junkies?“, faucht Marcel und ist offensichtlich nicht bereit, einfach aufzuhören.

„Du bist auch nicht mehr so wie vor zwei Wochen“, keife ich. „Du bist gar nicht mehr lieb. Du schimpfst nur noch mit mir und bist böse. Hättest du mich doch einfach dagelassen? Du hast keinerlei Verpflichtung mir gegenüber. Wenn ich so enden will wie Ellens Alex, dann ist das mein Problem und nicht deins.“

Ich spüre, wie mir eine kalte Hand ans Herz greift. Jetzt werde ich erschreckend wütend und traurig. Marcel soll mich in Ruhe lassen. „Bring mich doch einfach nach Hause. Ich steige auch unten an der Straße aus und sage niemanden, dass du mich gebracht hast. Oder bring mich zum Bahnhof und ich fahre mit dem nächsten Zug nach Hause“, brumme ich wütend und versuche meine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

„Jou, klar! Ich setze dich beim Bahnhof ab, wo du dich gleich, so breit wie du bist, zu den anderen Junkies legen kannst.“

Marcel ist wirklich blöd.

„Dann lass mich doch in Ruhe! Ich bleibe einfach hier sitzen, bis es wieder hell wird und gehe dann selbst zum Bahnhof.“ Ich lege meine Arme auf den Tisch und meinen Kopf darauf, damit er mein Gesicht nicht sehen kann. Warum streiten wir uns? Ich wünsche mich zu Ellen und Erik zurück. Das kann nicht schlimmer sein.

„Da mag man mich wenigstens“, sage ich zu mir selbst.

„Was?“, brummt Marcel und steht auf.

Mir war nicht bewusst, dass ich überhaupt etwas laut gesagt hatte.

„Wo mag man dich wenigstens?“, fragt er verächtlich, als hätte ich einen Witz gemacht.

„Bei Ellen und Erik. Hättest du mich dagelassen, dann brauchtest du dich jetzt nicht um mich zu kümmern. Verdammt! Ich habe dich nicht darum gebeten. Es kann dir völlig egal sein, wenn ich draufgehe“, schluchze ich den letzten Satz.

Der erschüttert Marcel sichtlich. Er kniet vor mir nieder, damit er mir ins Gesicht sehen kann und ich setze mich auf, um Abstand zwischen uns zu bringen. Tränen kullern mir über die Wange, was mir aber unwirklich vorkommt. Es kitzelt nur.

„Poor, Carolin! Das ist es mir aber nicht. Das wird es mir auch niemals sein“, raunt er leise. „Trotz Tim und all dem Scheiß bist du mir total wichtig und ich komme überhaupt nicht damit klar, dass du da mit irgendwelchen Typen abhängst. Es macht mich rasend! Wie soll ich dich in Ruhe lassen können, wenn ich nicht mal weiß, was die dir da alles antun, ohne dass du das willst? Das ist nicht wie bei uns auf dem Land. In der Stadt ist sich jeder der nächste und nimmt sich, was er will. Wenn es sein muss auch mit Drogen.“

„Ach, so schlimm ist das da nicht“, versuche ich nicht zu weinerlich hervorzubringen. Mir geht es Quer, dass ich mich nicht besser im Griff habe. Jetzt müsste ich Marcel zeigen, dass ich in meiner neuen Welt gut allein klarkomme.

Dass ich keinerlei Einsicht zeige, macht ihn erneut wütend. „Ach, mit dir darüber zu reden bringt nichts. Wir sollten schlafen gehen. Es ist fast drei.“

Ich sehe ihn groß an. Kann es schon so spät sein? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Und wo soll ich hier schlafen? Es gibt nicht mal ein Sofa.

Marcel steht auf. „Ich habe nur die Matratze. Aber sie ist groß genug und es ist schließlich nicht so, als hätten wir noch nie zusammen in einem Bett geschlafen.“

Er sieht mich mürrisch an.

Ich nicke nur. Er hat recht und ich werde ihm auch nicht zu nahekommen.

Als erstes schickt er mich in sein Badezimmer. Den Spiegel nutzend, sehe ich mir meine Augen erneut genauer an. Hm, so schlimm sind die doch gar nicht. Mir fällt Erik ein, der mir in die Augen gesehen hatte, immer wieder, als wolle er etwas checken. Er wusste, dass ich die Kekse mit irgendwelchen Drogen gegessen habe und wollte wissen, ob es anschlägt. So sehr ich auch vor Marcel alles herunterspiele, Erik hatte das gut geplant. Aber er hat seine Schwester unterschätzt. Hoffentlich geht es ihr gut.

Als ich aus dem Badezimmer komme, geht Marcel hinein und ich greife nach meinem Handy. Ich will Ellen anrufen. Auf ihre Nummer drückend, warte ich, während ich wieder in die Küche gehe und mich an den Tisch setze.

„Carolin?“, kommt es fast sofort. „Ist bei dir alles im grünen Bereich?“

„Ja, alles okay. Und bei dir?“

Ellen wirkt erschöpft. „Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Wir haben Tina nicht gefunden. Hoffentlich geht es ihr gut. Jasmin besuche ich heute Nachmittag im Krankenhaus.“

Eine Pause entsteht, bevor Ellen endlich fortfährt: „Wie geht es dir? Es tut mir leid. Ich hätte dich besser mitnehmen sollen, statt bei uns zu lassen. Aber ich wollte nicht, dass du das Milieu kennenlernst, in dem ich gestern Abend nach Jasmin und Tina gesucht habe. Das ist nichts für dich. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass du in Eriks Beuteschema passt und er es dermaßen auf dich abgesehen hat. Wir haben uns so gezofft. Er war so wütend, dass ich dich wegholen ließ. Der ist völlig ausgeflippt. Ich rede nachher noch mal mit ihm. Das kann er alles vergessen.“

Marcel steht vor mir und sieht mich fragend an.

„Mach das lieber nicht. Ich kläre das selbst mit ihm. Ich werde mich bis zur Rente mit keinem Kerl mehr einlassen. Die tun einem nur weh“, raune ich, mir bewusst, dass Marcel das hört. „Marcel ist auch ziemlich sauer. Aber wir gehen jetzt ein bisschen pennen und dann ist er mich ja wieder los. Wir telen später noch mal, okay?“

„Klar! Ich rufe dich an, wenn ich von Jasmin wieder da bin. Bis dann!“

„Tschau Ellen.“

Ich sehe auf. „Das war Ellen. Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht. Ihr Bruder war ziemlich sauer wegen mir.“

Marcel brummt nur etwas, was ich nicht verstehe. Dabei geht er zu seinem Schlafzimmer und betätigt an der Küchentür den Lichtschalter der Küchenbeleuchtung.

Ich sitze im Dunkeln und stehe langsam auf. Marcel ist gar nicht mehr lieb zu mir.

In seinem Schlafzimmer zieht er sich die Hose aus und das T-Shirt. Unter die Decke steigend, legt er sich ganz an den Rand der Matratze.

Ich ziehe mir auch meine Hose aus und krabbele auf die andere Seite. Dabei wage ich aber nicht, die Decke über mich zu ziehen, weil die bestimmt nicht so groß ist, dass sie die ganze Matratze abdeckt.

Ich rolle mich frierend zusammen, wobei meine Gedanken zu Ellen abschweifen. Sie hatte diese Tina nicht gefunden und ich kann mir ausmalen, was sie für eine Angst haben muss, wenn sie damit rechnet, dass die sich mit ihren Drogen umbringt. In was für einem Elend steckt Ellen da nur? Da sind meine Probleme echte Kinderkacke.

Ich höre Marcel sich bewegen, was sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf die andere Matratzenseite richtet. Er will wohl das Licht ausmachen.

Da ich mit dem Rücken zu ihm liege, kann ich ihn nicht sehen, und das ist auch besser so.

Plötzlich spüre ich wie die Decke über mich gelegt wird. Dann geht das Licht aus.

Ich wage mich nicht zu rühren und tue so, als schliefe ich schon. Aber der Abend lässt mich nicht los. Es drängen sich Ellen und Daniel in meine Gedankengänge, die von ihrem Rettungseinsatz für verkappte Drogis zurückkamen … und Ellens Blick, als sie mich sah und wegen ihrem Bruder ausflippte … dann Erik, der mir auf die Toilette folgen wollte, und den sie daran hinderte … und dann der Anruf von Marcel, ohne dass ich wusste, dass er von ihm ist. Daraufhin hatte Ellen mich mit Daniels Hilfe aus dem Haus geschmuggelt.

Ob Ellen und Daniel wohl zusammen sind? Sie hatte mir nichts davon erzählt. Ich werde sie in der Schule danach fragen.

Was war das für ein verrückter Abend und jetzt bin ich bei Marcel, der mich nur schnell wieder loswerden will.

Ich spüre Tränen über meine Wange rollen und versuche keinen Ton von mir zu geben. Wegwischen will ich sie auch nicht, um keine verräterischen Bewegungen zu machen.

Aber auch das werde ich überstehen. Man übersteht vieles. Dann ist Marcel mich endlich los und kann sein Leben leben. Ohne mich! OHNE MICH!

Ich ziehe den Deckenzipfel in mein Gesicht und wische mir verstohlen die Tränen weg. Mit aller Macht versuche ich an etwas anderes zu denken. Mir fällt das Video von dem Schmetterling ein, und das Lied dazu. Ich lasse es durch mein Innerstes wallen. Dabei komme ich etwas von meinen mich zermürbenden Gedanken runter und schlafe endlich erschöpft ein.

Ich sehe Tim zusammen mit Julian und einem Pulk Geistern durch einen Wald laufen. Kurt Gräbler, Maja und ein Mann, den ich für Aaron halte, sind direkt hinter ihnen. Sie schleifen jemanden durch den Wald.

Marcel!

Ich spüre einen Schmerz durch meinen Körper fahren.

Vor einem tiefen Loch bleiben sie stehen und werfen ihn hinein. Tim und Julian nehmen sich zwei Schaufeln und beginnen das Loch zuzuschütten.

 

Ich renne durch den Wald auf sie zu, falle immer wieder hin und schreie nach Marcel. Irgendwie scheint die Entfernung zu ihnen aber nicht geringer zu werden und meine Füße fühlen sie bleischwer an. Es erfasst mich eine unbeschreibliche Panik. Wenn ich sie nicht aufhalten kann, wird Marcel dort sterben. Diese Einsicht erschüttert mich zutiefst, zumal ich nicht weiß, wie ich die alle stoppen soll. Es scheint jetzt schon ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, unmöglich zu verhindern und für Marcel endgültig.

Als ich sie dann doch endlich erreiche, hält Julian mich fest. Ich schreie erneut nach Marcel … und werde hochgerissen.

Im Licht der nackten Birne an der Decke sehe ich in das erschrockene Gesicht von Marcel, der mich an sich drückt. „Ich bin doch da! Es ist alles gut!“, stammelt er.

„Scheiße!“, hauche ich entsetzt.

Ich sehe mich um. Einen Augenblick lang weiß ich nicht, wo ich bin und was los ist. Mein entsetztes Herz rast in meinem Brustkorb und mein Magen rebelliert schmerzhaft. Dann fällt es mir wieder ein. Ich bin bei Marcel. Er ist Okay. Das war nur ein Traum. Ein Traum mit Julian und Kurt Gräbler …

Marcel kniet vor mir und hält mich fest umschlungen.

Ich werfe meine Arme um ihn und flüstere: „Oh Mann! Es geht dir gut. Bin ich froh!“

Marcel raunt fassungslos: „Du hast geschrien.“

Langsam lasse ich ihn los und er mich auch.

„Tut mir leid!“, murmele ich verlegen und sehe ihn nicht an. Mir ist das Ganze unendlich peinlich.

Seine Wärme rückt ganz von mir ab und er legt sich langsam hin, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Dabei zieht er mich vorsichtig mit … in seinen Arm.

Ich bin verwirrt und weiß nicht, ob er das wirklich will. Doch er legt vorsichtig die Decke über mich und hält mich fest umschlungen. Mit rauer Stimme stammelt er aufgebracht: „Und du hast immer wieder meinen Namen gerufen.“

Ich kann nur nicken. Dieser Traum entsetzt mich immer noch zutiefst. Diese Angst, dass jemand Marcel etwas antun könnte, setzt mir schmerzhaft zu. Es ist nicht auszuhalten! Wenn ihm etwas passieren würde, wäre es auch mit mir vorbei.

Ich lege den Arm über seine Brust und schiebe mich so dicht an ihn heran, wie es nur geht. Ihm darf nie etwas passieren. Wie hatte Ellen das mit ihrem Alex nur überstehen können?

Marcel schiebt mich weiter. Ich begreife erst nicht, was er vorhat. Mit dem einen Arm schiebt er mich, mit der anderen Hand zieht er mich auf sich.

Ich stütze mich verwirrt links und rechts neben seinem Kopf ab und sehe ihn an. Seinen warmen Körper unter mir zu spüren, verwirrt mich vollends.

Er streicht mir ganz vorsichtig die Haare aus dem Gesicht, die immer wieder zurückfallen. Leise raunt er und sieht mir dabei aufgebracht in die Augen: „Du hast diese schrecklichen Träume wieder, stimmt’s?“

Gott, er hat recht. Die Erkenntnis schiebt sich wie ein Schneeflug durch meine Eingeweide und mir bleibt einen Augenblick die Luft weg. Bitte nicht! Ich hatte es doch überwunden!

Mit Marcel an meiner Seite hatte ich sie im Griff.

Marcel …!

Ich kann nicht anders. Ich bin bei ihm und unsere Körper berühren sich und schreien nach ihrer Zusammengehörigkeit. Ich muss ihn einfach küssen, vorsichtig und abwartend, ob er das überhaupt erlaubt. In meinem Kopf gibt es nichts anderes mehr. Ich will Marcel jetzt und hier und egal, was vorher war und was noch in unserem Leben kommen wird - und ich werde nie etwas anderes wollen. Ich brauche ihn.

Marcel packt mich an den Oberarmen und wirft mich von sich runter auf die Matratze.

Erschrocken und entsetzt denke ich, dass er mich aber nicht mehr will.

Unsicher scheint er mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Seine grauen Augen funkeln aufgebracht und er schüttelt fassungslos den Kopf. Mit einem Ruck kommt er hoch und kniet im nächsten Moment über mir. Seine Augen glänzen wie Silber und plötzlich packt er meine Handgelenke, die ich erschrocken wie zum Schutz vor meiner Brust verschränkt halte. Einen Moment macht er mir Angst und seine Ablehnung mich fassungslos. Wütend reißt er meine Hände über meinen Kopf und fixiert sie dort, mich wieder unsicher musternd. Und dann fällt ein Schleier über sein Gesicht und er gibt seine bockige und angsteinflößende Haltung auf. „Oh Mann, Carolin!“, stammelt er und küsst mich.

Seine starre Haltung wird zu einer fließenden Bewegung und er lässt meine Handgelenke los. Seine Hände legen sich um mein Gesicht und er schiebt sich neben mich, mein Gesicht mit Küssen bedeckend. Als seine Zunge sich zwischen meine Lippen schiebt, weiß ich, er will mich auch.

Seine zärtliche Art und Leidenschaft hauen mich um.

Langsam zieht er mich aus, mich weiter küssend und ich ziehe ihn aus, ihn weiter küssend. Als seine Lippen über meinen Körper gleiten, ist alles wieder da. Die letzten zwei Wochen sterben im Hagel seiner Küsse. Es gibt nur noch unsere Liebe vor dieser Zeit, … und das Erkennen dieser Liebe. Als er sich auf mich schiebt, bin ich bereit, ihm mein ganzes Leben zu schenken. Es soll keine Partys, keine Drogen und keine anderen Männer mehr geben. Nur noch ihn.

Wir sind ausgehungert wie Wölfe nach einem langen Winter und wollen uns nur noch spüren. Und diese Heftigkeit unserer Gefühle macht uns beide fassungslos. Wie konnten wir nur glauben, je ohne den anderen leben zu können?

Als ich am Vormittag wach werde und in Marcels Armen liege, bin ich verwirrt.

Allmählich fällt mir wieder ein, was passiert war. Er hatte mich von Ellen weggeholt, weil Erik mir Drogen untergejubelt hatte, und zu seiner Wohnung gebracht, die er neuerdings für sich einrichtet. Nach einem schrecklichen Traum, in dem ich um Marcels Leben fürchtete, hatte er mich geweckt und wir waren übereinander hergefallen, als gäbe es kein Morgen mehr.

Jetzt liege ich an ihn gepresst auf der Matratze und seine starken Armen halten mich umschlungen.

Ich sehe in sein schlafendes, schönes Gesicht. Was wird passieren, wenn er aufwacht? Er war so sauer wegen Tim und wegen der Drogen …

Marcel stöhnt leise und regt sich unter der Decke. Seine Arme ziehen sich noch enger um meinen Körper und ich befürchte, ich verstauche mir noch etwas.

„Hey, Marcel!“, flüstere ich leise und hauche ihm einen Kuss auf die Brust, gerade mal dort, wo ich ihn erreichen kann, ohne mich bewegen zu müssen.

Sofort schlägt er die Augen auf und ruckt mit dem Kopf hoch, seinen Griff keinen Millimeter lösend. Er sieht mir ins Gesicht und lässt seinen Kopf in sein Kissen fallen.

„Ich habe das nicht nur geträumt“, stellt er fest und wirkt genauso verwirrt, wie ich es war, als ich aufwachte. Langsam löst er seine Umklammerung und lässt seine Arme kraftlos auf die Matratze sinken.

Ich fühle mich plötzlich allein und habe Angst vor dem, was nun folgen wird.

„Es tut mir leid“, sage ich leise.

„Was tut dir leid?“, fragt er etwas zu barsch.

„Alles! Dass du mich abholen musstest und ich da fast unter die Räder gekommen bin. Und auch alles andere.“

Marcel schiebt sich von mir weg und sieht mich an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Alles andere? Wenn es noch mehr zu beichten gibt, außer der Sache, dass du mit Tim geschlafen hast, du rauchst und dich von irgendwelchen Junkies mit Drogen vollpumpen lässt, dann sag es bitte gleich“, knurrt er.

Ich habe das Gefühl, ein Abgrund tut sich zwischen uns auf. Oh Mann!

Ich schüttele den Kopf. „Nein, das war’s.“ Dabei setze ich mich auf, um freier atmen zu können. Mir ist übel und in meinem Inneren rebelliert alles. Wir sind trotz unserer Liebesschwüre in der vergangenen Nacht noch nichts weiter.

„Es tut mir wirklich alles leid. Ich wusste nicht, dass in den Keksen irgendetwas drinnen war. Woher auch?“, versuche ich mich zu verteidigen.

Mir fällt Erik ein und wie er mich den ganzen Abend nicht mehr aus seinem Zugriffsbereich gelassen hatte. Hätte Ellen nicht Marcel angerufen, wäre ich bei ihm im Bett gelandet. Zumindest hatte er seiner Schwester gegenüber diesbezüglich eine Äußerung gemacht. „Sie schläft eh hier! Sie bleibt heute Nacht bei mir.“

Gott, was war ich dumm. Und völlig unwissend hatte ich bei Marcel noch behauptet, keine Drogen genommen zu haben. Kein Wunder, dass er sauer ist.

Marcels Hand legt sich um meinen Arm und zieht mich auf die Matratze zurück und weiter an seine Schulter. Leise raunt er: „Mensch, Carolin! Was mache ich nur mit dir? Du ziehst Ärger magisch an und wenn keiner auf dich aufpasst, gehst du unter.“ Sein Arm legt sich beschützend um mich.

Ich sehe ihn an und schürze die Lippen. Das will ich so nicht stehen lassen. „Das stimmt nicht! Ich habe nur das mit den Drogen in den Keksen nicht gewusst. Das passiert mir nicht noch mal. Ellen hat mir immer gesagt, dass ich bei allen Getränken und Zigaretten aufpassen muss. Die nimmt nichts, was schon geöffnet ist. Sie passt eigentlich gut auf mich auf. Nur gestern konnte sie halt nicht …“, versuche ich Marcel klarzumachen, dass ich eigentlich in kürzester Zeit schon viel diesbezüglich gelernt habe und dass das alles nur eine Verkettung dummer Umstände war.

Er legt den anderen Arm auch noch um mich und drückt mich an sich. „Verdammt, verdammt! Wo bist du da nur hingeraten? Das kann doch alles nicht wahr sein! Bei uns würde das keiner wagen“, brummt er mit aufkeimender Wut in der Stimme.

„Ach Marcel, das stimmt nicht“, beteuere ich verächtlich.

Ich habe das Gefühl, meine neue Welt und mein neues Leben verteidigen zu müssen.

„Bevor ich mit dir zusammen war, musste ich auch schon einige Übergriffe von Jungen abwehren, die halt statt Drogen Alkohol als Waffe einsetzten. Das gibt es bei uns auch“, versuche ich ihn zu überzeugen, dass meine neue und meine alte Welt gar nicht so verschieden sind. Zumindest nicht diesbezüglich. Allerdings muss ich sagen, dass Erik gestern wirklich alle Register gezogen hatte. Macht der das hobbymäßig und zum Zeitvertreib? Ellen hatte erwähnt, dass Frauen Aufreißen und Abschleppen zu seinem Leben gehört, wie Essen und Trinken.

„Das passiert einem halt, sobald die checken, dass du solo bist und sie keine gebrochene Nase befürchten müssen.“ Ich grinse Marcel vorsichtig an. Mit dieser kleinen Stichelei möchte ich dem Ganzen ein wenig den Ernst nehmen.

Marcel lässt mich los, schiebt mich zur Seite und setzt sich auf. Seine Augen sprühen Funken. „Was? Das ist dir schon mal passiert? Ich meine, außer auf der Scheunenfete, als ich unserem Lehrling hinterher einen auf die Nase gab?“

„Leider ja.“ Ich setze mich auch auf. Dass Marcel jetzt so darauf anspringt, hatte ich nicht erwartet. Er ist schon wieder wütend und langsam befürchte ich, dass er sich in etwas hineinsteigert, das unsere Stimmung der letzten Nacht völlig zunichtemacht.

Marcels Augen sprühen vor Wut. „Gut, dann ist das jetzt vorbei. Du sagst allen, dass du nicht solo bist und dass sie sich hüten sollen, dich anzupacken“, faucht er aufgebracht.

Mein Herz macht einen kleinen Luftsprung. Aber ich will mir sicher sein, was er damit meint.

„Marcel, das geht nicht“, flüstere ich und sehe auf meine Hände, die auf der Decke liegen.

„Warum nicht?“, knurrt er und um seinen Mund liegt ein verbissener Ausdruck, den ich bei ihm so noch nie gesehen habe.

„Weil … ich … solo … bin“, murmele ich leise und betone jedes Wort.

Marcel erstarrt. Er fährt sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Haar. Dann trifft mich sein Blick und er raunt: „Ich möchte das wir wieder zusammen sind. Ich brauche dich und ich liebe dich immer noch. Oder war das heute Nacht nichts wert?“ Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen herausfordernd an.

„Doch! Aber ich war mir nicht sicher, ob dir das so viel bedeutet hat wie mir. Du warst so wütend auf mich. Wegen Tim und wegen den Drogen gestern“, sage ich leise und verunsichert, und weiß, ich will ihn auch zurück. Koste es, was es wolle.

Bei der Erwähnung von Tims Namen schließt Marcel kurz die Augen und verzieht das Gesicht. „Oh, ich war mehr als wütend. Als du mir letzten Sonntag das von dir und ihm erzählt hast, war ich so geschockt. Ich bin einfach ins Auto gestiegen und nur noch gefahren, stundenlang. Irgendwann bin ich wieder in Bersenbrück gelandet und musste tanken. Dort habe ich mein Handy angeschaltet und von dir die SMS gelesen. Dass du Tim bemitleidet hast, hat mich fast ins Grab gebracht und ich habe ihn angerufen. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen und ich war mir sicher, dass ich ihn umbringe. Aber dann habe ich ihn gesehen und konnte ihm nichts mehr tun und wir haben über die Sache geredet und er konnte mir seine Sicht schildern und seine Hoffnung, die erst wieder Gestalt annahm, als er dich von der Scheunenfete weggebracht hatte - und dass du dich letztendlich sogar gegen ihn entschieden hast, obwohl dass wegen eurer Alchemistengeschichte unmöglich sein müsste.

 

Ich bin am nächsten Tag zu meinem Großonkel gefahren und habe mit ihm noch einmal über den Fluch gesprochen und vieles verstanden, was Tim mir erzählte. Aber dass du mit ihm geschlafen hast, darauf komme ich immer noch nicht klar“, resümiert er aufgebracht.

„Ich auch nicht“, raune ich, selbst von diesem Umstand betroffen. „Tim hatte, nachdem er mich zu sich brachte, schreckliche Tage und Nächte hinter sich, in denen er keine Sekunde zur Ruhe kam, von dieser triebhaften Liebe zu mir gesteuert. Ich hatte ihm so viel zu verdanken. Ohne ihn wäre ich völlig zusammengebrochen und hätte das, was du und Katja mit mir gemacht habt, nicht überstanden. Und so habe ich nachgegeben, um ihn einfach nur zur Ruhe kommen zu lassen.“ Ich hoffe ihm mit der Erwähnung, wie schlecht es mir wegen ihm und Katja ging, mein Verhalten etwas begreiflich zu machen. Aber ich erwähne nicht, wie oft Tim und ich versuchten, ihn dadurch zu beruhigen.

Ich sehe Marcel ins Gesicht, als ich hinzufüge: „Aber es ging mit uns nicht und so musste er mich nach Hause bringen. Ich konnte das mit ihm nicht und er konnte es nicht ohne mich“, füge ich hinzu und mir wird klar, wie schlimm das Ganze eigentlich für Tim gewesen sein muss, als auch ihm das bewusst wurde.

„Diese für uns angeblich vorgesehene Liebe ist nur noch von seiner Seite vorhanden. Unsere Liebe hat diesen Fluch so in seinen Standfesten erschüttert und war so viel stärker gewesen, dass bei mir alle Gefühle für Tim wie weggeblasen sind. Das spürten wir beide in seinem ganzen Ausmaß, als wir … miteinander schliefen.“ Ich schlucke bei der eigenen Erwähnung dieser Tatsache und sehe an Marcels Blick, dass ihn der Gedanke daran fast ins Grab bringt, egal, wie sehr ich das Ganze als für mich unwichtig hinstelle. „Ich wusste, es wird für mich immer nur dich geben und sonst niemanden“, ende ich und hoffe, meine Worte tun ihre Wirkung.

Unsere Blicke treffen sich. Das Gesicht von Marcel ist angespannt und seine Augen nachdenklich zusammengekniffen. Dann nickt er langsam.

„Tim hat das auch so ähnlich gesagt. Er war völlig fertig, dass du für ihn verloren bist und er sagte mir ins Gesicht, wenn jemand dafür Prügel einstecken sollte, dann eher ich, weil ich deine Liebe zu ihm so nachhaltig zerstörte. Ich wollte ihm das nicht glauben. Aber jetzt …“

Meine Gefühle weiter vor ihm ausbreitend, flüstere ich, meine Hand auf seinen Arm legend: „Und heute Nacht war alles wieder da. Meine Liebe zu dir und die Fähigkeit dazu. Es geht nur bei dir und mit dir. Mit niemandem sonst!“

Erleichtert registriere ich, dass ich sogar wieder fähig bin, eine romantisch säuselnde Seite herauszukehren, die ich schon für immer verloren glaubte. „Und ich weiß, dass ich erneut mit dir zusammen sein möchte. Ich brauche dich wie die Luft zum Leben. Ich liebe dich einfach zu sehr!“ Langsam schiebe ich die Decke an die Seite, damit ich mich vor ihn knien kann und streiche ihm das Haar zurück. „Lass es uns noch einmal versuchen und ich verspreche dir, keine Drogen mehr zu nehmen und mehr auf mich achtzugeben.“

Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn zärtlich. Er soll meine Liebe zu sich spüren und wenn noch ein winziger Rest von Unsicherheit irgendwo in ihm lauert, will ich diese zerstreuen. Mir wird klar, ich werde alles tun, was nötig ist, um ihn wiederzubekommen.

Langsam zieht Marcel die Decke von sich weg und ohne sich von mir zu lösen schiebt er sich vor mir auf die Knie.

Ich sehe ihn nur an, während er seine Arme um mich legt und mich an sich zieht.

Wir drängen uns aneinander. Seine Hände laufen über meinen Rücken und setzen jeden Millimeter meiner Haut in Brand. Ich lasse meine Hände über seine schmale Hüfte und seinen Rücken gleiten und genieße die Berührung seiner Muskeln unter meinen Fingerspitzen. Als ich meine Lippen über seine Wange und seinen Hals gleiten lasse, haucht er: „Können wir denn anders? Wir sind füreinander bestimmt!“

„Ja, sind wir“, flüstere ich ergeben und lasse mich von Marcels auf die Matratze legen. Sein Blick ist pures Verlangen und er lässt sich neben mich sinken. Langsam schiebt er sich dicht an mich heran und streicht meine Haare zurück. Seine grauen Augen funkeln mich mit einer Leidenschaft an, die mich das Atmen vergessen lässt. „Für immer und ewig“, raunt er leise.

„Für immer und ewig“, antworte ich ihm mit zittriger Stimme und kann es nicht fassen. Wir haben uns wieder!

Marcel fährt mich am Sonntagabend nach Hause. Meine Eltern sind irritiert, dass er mich bringt und auch mit in mein Zimmer geht.

„Oweh! Hast du deinen Vater gesehen? Ich dachte, der frisst mich“, raunt Marcel mir beunruhigt zu.

Ich lache auf. „Ach Quatsch! Das meinst du nur.“

Er nimmt mich in den Arm und zieht mich an sich. So stehen wir einfach nur da. Wir reden nicht. Geredet haben wir genug. Den ganzen Vormittag lang. Marcel hatte mich letztendlich inständig gebeten, besser auf mich aufzupassen und mich von der Drogenscene fernzuhalten. Er will auch, dass ich mich von Ellen fernhalte. Aber das geht nicht. Sie braucht mich. Und ich sie.

Wir machten Pläne, seine Wohnung betreffend. Ich allerdings nur in beratender Funktion.

Für uns beide steht fest, dass wir zusammengehören. Aber jeder soll sein eigenes Leben erst mal in den Griff bekommen. Das wird schon Energie genug erfordern.

Ich muss kämpfen, um die Schule auch nur annähernd gut zu schaffen, und ich bitte mir aus, dass ich mich auch mal mit Ellen treffen darf. Die neue Welt Osnabrücks gefällt mir zu gut, als dass ich sie jemals wieder missen möchte. Sie hat mir ein großes Stück Unabhängigkeit geschaffen und mich wachsen lassen und ich möchte auf keinen Fall erneut in mein altes Mauerblümchenleben zurückfallen.

Marcel ist damit nicht einverstanden, hofft aber darauf, dass ich mich noch besinne und ich musste ihm versprechen, dass ich nicht mehr verbreite, dass ich solo bin.

„Du gehörst jetzt wieder zu mir und wenn du mit Ellen oder deinen anderen neuen Freundinnen in Osnabrück bist, möchte ich, dass du das jedem sagst, der dir sonst krumm kommt. Verstanden?“, hatte er mir eindringlich eingetrichtert und ich versprach ihm das mit einem warmen Gefühl im Herzen.

Aber ansonsten haben wir beschlossen, dass wir uns zwar sehen werden, wann immer einer von uns beiden das will, aber andererseits erst schauen wollen, wie wir uns in unserer eigenen Welt schlagen. Ich, in meiner neuen Schule und in der Welt der Großstadt und Marcel als abgenabelter Wohnungsbesitzer. Außerdem möchte er erneut seinen Fußballsport ausbauen, den er in den letzten Wochen ziemlich vernachlässigt hatte.

Mit dieser Regelung wollen wir beide einen Neuanfang wagen und hoffen darauf, dass die Zeit die alten Wunden heilt. Mir steckt noch der Schmerz in den Knochen, den Katja und Marcel in mir ausgelöst hatten, die schlimme Zeit, die ich unter dem Verlust unserer Liebe gelitten hatte und dem erneuten Schmerz, als er mich wegen Tim verließ.

Marcel kommt noch immer nicht darüber hinweg, dass ich mit Tim geschlafen habe.

Wir wissen beide, dass wird noch länger an uns zehren.

Außerdem haben wir beschlossen, Tim nichts davon zu sagen, dass wir wieder zusammengefunden haben. Er ist schon in der letzten Woche nach Wolfsburg zurückgekehrt, um sich auf seine Tournee vorzubereiten und wir werden ihn somit lange nicht sehen. Aber uns ist klar, dass wir unsere neu gewonnene Beziehung auch vor vielen aus unserem alten Bekanntenkreis geheim halten müssen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, dass Tim dennoch etwas über uns erfährt. Erst wenn wir beschließen werden, es erneut öffentlich zu machen, wird es sich nicht mehr vermeiden lassen. Ich habe die Befürchtung, dass ihn das dann auch wieder in mein Leben platzen lässt und das ist ein Gedanke, den Marcel nicht ertragen kann.