Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Der Langhaarige nimmt erneut ein Blech Kekse aus dem Ofen.

Plötzlich steht Erik wieder hinter mir. „Suchst du mich?“, fragt er ironisch.

„Nein Ellen. Ich dachte, sie ist auch wieder da. Ich habe Daniel gesehen“, antworte ich leise und verunsichert.

„Die kommt gleich nach. Sie hat Schwierigkeiten mit einer Freundin, der es nicht so gut geht. Sie muss aber auch gleich da sein“, erklärt Erik und scheint mich beruhigen zu wollen. Er sieht auf die Uhr und schenkt mir tatsächlich ein beruhigendes Lächeln. „Tanzen?“, fragt er und legt den Kopf etwas schief, um mir ins Gesicht sehen zu können.

Ich schüttele den Kopf und lächele zaghaft zurück. Auf seine Art ist Erik eigentlich doch irgendwie nett.

„Nein!“, erwidere ich aber trotzdem, um meinen Unwillen dennoch zu verdeutlichen. Mir ist irgendwie nicht gut. Vielleicht hätte ich die Kekse nicht so in mich hineinstopfen sollen. Offenbar vertragen sie sich auch nicht mit der Cola. Mein eh schon labiler Magen dankt mir das nicht gerade. „Ich gehe lieber wieder in Ellens Zimmer und warte da auf sie.“

Ich lasse Erik stehen und gehe die Treppe hoch. Als ich gerade auf Ellens Seite der Etage abbiegen will, wird nach meiner Hand gegriffen und ich zurückgehalten.

„Ach, Blödsinn! Da bist du doch ganz allein. Hier ist die Party!“, sagt Erik mit seiner dunklen Stimme und zieht mich gnadenlos zu seinem Wohnzimmer.

Ich bin etwas wie ferngesteuert und kann ihn nur gewähren lassen. Vielleicht kann ich im Sessel ein wenig die Videos ansehen? Die Welt um mich herum beginnt langsamer zu laufen oder ich werde immer langsamer. Mein Kopf scheint weiter in einem Nebel zu versinken, der mich seltsam willenlos macht.

Erik lässt mich los und spricht mit einer jungen Frau, die ihn regelrecht anhimmelt und ihre langen, rotlackierten Fingernägel nach ihm ausstreckt.

Ich steuere auf den Sessel zu und schaue auf den großen Bildschirm, an dem gerade ein Lied anläuft, das mich magisch in seinen Bann zieht. Auf dem Bildschirm erscheint in dunklen Farben eine Welt, die auf einen weißen Kokon zusteuert. Ein Schmetterling schlüpft aus ihm hervor, spreizt seine Flügel und startet in ein neues Leben. Doch er findet sich in der Welt nicht zurecht und er lässt sich von einer vorbeifliegenden Schar Faltern mitreißen. Mit ihnen mitfliegend, landet er letztendlich in einem Spinnennetz. Das Lied dazu lässt mich wie gebannt den Bildschirm anstarren. Es versetzt etwas in mir in seltsame Schwingungen.

Erik taucht neben mir auf. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken, bin aber im Moment gar nicht in der Lage, mich daran zu stören. „Wer ist das?“, frage ich nur.

„Blueneck Lilitu“, raunt Erik neben mir völlig fasziniert.

Mag er das Lied und das Video auch?

Als ich ihm einen schnellen, fragenden Blick zuwerfe, sieht er mich an, statt die Mattscheibe.

Als das Lied zu Ende ist, folgt ein deutsches Lied von Style Aroma und Besk mit dem Text „Ich bin nicht glücklich“. Und wieder mit viel Klavier.

Ich komme aus meinem Gefühlschaos, dass das erste Lied in mir verursacht hat, kaum wieder heraus und sehe mich um, ob ich mich irgendwo hinsetzen kann.

Der Sessel ist mit einem knutschenden Pärchen belegt und das Sofa mit drei Typen, die sich das scheinbar ansehen.

„Komm!“ Erik packt mich und reißt mich aus meiner Verwirrung, die mich immer noch wegen dem Lied umfängt, hebt mich wie eine Puppe hoch und setzt mich auf seine Anrichte.

Ich bin völlig irritiert, dass er das tut und auch noch schafft. Es ist ziemlich hoch.

Er stellt sich direkt vor mich und greift nach einer Fernbedienung, die in einer Schale neben mir liegt, dreht sich um und drückt ein paar Knöpfe.

Brutal wird das Lied von Style Aroma abgewürgt und Blueneck Lilitu läuft wieder an und schlägt mich erneut in seinen Bann. Es ist wirklich schön.

Erik lässt die Fernbedienung neben mir in die Schale fallen und sieht zu mir auf.

Ich sehe fasziniert auf den Bildschirm und lasse das Lied durch meinen Körper rauschen. Dabei spüre ich Eriks warmen Brustkorb an meinen Beinen und sehe von dem Bildschirm in sein Gesicht. Er steht so dicht vor mir, dass ich nicht mal herunterspringen könnte, ohne direkt in seinen Armen zu landen.

Seine Hände legen sich um meine Taille und fixieren mich an meinem Platz. „So können wir uns mal vernünftig unterhalten“, erklärt er die Aktion, während ich ihn nur wie ein Hintergrundrauschen wahrnehme.

Das Lied läuft aus, um wieder von vorne zu beginnen. Ich sehe erneut die dunkle Welt, die auf den weißen Kokon zusteuert …

„Was ist mit deinem Bruder? Ellen sagte, du hattest Probleme mit ihm?“, höre ich Erik fragen und sehe ihn wieder an. Will er jetzt wirklich mit mir über Julian reden?

Ich schüttele langsam den Kopf. „Ach, ist doch egal“, murmele ich und sehe erneut auf den Bildschirm. Was ist das bloß für ein Lied? Das ist Marcel und Tim zusammen. So schön und fasst nicht auszuhalten!

Meine Gefühlswelt wird durcheinandergeschüttelt, wie ein Schiff bei starkem Seegang. Dabei will kein Gedanke mehr vernünftig zu einem anderen passen.

„Nun sag schon. Was war mit ihm?“ Erik legt seinen Zeigefinger auf meine Wange und drückt meinen Kopf zur Seite, damit ich ihn wieder ansehen muss. „Ist der dir an die Wäsche gegangen?“

Ich sehe ihn beunruhigt an. Ist es das, was er bei Ellen verbockt hat?

„Nein!“, brumme ich und wünsche mir, dass er mich endlich loslässt. Mein Blick gleitet erneut zu dem Video, als wäre ich damit verbunden.

„Was war es denn dann? Komm, sag es mir. Ich bin wirklich neugierig“, raunt Erik mit strengem Blick und in einem barschen, ungeduldigen Ton.

Er nervt und meine Stimmung sinkt, wie in dem Video der Schmetterling im Sog der vielen anderen Falter. Mir wird flau im Magen und eine Sehnsucht packt mich. Ich will zu Marcel! Warum kommt Ellen nicht endlich wieder?

Ich sehe über Erik und die seltsamen Gestalten hinweg, die den Raum bevölkern, als das Lied endlich endet und ich hoffe, es beginnt nicht wieder von vorne.

Es fängt tatsächlich ein anderes Lied an und ein neues Video. Ich atme auf.

„Ich lasse dich nicht eher runter, bis du mir gesagt hast, was ich wissen will. Hat der dich belästigt?“ Erik grinst unverschämt und er wird mir wirklich langsam unsympathisch.

Plötzlich schießt es mir durch den Kopf. Marcel, der mich aus dem Labor holt und völlig panisch nach einem Krankenwagen schreit. Oh Mann! Ich fühle mich von dieser plötzlichen Erinnerung wie überfahren.

„Komm, spucks aus, sonst lasse ich dich hier nicht weg“, zischt Erik ungeduldig. Sein Blick wird hart und unnachgiebig und ich spüre die kalte Angst durch meine Adern kriechen. Aber ich weiß nicht, ob es an Erik liegt oder weil er meine Vergangenheit heraufbeschwört.

„Julian wollte mich umbringen“, raune ich und das Entsetzen packt mich stärker.

Erik scheint jetzt verwirrt zu sein. „Was? Hast du Halos?“

„Wieso? Ne! Er hat mir in den Hals geschnitten.“ Ich schiebe meine Haare an die Seite, beuge mich zu ihm runter und zeige ihm die Narbe. Damit soll doch wohl alles geklärt sein und er lässt mich endlich in Ruhe.

„Krass! Das ist natürlich hart“, raunt er überrascht, packt mich um die Hüfte und hebt mich von der Anrichte runter. Er stellt mich direkt vor seine Füße und seine Lippen legen sich plötzlich auf meine.

Ich drehe den Kopf zur Seite und schiebe ihn energisch von mir weg, ein: „Lass das“, zischend.

„Warum?“ Seine Stimme klingt plötzlich ungewöhnlich weich.

In dem Moment kommt Ellen ins Zimmer, schubst alle weg, die ihr im Weg stehen und reißt mich von ihrem Bruder weg.

„Ellen! Alles klar?“, fragt Erik mit einem bedrohlichen Unterton und zieht mich erneut zu sich heran.

„Erik, hör auf!“, brummt sie mit wütendem Blick. Sie sieht mich an und wird noch wütender. „Carolin, wie geht es dir?“, fragt sie und ich finde die Frage verwirrend.

„Weiß nicht so recht.“

„Ich rieche die Scheiße doch bis nach draußen“, faucht Ellen aufgebracht. „Hat Erik dir irgendetwas gegeben?“

Ich schüttele den Kopf. „Nur eine Cola. Er hat sie vor mir aufgemacht.“

Ich denke das ist wichtig.

Ellen sieht mir in die Augen und Erik lacht laut auf, bevor er klarmacht: „Sie hat die Kekse allein gegessen. Ich bin unschuldig und jetzt bleibt sie bei mir. Sie schläft doch eh heute hier. Und du musst dich bestimmt noch um Tina kümmern. Ich kümmere mich so lange um Carolin.“ Den letzten Satz drückt er süffisant über die Lippen.

Ellen scheint hin und her gerissen zu sein. „Verdammt!“, brummt sie und schießt aus dem Raum.

Ich will hinterherlaufen, aber Erik hält mich fest und ich fühle mich seltsam benommen und unfähig, mich loszureißen. Außerdem ist mir zum Heulen. Warum lässt Ellen mich hier stehen? Wie Marcel. Und Tim. Alle sind weg.

Ich sehe mich vor einer Linie stehen. Da wo ich stehe, sind alle weg … springe ich über die Linie, sind alle wieder da. Aber ich kann nicht hinüberspringen.

Erik zieht mich in seine Arme und tanzt mit mir, langsam und bedächtig.

Ich fühle mich nicht in der Lage, mich zu wehren. Die traurigen Gedanken an Marcel und Tim halten mich gefangen und machen mich irgendwie willenlos.

Ellen kommt wieder in den Raum gerauscht und sieht sich nach Daniel um. Der geht zu ihr, als sie ihn zu sich winkt.

Ich sehe sie an und hoffe, sie wird jetzt hierbleiben. Ich fühle mich in den Armen ihres Bruders nicht wohl. Zumal erneut das Lied von Blueneck anläuft und mir mittlerweile eine Gänsehaut über den Körper treibt. Ich kann den Bildschirm von hier aus nicht sehen … aber das Lied dringt aus allen Boxen in meine Eingeweide.

 

Ellen redet auf Daniel ein und er schüttelt den Kopf, was sie wütend macht. Sie sieht auf die Uhr und dann zu mir. Was ist nur los?

Mir ist seltsam zumute. Ich will nach Hause.

Erik zieht mich noch fester in seine Arme und ich versuche ihn etwas auf Abstand zu halten. Aber ich fühle mich benommen und wie der Schmetterling in dem Lied. Alles um mich herum wirkt wie in Zeitlupe. Selbst Erik, der mein Kinn umfasst, um mir in die Augen sehen zu können. Was sucht er in meinen Augen? Er irritiert mich.

„Hey, Süße! Wie fühlst du dich?“, fragt er und dieses „Süße“ geht mir voll quer.

„Ich muss mal“, antworte ich aufgebracht und schiebe ihn, meine ganze Kraft aufbietend, energisch weg.

Erik lässt mich widerwillig los und ich gehe durch den Raum rüber zu Ellens Reich. Ich will nicht bei Erik auf die Toilette gehen, wo immer die auch sein mag.

„Erik!“, höre ich hinter mir Ellen wütend rufen.

Ich drehe mich verunsichert um. Er ist direkt hinter mir und Ellen eilt an ihm vorbei und zieht mich in ihr Badezimmer. Krachend fällt die Tür ins Schloss und sie schließt sogar zu.

Ich gehe auf die Toilette, während sie mich verlegen mustert. Leise, und als hätte sie ein schlechtes Gewissen, höre ich sie sagen: „Es tut mir leid. Ausgerechnet heute ist das mit Jasmin passiert. Sie ist eine alte Freundin und sie hat Probleme mit Drogen. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht. Ich habe, seit das mit Alex war, immer Angst, dass es noch jemanden trifft.“ Sie klingt dabei völlig fertig. „Deshalb habe ich etwas getan, was du mir wahrscheinlich nie verzeihen wirst. Aber es geht nicht anders. Ich muss gleich noch mal los. Jasmin war bei Tina gewesen. Die habe ich noch nicht finden können. Ich wollte dich holen und mitnehmen, aber ich wusste nicht, dass Erik hier heute seine eigene Session geplant hat und du da voll reingeraten bist“, brummt sie wütend.

„Nicht schlimm. Hoffentlich findet ihr diese Tina. Ich komme schon klar“, versuche ich sie zu beruhigen, und verstehe nicht ganz, warum ich jetzt nicht mehr mit ihr mitfahren kann.

Ellen schüttelt besorgt den Kopf. „Nein, du kommst bald nicht mehr klar. Und die Geier kreisen schon.“

„Was?“ Ich verstehe nicht, von was sie spricht und mein Kopf wirkt immer umnebelter.

Ein Handy klingelt und sie atmet auf. „Endlich!“ Dann nimmt sie ab. „Okay, bleib vor der Tür und klingele bloß nicht. Schau, dass dich keiner sieht. Wir kommen zur Tür und du verschwindest mit ihr, so schnell es geht. Ich kann dir jetzt nichts erklären.“

Sie klingt wie gehetzt und scheinbar ist jemand am anderen Ende der Leitung, dem sie auch nichts erklären muss.

„Danke!“, sagt sie noch und legt auf.

„So, komm! Hier ist dein Handy.“ Sie gibt mir das Handy, mit dem sie gerade telefonierte, und ich frage mich, woher sie es hat. Sie muss es aus meiner Jacke aus ihrem Zimmer geholt haben. Aber warum? Sie hat doch ihr eigenes.

„Wo gehen wir denn hin?“, frage ich völlig verunsichert.

„Carolin, was jetzt auch passiert, du tust was ich dir sage. Versprichst du mir das?“, trichtert sie mir ein. „Und morgen darfst du mir dann den Kopf abreißen.“

Langsam werde ich nervös und ängstlich. Was ist nur los?

Sie macht die Badezimmertür auf und schiebt mich aus dem Raum.

Erik lehnt an der Wand neben seiner Wohnungstür und wartet auf uns. Hat er denn niemanden, um den er sich sonst noch kümmern muss?

Abermals höre ich das Lied im Hintergrund. Oder meine ich nur, dass ich es höre?

Daniel sieht uns kommen und schiebt sich vor Erik, ihm eine Zigarette anbietend.

Schnell zieht mich Ellen an den beiden vorbei die Treppe hinunter, was mir fast die Füße verheddert. Die Haustür aufreißend, schiebt sie mich in die kühle Nacht und direkt jemandem in die Arme.

„Ellen?“, rufe ich erschrocken und will wieder zurück zu ihr. Aber sie schmeißt die Tür hinter mir zu und schließt ab.

Ich stehe vor dem weißen Holz und kann es nicht fassen, dass sie mich einfach ausgesperrt hat.

In dem Moment bricht im Haus ein Tumult los und ich höre Erik Ellen anschreien. Er will die Tür aufreißen, die aber verschlossen ist.

„Carolin, komm! Ich nehme dich mit“, höre ich jemanden neben mir sagen und etwas durchzuckt mich wie ein Dolchstoß. Irritiert sehe ich mich um.

„Marcel, was machst du hier?“

Träume ich? Das Lied wird in meinem Kopf lauter.

Marcel zieht mich zur Straße, reißt die Autotür auf und schiebt mich in seinen Golf. Er beeilt sich, auf seiner Seite einzusteigen und fährt mit quietschenden Reifen los. Er sieht noch in den Rückspiegel und dann mich an.

Mein Blick muss dem eines Kindes gleichen, das zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum sieht.

„Diese Ellen hat mich angerufen. Sie wollte, dass ich dich da weghole. Sie meinte, sie könne nicht auf dich aufpassen und ihr Bruder hätte nichts Gutes mit dir vor. Und sie klang wirklich besorgt. Ich bin sofort losgefahren. Gut, dass ich in der Nähe war.“

Ich verstehe nichts. Nur das Marcel da ist und von Ellen gerufen mich nun abgeholt hat. Mir schießen Tränen in die Augen. Marcel ist wieder einmal gekommen, um mich zu retten. Wie immer.

„Danke, dass du mich nach Hause bringst.“

Marcel sieht mich kurz an. „Ich bringe dich nicht nach Hause. Was meinst du, was deine Eltern mit mir machen, wenn ich dich mitten in der Nacht bei ihnen abliefere, völlig stoned“, brummt er wütend.

Völlig was?

Ich sehe verwirrt aus dem Fenster und verstehe nicht, von was er da redet. Aber das wird auch nebensächlich, angesichts des Spektakels hinter der Scheibe.

Seltsamerweise scheinen die Lichter der Stadt heute alles übermächtig zu beherrschen und das nimmt mich gefangen. Dass man da überhaupt durchfahren kann? Ich sehe fast nichts außer Licht.

Ich schaue unsicher zu Marcel. Kann er das schaffen, das Auto dadurch zu lenken? Es sieht so aus, als wenn er das ohne Probleme meistert.

Ich schließe die Augen. Das viele Licht macht mich ganz konfus.

Sofort drängt sich mir der Gedanke an diese Linie auf, an der ich stehe. In meinem Inneren baut sich ein gutes Gefühl auf und verdrängt alles andere. Lachend springe ich über den weißen Strich in den Bereich „wieder da“. Ich sitze bei Marcel im Auto.

Ich muss lachen. Es geht mir gut.

„Was hast du dir eingeworfen?“, höre ich Marcel bissig fragen.

„Was eingeworfen?“, frage ich irritiert und versuche ernst zu bleiben.

„Mensch Carolin, stell dich doch nicht blöd“, faucht er ungehalten. „Vor zwei Wochen warst du noch völlig normal und jetzt steigst du bei irgendwelchen Junkies ab und nimmst Drogen.“

So ein Quatsch. Marcel sieht das Ganze völlig falsch. Ich habe nur angefangen zu rauchen. Mehr nicht. Das muss ich ihm unbedingt sagen. Aber mein Kopf und mein Mund sind nicht ganz kompatibel. Es scheint mir ewig zu dauern, bis ich antworte: „Ich habe nur angefangen zu rauchen und das tust du auch.“

Ich will wütend klingen, aber das geht irgendwie nicht. Ich stehe an der Linie auf der Seite von ‚nicht wütend‘ und komme nicht auf die andere Seite.

Marcel schüttelt den Kopf und wir verlassen über die letzte Ampel die Lichter der Stadt und fahren in die Dunkelheit hinein.

Die Dunkelheit ist auch irgendwie cool. Damit ist das viele Licht weg. Es liegt hinter uns und frisst die Stadt. Wir sind dem entkommen.

Ich bin erleichtert und raune seufzend: „Geschafft!“

Auch im Auto ist es dunkel und ich kann Marcel nicht mehr richtig sehen. Aber er ist da.

Ich vergewissere mich aber lieber noch mal und sehe zu der Silhouette, die den Wagen lenkt.

„Was ist geschafft?“, fragt er.

„Ah, das Licht ist weg“, erkläre ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dabei spüre ich, dass ich ruhiger werde. Das muss die Dunkelheit machen.

Schweigend lassen wir Wallenhorst links liegen und fahren über die zweispurige Straße weiter, bis wir über einen Hügel kommen, hinter dem sich die Stadt Bramsche mit ihren gleißenden Lichtern präsentiert.

Wir fahren von der Schnellstraße ab und ich bin irritiert. „Wo fahren wir hin?“

„Zu mir“, raunt Marcel nur.

Ich sehe verunsichert auf die Stadt, auf die wir unaufhörlich zurollen. Das ist Bramsche! Was sollen wir da?

Marcel erklärt: „Ich wollte dir das eigentlich am Sonntag erzählen. Aber dann war das mit dem MP3 Player und Tim.“

Er schluckt schwer und ich sehe ihn an.

MP3 Player und Tim. Ganz böse Sache.

Aber sie tangieren mich irgendwie nicht. Doch ich weiß zumindest, dass sie böse sind. Das ist mir klar. Doch ich fühle mich mittlerweile wie in einem Kokon, der mich vor unliebsamen Erinnerungen mit ihren negativen Gefühlsausbrüchen schützt. Wie der Schmetterling in Eriks Lied, der besser in seinem Kokon geblieben wäre.

„Ich habe eine Wohnung in Bramsche, die ich mir gerade einrichte“, höre ich Marcel sagen.

„Echt?“, frage ich und irgendwie ist mir plötzlich wieder zum Lachen.

„Ja, echt“, brummt Marcel genervt.

Was hat er nur? Ich beschließe, besser nichts mehr zu sagen. Ich habe das erschreckende Gefühl, sonst wirklich Lachen zu müssen. Und diese Gefühlsregung ist offensichtlich etwas, was Marcel noch wütender macht als er sowieso schon ist.

Nun tauchen erneut riesige Mengen Lichter vor uns auf, die sich wie greifende Arme nach uns ausstrecken und alles umschließen. Aber die Farben sind viel greller und es gibt Orangetöne und Gelbtöne …

„Wow!“, hauche ich ergriffen und sehe mir das Spektakel an, in das wir direkt hineinfahren.

Scheinbar problemlos bringt uns Marcels Golf durch dieses gewaltige Lichtspektrum, bis der Wagen plötzlich in eine tiefschwarze Dunkelheit eintaucht. Was ist auf einmal passiert?

„Wir sind da. Warte, ich mache Licht. Du bleibst sitzen, bis ich dich hole. Sonst ramponierst du mir noch meine Autotür“, knurrt Marcel.

Mann, ist der empfindlich. Warum sollte ich das tun?

Brav bleibe ich an meinem Platz und warte.

Grelles Licht schlägt über mir und dem Auto zusammen. Licht ist eigentlich echt cool!

Marcel macht mir die Tür auf. „Sei bitte vorsichtig. Hier ist nicht viel Platz“, ermahnt er mich und ich steige aus.

Wir sind in einer Garage. Was hatte er gesagt? Er hat eine Wohnung. Erst jetzt begreife ich, was er damit meint.

„Wohnst du hier?“

Marcel nickt. „Das ist das Haus meines Großonkels. Ich habe ihm erzählt, dass ich von zu Hause ausziehen will und eine Wohnung suche und er bot mir die Untergeschosswohnung hier an. Der Untermieter ist vor zwei Monaten ausgezogen und das Haus steht komplett leer. Ich bin also auch der Hausaufpasser.“

Durch eine Seitentür schiebt Marcel mich aus dem Gebäude in einen Garten und von dort zu einer Haustür, durch die wir in eine kleine, ziemlich leere Wohnung treten.

„Ich habe noch nicht viele Möbel, aber das kommt noch. Aber ich habe alles fertig gestrichen und geschrubbt. Der Untermieter muss ein ziemliches Schwein gewesen sein“, erklärt er.

Es riecht sogar noch nach Farbe und im Flur stehen verschiedene Eimer mit Farbresten und einer mit Wasser, in dem Pinsel und eine Farbrolle schwimmen.

Marcel schaltet überall Licht an und schiebt mich in die Küche. Das ist der einzige vollständig eingerichtete Raum.

„Darf ich mal deine Toilette benutzen?“, frage ich kleinlaut. Der neue Marcel schüchtert mich ein. Ist es wirklich erst zwei Wochen her, seit ich mich wegen dieser Katjageschichte von ihm trennte und eine, seit er mich dann wegen Tim abschoss?

Er nickt nur und sieht mich unter seiner Kappe seltsam an. Ich kann mir nicht denken, dass es ihn freut, mich hier zu haben. Er sieht zumindest nicht so aus.

Da er keinerlei Anstalt macht, mir den Weg zu zeigen, gehe ich selbst auf die Suche.

Es gibt ein komplett leeres Wohnzimmer und einen Raum, in dem Berge von Wäsche an der Wand lehnen. Eine große Matratze liegt auf der Erde, in der Marcel wohl schon geschlafen hat. Es gibt Kissen und eine zerwühlte Decke.

Das Badezimmer finde ich am Ende des Flures. Es ist klein, aber schön. Eine Dusche mit einer Glaswand und einer Toilette nehmen fast die gesamte hintere Wand ein. An der Seite ist das Waschbecken und zu meiner Überraschung steht daneben sogar eine Waschmaschine. An der anderen Wand steht ein Regal, in der auf einem Regalboden Handtücher und verschiedene Utensilien liegen. Die restlichen Böden sind noch unbenutzt.

 

Mein Blick gleitet zu dem Spiegel über dem Waschbecken und ich bin einen Moment verwirrt. Bin ich das? Und was ist mit meinen Augen? Das grünblau ist fast vollständig verschwunden.

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und gehe zur Toilette. Während ich auf dem kalten WC Sitz hocke, sehe ich mich weiter um. Marcel hat alles hier. Zahnbürste, Kamm, Rasierer. Er bewohnt diese Wohnung scheinbar wirklich schon.

Er hat nicht gelogen.

Als ich wenig später wieder in die Küche komme, sehe ich Marcel mit in den Händen vergrabenem Gesicht am Tisch sitzen. Ich bleibe im Türrahmen stehen und sehe ihn nur an.

Er sieht so gut aus und die ganze Wohnung ist so schön. Außerdem wirkt er so erwachsen und selbstständig … und ich?

Mir ist plötzlich zum Heulen.

Was mache ich bloß? Marcel ist bestimmt ganz unglücklich, weil er mich abholen musste. Was tue ich ihm nur wieder an?

Marcel schaut plötzlich auf und sieht mich im Türrahmen stehen.

Ich schlucke bei seinem Anblick, aber der Kloß in meinem Hals will nicht weichen.

„Was mache ich jetzt mit dir?“, fragt er und sieht mich kopfschüttelnd an.

Ich stehe nur da. Unschlüssig, was nun passieren soll.

„Willst du einen Kaffee oder so? Ich weiß auch nicht, was ich dir am besten gebe und was nicht. Ich habe keine Anleitung für die neue Carolin bekommen“, meint er barsch.

Was redet er für einen Quatsch.

„Ich will nichts. Hättest mich schließlich nicht abholen brauchen“, antworte ich, aber meine Stimme versagt mir fast.

„Ja klar! Und dann? Was meinst du, warum diese Ellen es für nötig hielt, jemanden dich da wegholen zu lassen? Und schau dich doch an? Du bist doch völlig fertig! Nicht auszudenken, was die Typen da mit dir angestellt hätten.“

Was für ein Aufriss. „Da wäre mir nichts passiert. Außerdem kann ich gut auf mich selbst aufpassen. Ich habe nicht mal etwas getrunken. Erik hat mir nur Cola gegeben. Extra, hat er gesagt.“

„Erik? Ah, ist das dieser Bruder von dieser Ellen? Glaub mir, du hast das nur nicht geschnallt. Tim hat da echt recht. So ein Mauerblümchen wie du geht da sang- und klanglos unter. Du hast nicht mal geschnallt, dass die dir Drogen gegeben haben“, knurrt er aufgebracht.

Ich muss mich hinsetzen. Marcel ist wirklich böse zu mir.

Langsam schleiche ich zu einem seiner Küchenstühle und setze mich. „Das stimmt doch gar nicht! Die Cola hat Erik vor mir aufgemacht. Das habe ich voll gecheckt. Und seine Zigarette kam auch aus der Schachtel.“

Ich beginne meine Taschen nach meinen Zigaretten abzusuchen. Aber die sind wohl bei Ellen geblieben … mit meiner Jacke. Ich habe noch nicht mal meinen Hausschlüssel mitbekommen.

„Hast du eine Zigarette für mich?“

Marcel sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Da kann man nur hoffen, dass du wirklich nicht schwanger bist“, raunt er leise und schüttelt den Kopf.

„Bin ich nicht!“, beteuere ich.

Er greift nach seiner Schachtel und gibt mir eine Zigarette, steckt sich auch eine in den Mund und gibt uns Feuer. Er beobachtet, wie ich rauche und schüttelt erneut den Kopf. „Das man in so kurzer Zeit so unter die Räder kommen kann“, brummt er leise und mehr zu sich selbst.

Aber ich habe es gehört.

„Bin ich doch gar nicht!“, sage ich und setze mich gerade hin, ihn hochmütig ansehend.

Was meint er eigentlich? Mir ging es nie besser!

Jetzt wird Marcel richtig böse. „So, nicht? Vor zwei Wochen hast du zwar mal auf einer Party Alkohol getrunken, aber das war’s. Jetzt rauchst du, säufst und nimmst Drogen. Keine zwei Wochen später. Und treibst dich mit seltsamen Typen in irgendwelchen dunklen Absteigen herum. Du schnallst nicht mal, wenn dir einer irgendeinen Scheiß gibt, damit er dich in die Kiste kriegt.“

„Hat doch keiner“, sage ich betroffen.

Marcel steht langsam auf und setzt sich direkt vor mir auf einen Stuhl. Seine Nähe lässt mein Herz seine Taktzahl erhöhen. Er sieht mich herausfordernd an und zischt leise: „Dann erzähle ich dir mal, wie ich das alles sehe.“ Sein Blick verfinstert sich. „Irgendwer hat dir heute auf irgendeine Weise Drogen verabreicht. Wahrscheinlich dieser Erik.“

Ich sehe ihn groß an. Marcel ist wirklich böse. Gar nicht nett. Überhaupt nicht.

„Überleg doch mal! Was ist passiert? Was hast du zu dir genommen oder geraucht?“

Ich überlege. „Nichts! Ich habe nur ein paar Kekse gegessen. Die hat man mir gegeben. Aber nicht Erik!“

Ich sehe Erik vor mir. „Braves Mädchen“, hatte er gesagt, als ich den dritten nahm. War da etwas in den Keksen?

„Oh Mann! Ich weiß nicht viel darüber. Aber wahrscheinlich waren das irgendwelche Drogenplätzchen. Und schau dir deine Pupillen an. Aber dass die das machen ohne dich zu fragen, ob du das überhaupt willst, zeigt doch, dass die nichts Gutes im Schilde führten“, knurrt er aufgebracht.

Marcel sieht alles viel zu schwarz. Es ist doch nichts passiert. Ich hatte alles unter Kontrolle.

„Hm, keine Ahnung. Wie sehen denn meine Pupillen aus?“, frage ich neugierig.

„So groß, dass fast nichts Grünes zu sehen ist. Und das bei dem Licht hier!“

Ach, alles Nonsens. Mir geht es schließlich gut. Ich spüre nichts. Vielleicht ist das Licht etwas ausfallend geworden und die Farben etwas unwirklich. Aber sonst? Ich rege mich nicht mal darüber auf, dass ich bei Marcel bin. Also ist doch alles gut!

„Vielleicht solltest du einfach schlafen gehen und den Rausch ausschlafen“, murmelt er nachdenklich und wirkt verunsichert. „Dann kann wenigstens nichts passieren.“

„Was soll denn passieren?“, frage ich verwirrt. Marcel ist wirklich komisch drauf.

„Keine Ahnung, was da für Wirkungen noch auftreten?“, brummt er.

Okay! Marcel ist mit mir überfordert. Das wird mir jetzt klar. Dabei ist doch nichts! Ich bin wie immer! Oder hat er Angst, dass ich ihm etwas antue?

„Hast du Angst, ich überfalle dich?“, frage ich und unterdrücke einen Lachanfall, der sich hocharbeitet. „Oder dass ich dich vergewaltige? Uuuh!“ Ich fuchtele ihm vor der Nase herum.

Mich ernst musternd, brummt er: „Damit könnte ich noch leben. Aber du verstehst mich nicht. Ich habe Angst um dich. Wenn ich sehe, was aus dir in so kurzer Zeit geworden ist, dann möchte ich nicht wissen, was in den nächsten Wochen noch alles mit dir passiert. Du bist völlig aus der Bahn!“

Das ist nicht fair. Ausgerechnet er muss mir das Vorhalten?

„Da kann ich doch nichts dafür! Ich habe mir das nicht ausgesucht. Du hast das gemacht!“, werfe ich ihm mit der aufsteigenden Traurigkeit kämpfend vor, die meinen vorherigen Lachanfall in die Flucht schlägt. „Du mit deiner Katja.“

Auf den Boden sehend, nickt er. „Das tut mir alles echt leid. Aber es musste wohl so laufen, damit ich endlich mal erfuhr, dass du die ganze Zeit Tim im Anschlag hattest. Wann hättest du mir von euch erzählt? Wohl nie! Und ich laufe wie ein Trottel einfach mit.“ Er sieht auf und der Schmerz in seinen Augen trifft mich, trotz des dicken Panzers, der mich eigentlich in meinem tiefsten Inneren ruhig hält. Nur die Schwankungen von traurig und lachend machen mir etwas zu schaffen.

„Es war nichts mehr zwischen uns. Das war vor dir. Zumindest von meiner Seite. Und Tim hatte das eigentlich akzeptiert. Aber nur solange wir beide zusammen waren. Ich habe zwei Optionen, hat er gesagt. Die erste bist du und die zweite er. Aber ich kann mit ihm nicht zusammen sein. Du hast den angeblich allmächtigen alchemistischen Fluch zerstört. Tim weiß das auch“, knurre ich aufgebracht.

Marcel hat alles zerstört. Auch meine Fähigkeit zu lieben.

Der sieht mich an. „Ja, so etwas hat Tim auch gesagt. Ich wollte ihm eigentlich eine reinhauen. Aber er tat mir nur noch leid. Du hast ihn ziemlich getroffen. Er war sich sicher, dass er es bei dir sein wird, wenn er mich erst mal ausgestochen hat. Dass das nicht so kam, hat ihn ziemlich fertiggemacht. Er geht erst mal auf irgend so eine Tour.“

„Er spielt Klavier. Total schön. Und er spielt jetzt in einem Musical mit. Im Orchester. Voll cool“, sage ich ergriffen, erneut von einer Stimmung in die andere fallend. Ich greife in meinen Ausschnitt und hole die Kette hervor. „Süß, nicht!“