Die drei Steine der Macht

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Die Furt

Max rann der Schweiß den Rücken herunter, während sie Stunde um Stunde im Eiltempo der großen Nord-Süd-Straße folgten. Auch Hund hatte den Ernst der Lage begriffen, unterließ seine üblichen kleinen Ausflüge in die angrenzende Flora und hielt sich dicht bei ihnen. Max hoffte, dass ihr Vorsprung reichte, um in Deckung zu gehen, sobald sie den Fluss überquert hatten. Die Söldner waren ihnen immer noch auf den Fersen und schienen, trotz durchwanderter Nacht, ihr Tempo nicht zu verringern. Max, Anemone und Mimbelwimbel hatten die größte Mühe, den Abstand zu halten, und so machten sie kaum Pausen, nur um etwas zum Essen aus dem Rucksack zu holen.

Schließlich hielt Mimbelwimbel inne und deutete auf die Bäume, die vor ihnen lagen.

„Da vorne ist sie. Der Fluss fließt durch diesen Wald.“

Anemone schaute besorgt auf die Bäume.

„Ist es nicht wahrscheinlich, dass dort auch Söldner lauern?“

Mimbelwimbel zuckte ratlos mit den Schultern.

„Wir müssen es riskieren. Das ist die einzige Stelle in der Umgebung, wo man über den Fluss kommt.“

Anemone schickte Hund voraus, damit er sie warnen konnte, aber ihre Sorgen waren unbegründet. Nachdem sie der Straße einige hundert Meter in den schattigen Wald hinein gefolgt waren, sahen sie auch warum. Max hatte nicht wirklich eine Ahnung, wie eine Furt aussehen sollte, aber was er jetzt sah, entsprach überhaupt nicht seiner Vorstellung.

Er hatte einen vielleicht breiten, aber definitiv seichten Flussabschnitt mit geringer Strömung erwartet. Doch nun blickte er auf einen mindestens hundert Meter breiten Streifen aus trübem Wasser. Bäume ragten halb aus den Fluten. Felsen, die möglicherweise neben der Straße gelegen hatten, ebenso. Geradeaus sah er durch die Schneise in den Bäumen, die wohl die große Nord-Süd-Straße war, wie die Abstände der Bäume in einiger Entfernung größer wurden und der Wald wieder in Felder überging. Die Strömung war stark. Man konnte deutlich die Wirbel an den Bäumen und Felsen erkennen. Auf dem Wasser war Schaum, der sich durch die ständigen Verwirbelungen bildete. Mimbelwimbel und Anemone starrten ebenso fassungslos wie Max auf die Fluten.

„Das ist die Furt?“, fragte Anemone.

„Natürlich nicht!“, fauchte Mimbelwimbel.

Seine Grobheit konnte seine Ratlosigkeit nicht verbergen.

„Sie beginnt eigentlich da vorne bei den Felsen. Das Wasser ist an den tiefsten Stellen knietief. Der Boden ist eben und fest und die Strömung gering. Selbst schwere Wagen haben kein Problem hinüberzukommen. Ein paar Felsen ragen aus dem Wasser heraus, so dass man mit ein wenig Geschick über den Fluss kommt, ohne nasse Füße zu kriegen.“

Mimbelwimbel glotzte weiter auf das Wasser.

„Und nun?“ Anemone sprach aus, was Max dachte.

Mimbelwimbel, wütend darüber, dass die Natur es wagte, seine Reisepläne durcheinanderzubringen, zuckte mit den Schultern und sagte griesgrämig:

„Die Reise endet wohl hier. Ab nach Hause, würde ich sagen.“

In Anemones Gesicht schlich sich ein verzweifelter Ausdruck.

„Ich kann jetzt nicht nach Hause. Nicht mehr ...“

Sie verstummte. Mimbelwimbel warf ihr einen bedauernden Blick zu.

„Ich mache meine Reisen immer extra, bevor die Schneeschmelze und die Herbststürme einsetzen, damit ich die Überschwemmungen umgehe.“

Mimbelwimbel zuckte mit den Schultern. Unter normalen Umständen wäre es kein Problem gewesen, eine Zeit lang zu warten, bis das Wasser weit genug zurückwich, aber sie hatten die Zeit nicht.

„Es ist heiß und trocken. Wie kann ein Fluss hier überhaupt Hochwasser haben?“, fragte Anemone mit schriller Stimme.

„Der Fluss ist lang. Wenn es hier trocken ist, heißt es noch lange nicht, dass es weiter flussaufwärts nicht viel geregnet hat. Und das Wasser fließt nun mal flussabwärts. Ich habe so etwas schon einmal erlebt.“

Anemone warf Max nur einen bösen Blick zu, der besagte, dass sie auf schlaue Erklärungen momentan verzichten konnte.

„Wir müssen es trotzdem versuchen. So tief sieht es nicht aus.“

Entschlossen machte sie einen Schritt auf das Wasser zu, wurde aber sofort von Max festgehalten.

„Nicht hier, die Strömung ist zu stark und würde uns gnadenlos gegen die Bäume und Felsen schleudern.“

Mimbelwimbel nickte bekräftigend.

„Aber ...“ Anemone standen Tränen in den Augen.

„Ungefähr einen Kilometer östlich von hier ist der Wald für ein Stück unterbrochen gewesen. Wenn, dann versuchen wir es da“, sagte Mimbelwimbel, worauf Anemone sich entspannte.

Max nickte.

„Querfeldein?“, fragte er.

„Querfeldein“, stimmte Mimbelwimbel zu.

Sie wandten sich nach rechts und verschwanden im Gebüsch. Max hoffte, dass die Söldner genauso ratlos vor dem Wasser stehen würden wie sie selbst. Allerdings war seine Hoffnung nicht sehr groß. Eile war geboten, und deshalb liefen sie schnell durch den Wald am Wasser entlang. Allmählich lichteten sich die Bäume, und sie erreichten die Stelle, die frei von Bewuchs war. Das Wasser ging direkt in das Feld und auf der anderen Seite in eine Wiese über. Die Stelle maß in der Länge gerade mal etwas mehr als der Fluss breit war. Max warf einen Zweig ins Wasser, und dieser wurde schnell abgetrieben. Sie würden am Ende dieser Lücke ins Wasser gehen und kräftig schwimmen müssen, um nicht doch zwischen die Bäume und Felsen zu geraten. Max sah Mimbelwimbel an.

„Was denkst du?“, fragte er ihn.

Mimbelwimbel wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

„Ist eine ganz schöne Strecke und mit der starken Strömung ... Ich hoffe, ihr könnt gut schwimmen!“

Max nickte zuversichtlich.

„Es wird gehen.“

Die Aussicht, sonst vielleicht ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen, würde ihn antreiben.

Anemone sah blass um die Nase aus.

„Was ist los?“, wollte er wissen.

Sie schluckte.

„Ich kann nicht sehr gut schwimmen“, sagte sie leise.

Mimbelwimbel zog die Augenbrauen hoch.

Max überlegte. Was hatte er neulich im Fernsehen gesehen? Wie man aus Gras ein Boot bauen kann. Sie hatten zwar keine Plastikplane wie in der Sendung, die um das Gras, das den Auftrieb geben sollte, herumgewickelt wurde, aber vielleicht würden ein paar Ringe aus Stroh genügen. Er machte den Vorschlag. Mimbelwimbel zuckte mit den Schultern.

„Probieren wir es, mir fällt auch nichts Besseres ein.“

Sie lauschten. Von den Soldaten war noch nichts zu hören. Es war auch auf der Straße niemand zu sehen. Hoffentlich waren sie nicht schon an der Furt.

Schnell war genügend Getreide für einen Ring aus dem Boden gerissen. Sie ließen die Wurzeln und Ähren an den Halmen, so dass diese geschlossen blieben. Nun kamen auch die Lederriemen zum Einsatz, die Max vom Bauernhof bei Weizendorf mitgenommen hatte. Voller Spannung legten sie den Ring ins Wasser. Er schwamm. Er kam auch wieder problemlos an die Oberfläche, nachdem ihn Mimbelwimbel eine Weile unter Wasser gedrückt hatte. Ermutigt machten sie sich weiter an die Arbeit. Für jeden einen Ring. Max und Mimbelwimbel würden zusammen einen Ring ziehen, auf dem sie das Gepäck festbinden wollten. Mit ein bisschen Glück würde es halbwegs trocken bleiben.

Sie hatten den letzten Ring fast fertig, als Anemone leise rief:

„Achtung, sie kommen!“

Rasch duckten sie sich hinter das Getreide. Eine größere Gruppe war auf dem Hügel vor dem Waldstück erschienen und lief zielstrebig auf die für sie noch nicht sichtbare Furt zu.

„Haben sie uns gesehen?“, fragte Max leise, heftig atmend.

Adrenalin war ihm bei Anemones Ausruf durch die Adern geschossen.

„Sieht nicht so aus“, flüsterte Mimbelwimbel, mit zusammengekniffenen Auge die Gruppe beobachtend.

„Schnell jetzt, vielleicht kommen wir unbemerkt rüber!“

Sie verschnürten Gepäck und Stiefel und stiegen in die Ringe. Hund, der keine Schwimmhilfe brauchte, sprang ins Wasser und begann kräftig vorwärts zu paddeln. Er würde es auf jeden Fall bis zum anderen Ufer schaffen.

Anemone, den Rock weit über die Knie hochgebunden, stand unschlüssig am Wassersaum. Sie steckte einen Zeh ins Wasser und zog ihn wieder zurück. Max und Mimbelwimbel gesellten sich zu ihr, den Gepäckring hinter sich herziehend.

„Kalt!“, sagte Anemone missmutig.

Sie sahen sich an.

„Dann los!“, befahl Mimbelwimbel, und langsam gingen sie ins Wasser.

Die Strömung zerrte schon nach wenigen Schritten stark an ihren Füßen. Sobald der Gepäckring schwamm, ließ sich Max ganz ins Wasser gleiten, bevor die Strömung ihn unkontrolliert von den Füßen riss. Sich am Ring festhaltend, begann er heftig mit den Füßen zu paddeln. Anemone und Mimbelwimbel machten es ihm nach. Max staunte, wie gut Mimbelwimbel mit seinem Bein vorankam. Er musste wohl in einem früheren Leben mal ein Fisch gewesen sein. Max konzentrierte sich auf das Schwimmen.

Sie hatten erst die Mitte des Flusses erreicht, als Max schon spürte, dass seine Kräfte allmählich nachließen. Anemone hielt sich tapfer, dennoch fiel sie langsam zurück. Ihr Gesicht war vor Anstrengung verkrampft, während sie um ihr Leben schwamm, denn schon nach den ersten Schwimmzügen war klar gewesen, dass es kein Zurück gab. Und wer es nicht über den Fluss schaffte, würde ertrinken.

„Weiterpaddeln!“, befahl Max sich selbst.

Seine Waden fingen an zu brennen, und immer wieder schluckte er Wasser. Hund hatte bereits das andere Ufer erreicht und lief unruhig auf und ab. „Hoffentlich bellt er nicht“, dachte sich Max, während er verbissen weiterstrampelte. Die Söldner würden sonst sofort wissen, wo sie steckten.

 

Das andere Ufer war fast erreicht. Noch konnte Max keinen Grund spüren, aber es würde nicht mehr lange dauern. Die Kälte des Wassers raubte ihm seine Kraft, und allmählich wich ihm das Gefühl aus den Gliedern. Seine Füße wurden von etwas Weichem, Glitschigem berührt. Etwas wickelte sich um sein Bein, riss aber mit einem Ruck ab. Pflanzen, so dicht unter der Wasseroberfläche. Hier musste sonst das Ufer sein.

Plötzlich schrie Anemone hinter ihm auf. Erschrocken drehte er sich um und sah, wie Anemone wild um sich schlug und strampelte.

„Was ist los?“, rief Max ihr zu, alle Vorsicht vergessend.

„Etwas hat mein Bein berührt und mich festgehalten.“

Ihre Stimme schien vor lauter Panik fast umzukippen.

„Das waren nur Pflanzen, Gras oder ein Busch!“, schrie Max ihr zu.

Anemone hatte aufgehört zu schwimmen und trieb immer weiter ab.

„Da, schon wieder!“ Anemone strampelte. „Aua, es hat mich gebissen!“

In ihrer Panik ließ sie den Ring los und verschwand unter der Wasseroberfläche. Sie kam strampelnd und prustend ein Stück weiter den Fluss runter an die Oberfläche, ging nach einem Atemzug aber wieder unter. So wie es aussah, konnte sie nicht nur schlecht schwimmen, sondern gar nicht. Ohne zu zögern ließ Max seinen Ring los und schwamm mit aller Kraft, die er noch hatte, auf die Stelle zu, an der sie das letzte Mal nach oben gekommen war. Auch Hund war bereits im Wasser, um Anemone zur Hilfe zu eilen. Anemone schaffte es noch einmal an die Oberfläche, ging aber wieder unter, bevor Max sie erreichen konnte.

An der Stelle angekommen, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte, tauchte Max und ließ sich von der Strömung führen. Das Wasser war trübe. Die Sicht betrug kaum mehr als einen Meter, und das Wasser brannte in seinen Augen. Pflanzenreste und andere Dinge, über die Max lieber nicht nachdenken wollte, trieben um ihn herum und wickelten sich immer wieder um seine Arme und Beine.

Kurz bevor er auftauchen musste, um Luft zu holen, bekam er sie zu fassen und zog sie mit sich an die Oberfläche. Der Fluss musste hier in einer langen Kurve fließen, denn die Strömung hatte sie in Richtung Ufer getrieben. Es war nicht mehr weit.

Nach Luft schnappend schaute Max sich um. Hund war neben ihm. Mimbelwimbel kämpfte ein Stück flussaufwärts mit der Last des Gepäcks, das Max, ohne zu überlegen, ihm allein überlassen hatte.

„Hilf Mimbelwimbel, ich schaffe es allein“, rief er Hund zu, der sofort abdrehte und auf den kleinen Mann zupaddelte.

Max schob Anemone einen Arm unter die Achseln und begann, sie mit sich zu ziehen. Sie bewegte sich nicht und ihr Gesicht war leichenblass. Er konnte auch nicht erkennen, ob sie noch atmete. Seine letzten Kräfte mobilisierend schwamm er auf das rettende Ufer zu. Kurz vor den Bäumen fassten seine Füße Grund, und mit letzter Kraft zog er Anemones leblosen Körper an Land.

Ein hoher Preis

Max brach halb neben Anemone zusammen. Er konnte noch einen Puls fühlen, aber sie atmete nicht mehr. Vorsichtig drehte er sie auf den Bauch, den Kopf zur Seite und drückte ihr das Wasser aus der Lunge. Hustend kam sie wieder zu sich.

Max ließ sich auf den Rücken fallen und rang selbst nach Luft. Sein ganzer Körper brannte von der Anstrengung und der Kälte des Wassers. Mühsam richtete er sich wieder auf. Wo war Mimbelwimbel? Max sah sich um und atmete erleichtert auf. Ein paar Meter weiter zogen Mimbelwimbel und Hund das Gepäck aus dem Wasser.

Max hörte Mimbelwimbel schimpfen, noch bevor er sie erreicht hatte.

„Was für eine bescheuerte Idee. Wie konnten wir nur so blöde leichtsinnig sein ... beinahe jämmerlich ersoffen ...“

Mit vereinten Kräften zogen die beiden das Gepäck zu Max. Mimbelwimbel ließ sich neben ihn plumpsen und streckte alle dreie von sich, heftig nach Luft schnappend. Anemone hatte aufgehört zu husten. Zusammengerollt lag sie da und schluchzte heftig. Max zog sie hoch und nahm sie in die Arme. Mit einem leisen Aufschrei klammerte sie sich an ihn und fing bitterlich zu weinen an. Es zerriss Max beinahe das Herz, sie so außer sich zu sehen. Es schien mehr als das gerade Erlebte zu sein.

Nach einer Weile wurde sie ruhiger, und das Beben ließ nach. Etwas verlegen löste sie sich schließlich von Max. Hund, der schon die ganze Zeit um sie herumgelaufen war, versuchte nun ihr das Gesicht abzulecken. Sie schob ihn weg.

„Weißt du, er ist wirklich bestürzt, dass du fast ertrunken wärst“, sagte Max zu ihr.

Aufschluchzend schlang Anemone ihre Arme um Hund und vergrub ihr Gesicht in seinem nassen Fell.

„Ist ja gut“, winselte Hund.

Schließlich hob Anemone den Kopf und ließ Hund los. Dieser nutzte seine Chance und leckte ihr das Gesicht, was sie zum Lachen brachte. Dies wiederum veranlasste Hund dazu, so heftig mit dem Schwanz zu wedeln, dass er fast umkippte.

Mimbelwimbel hatte sich ebenfalls erholt und setzte sich auf.

„Wir sollten das Gepäck losbinden und uns aus dem Staub machen. Die haben uns bestimmt gehö...“

Er brach ab und blickte entsetzt zum anderen Ufer. Dort war ein Mann aufgetaucht.

„Da sind sie!“

Ein zweiter brach hinter ihm durch das Gebüsch.

„Schnell!“

Mimbelwimbel hatte sein Messer gezogen und kurzerhand die Lederschnüre durchgeschnitten. Er drückte Max seinen Rucksack, seine Tasche und seine Stiefel in die Hand. Doch Max stand wie versteinert da und starrte zum anderen Ufer hinüber. Anemone, immer noch im Gras sitzend, hatte eine Hand erschrocken vor den Mund geschlagen. Voller Entsetzen beobachteten sie, was sich auf der anderen Seite des Flusses abspielte.

Der erste Söldner, der sie gesehen hatte, war ohne zu überlegen in den Fluss gesprungen und kämpfte nun um sein Leben. Ohne Schwimmhilfe konnte er seinen Kopf kaum über Wasser halten. Er hatte bereits umgedreht und versuchte, zurück zu seinem Kameraden zu kommen, aber die Strömung zog ihn erbarmungslos mit sich. Er war zu dicht an den Bäumen und Felsen ins Wasser gesprungen.

Anfangs konnte er den Bäumen noch ausweichen, aber schließlich wurde er gegen einen Ast getrieben, der dicht über der Wasseroberfläche hing. Er ging unter, kam kurz danach wieder hoch, eine blutende Wunde am Kopf. Seine Bewegungen waren nun sehr schwach.

Der Söldner, der direkt hinter ihm aus dem Wald gekommen war, sprang hinterher, um ihm zu helfen.

„Bleib hier, du Idiot!“, brüllte nun einer der Männer, die in dem Moment, als der zweite Söldner ins Wasser lief, aus den Büschen stolperten.

Der Anführer rief immer wieder den Namen des Mannes und dass er zurückkommen solle. Aber zu spät. Sobald der Mann den Boden unter den Füßen verloren hatte, erfasste ihn die Strömung ebenfalls. Selbst nun im Strom gefangen musste er mit ansehen, wie sein Kamerad, den er hatte retten wollen, mit großer Wucht gegen einen Felsen trieb und erneut mit dem Kopf aufschlug. Die sich ohnehin nur noch schwach bewegenden Arme und Beine erschlafften, und er ging unter.

Der Söldner rief ein letztes Mal nach seinem Kameraden, bevor er ebenfalls gegen einen Baum geschleudert und ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Wasser schluckend schrie er um Hilfe. Ein paar seiner Kameraden machten Anstalten ihm zu folgen, wurden aber von ihrem Anführer zurückgehalten.

„Ihr könnt ihm nicht helfen. Dieser Idiot. Er hat doch gesehen, was passiert.“

Hilflos sahen sie zu, wie der Mann noch ein paar Mal von der Wucht des Wassers gegen Bäume und Felsen getrieben wurde und schließlich unterging.

„Los jetzt!“, zischte Mimbelwimbel.

Er zog Max am Ärmel und stieß Anemone an, damit sie aufstand. Er selbst hatte seinen Rucksack bereits auf, seinen Schuh an und Hund sein Packet umgeschnallt. Max erwachte aus seiner Starre und stieg hastig in seine Stiefel. Anemone wollte gerade in ihren zweiten Schuh schlüpfen, als sie aufquiekte. An ihrem Bein hing ein Egel, schon recht vollgesogen.

„Mach es ab! Mach es ab!“

Max nahm den Egel zwischen zwei Finger und zog. Schließlich gab er nach und ließ los. Max warf ihn zurück ins Wasser.

„Das war der Übeltäter“, sagte er zu Anemone und zog sie auf die Füße.

„Los jetzt“, drängelte Mimbelwimbel und sprang vor lauter Ungeduld auf und ab.

„Lauf nur, Fremder!“, rief der Anführer der Söldner vom anderen Ufer zu ihnen herüber. „Lauf nur, du kannst uns nicht entkommen! Wir werden dich überall finden. Koste es, was es wolle!“

Max hatte sich gerade zum Gehen umdrehen wollen, hielt aber nun inne. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Aber bevor er auch nur eine stellen konnte, hatten Anemone und Mimbelwimbel ihn gepackt und zogen ihn mit sich fort, weg vom Ufer.

Mühsam kämpften sie sich eine Zeit lang durch das kniehohe Gras. Aber noch erschöpft von der kraftraubenden Flussüberquerung kamen sie nur langsam voran. Irgendwann ließ sich Anemone einfach auf die Erde plumpsen.

„Ich kann nicht mehr!“, protestierte sie, als Mimbelwimbel sie ermahnte weiterzugehen.

„Wir können hier nicht bleiben. Wir sitzen hier mitten auf dem Präsentierteller.“

Mimbelwimbel ließ nicht locker. Auch Max hatte das dringende Bedürfnis sich auszuruhen, aber da sie erst seinetwegen in diese missliche Lage geraten waren, hielt er lieber die Klappe. Anemone ließ sich aber nicht dazu bewegen aufzustehen. Schließlich gab Mimbelwimbel nach.

„Ein paar Minuten.“

Max nahm mit einem kleinen erleichterten Seufzer seine Taschen ab und setzte sich ebenfalls ins Gras.

Abgesehen vom Zirpen der Grillen, dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen des Windes war es still.

„Meinst du, sie werden uns folgen?“, fragte Anemone Mimbelwimbel, der gerade dabei war, sich einen dicken Grashalm zu pflücken.

Er steckte ihn sich in den Mund und schüttelte den Kopf.

„Die hatten genug, glaube ich. Aber ich habe so den Verdacht, dass diese Halunken nicht die einzigen sind, die auf der Lauer liegen.“ Er schaute Max abschätzend an. „Ich frage mich, was sie von dir wollen?“ Max sah ihn bestürzt an. Hatte Mimbelwimbel die Nase voll? Aber Mimbelwimbel winkte ab. „Vergiss die Frage. So, wie es aussieht, ist es vielleicht besser, wenn wir es nicht rausfinden, zumindest nicht von ihnen.“ Anemone öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen oder fragen konnte, sagte Mimbelwimbel: „Also schön, wie viel Geld hast du noch?“

Er sah sie fragend an. Sie klappte ihren Mund wieder zu, kramte in ihrer Tasche und brachte einen kleinen Beutel zum Vorschein, in dem ein paar Münzen waren. Mimbelwimbel hatte ebenfalls seine Geldbörse gezückt und betrachtete nun stirnrunzelnd den Inhalt.

„Das reicht nicht bis Altseeburg. Wir müssen uns zwischendurch auf jeden Fall noch etwas hinzuverdienen.“

Anemone nickte.

„Und Max versteckt sich in der Zeit?“

Mimbelwimbel hob die Hand, um Max´ Protest zu stoppen.

„Ja, ist besser. Bis die Wälder anfangen sind es noch drei Tagesmärsche. Vorher kommen wir noch durch ein Dorf. Solange die Straße durch Felder und Wiesen führt, ist es besser, wenn wir sie auch nutzen. Wenn wir jetzt abseits gehen, fallen wir nur auf. So viel Deckung gibt es auch nicht.“

Das klang logisch. Trotzdem gefiel es Max nicht, dass er auf der faulen Haut liegen sollte, während die anderen bei der Arbeit schwitzten.

In die Angst, die er spürte, schlich sich allmählich auch Wut. Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Mit welchem Recht wurde sein Leben und das von Anemone, Mimbelwimbel und Hund riskiert? Es wusste offenbar doch jemand, dass er hier war. War es derjenige, der ihn in diese Welt geholt hatte? Und zu welchem Zweck? Auf diese Frage lief es immer wieder hinaus. Max hasste es, nicht Bescheid zu wissen. Er vertrug sehr viel, aber wenn es ihm zu viel wurde, explodierte er wie ein Vulkan. Es war noch nicht oft vorgekommen, aber er hatte das Gefühl, dass es bald wieder soweit sein würde.

Mimbelwimbel hatte sein Geld wieder verstaut.

„Wenn wir die Wälder erreichen, sollten wir aber von der Straße runter!“

Er stand auf und schnallte sich seinen Rucksack um.

„Finden wir dann überhaupt den Weg?“, fragte Anemone skeptisch.

Mimbelwimbel zuckte mit den Schultern.

„Immer nach Norden. Die Sonne wird uns die Richtung vorgeben. Wenn wir am Meer sind, immer am Strand entlang, bis zum Damm.“

 

Klang einfach. Max hoffte, dass es klappte.

Mühsam stemmte er sich hoch. Er war völlig kaputt. Sehr weit würde er es heute nicht mehr schaffen. Auch Anemone kam nur langsam auf die Beine. Mimbelwimbel betrachtete beide mit einem beinahe schadenfrohen Grinsen im Gesicht. Ihm schien die höllische Flussdurchquerung kaum etwas ausgemacht zu haben.

„Es ist wohl besser, wenn wir uns ein geschütztes Plätzchen für die Nacht suchen!“

Max und Anemone warfen ihm einen bösen Blick zu und Mimbelwimbels Grinsen vertiefte sich noch.

Bald darauf fanden sie, bereits wieder in der Nähe der großen Nord-Süd-Straße, eine Gruppe von Büschen, neben einem Weg, der in die Wiesen führte. Hier konnten sie die Nacht, vor neugierigen Blicken geschützt, verbringen.

Während sie gelaufen waren, hatte die Sonne ihre Kleider halbwegs getrocknet. Allerdings haftete an ihnen nun ein recht modriger, schlammiger Geruch, der nur Mimbelwimbel nicht zu stören schien.

Frisch umgezogen, den Bauch mit Brot, Käse, Wurst und einem Apfel gefüllt, fühlte Max sich sehr viel besser. Er hatte sich für die erste Wache gemeldet, worauf sich Mimbelwimbel ohne zu zögern in seine Decke wickelte und einschlief. Anscheinend war der Tag doch nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen.

Anemone schnitt sich noch ein Stück von einer Gurke ab und gab Max ebenfalls etwas. Mit angezogenen Beinen saß sie neben ihm und knabberte daran.

„Kann ich dich mal was fragen?“, flüsterte Max, um Mimbelwimbel nicht zu stören. Anemone nickte.

„Warum bist du unterwegs?“

Er sah sie direkt an. Sie erwiderte für kurze Zeit seinen Blick, dann stiegen ihr Tränen in die Augen und sie senkte ihren Kopf. Max zog seine Frage nicht zurück, sondern schaute sie weiter unverwandt an.

„Ich bin von zu Hause weggelaufen“, sagte sie schließlich kaum hörbar.

Max wartete eine Weile, dass sie weitersprach. Sie knabberte weiter an ihrem Gurkenstück. Ihre Augen schauten ohne Fokus, verloren in ihren Gedanken, auf die Büsche hinter Max.

„Ich habe einen Freund“, fuhr sie plötzlich fort, „Gawin, er ist der Sohn des Sattlers, der zu meines Vaters Gut gehört. Die Arbeit von Gawins Vater war gerade gut genug für den Hof, aber als Gawin bei ihm in Lehre ging, hat sich schnell herausgestellt, dass er ein Naturtalent ist, ein richtiger Künstler. Abgesehen von den Satteln und den Geschirren für die Pferde des Hofes hatte er auch angefangen, Kleidungsstücke wie Gürtel, Stiefel, Jacken und Hosen herzustellen und zu verzieren. Diesen hier hat er gemacht.“

Stolz schwang in ihrer Stimme mit und sie reckte sich, damit Max den Gürtel, den sie trug, bewundern konnte.

„Auf jeden Fall war er nicht gut genug für meinen Vater als Schwiegersohn.“

Anemone sackte wieder in sich zusammen.

„Also ist er nach Altseeburg aufgebrochen, um sein Glück zu machen und ein Geschäft aufzubauen. Er hat mir versprochen, dass er mich holt, wenn er genug vorzuweisen hat, um meinen Vater zufriedenzustellen.“

Sie verstummte. Ihr Gesicht war traurig.

„Er ist nicht gekommen?“, fragte Max leise.

Sie schüttelte den gesenkten Kopf.

„Das war vor zwei Jahren. Vor einem halben Jahr hat dann der Sohn vom Nachbarsgut um meine Hand angehalten. Ein eitler, dummer, widerlicher Idiot.“

Anemone schüttelte sich und Max konnte sehen, wie sie eine Gänsehaut bekam.

„Der würde nie eine Frau bekommen, wenn sein Vater nicht so reich wäre. Er, vor allem sein Erbe, war für meinen Vater angemessen, so dass er zugestimmt hat, ohne mich zu fragen. Zwei Tage vor der Hochzeit bin ich dann weggelaufen.“

Sie hielt den Kopf immer noch gesenkt. Max sah, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen.

„Und nun?“

Er konnte die Frage nicht zurückhalten. Es würde sich vielleicht nie wieder eine Gelegenheit ergeben. Anemone zuckte mit den Schultern und wischte sich die Wangen ab.

„Wahrscheinlich hat er meine Schwester geheiratet. Sie ist sowieso immer die Folgsamere und in der Hausarbeit Geschicktere von uns beiden gewesen. Und mich hat er bestimmt schon aus seinem Gedächtnis gestrichen.“

Sie lächelte ihn leicht gequält an.

„Ich bin müde!“, sagte sie und rollte sich ebenfalls in ihre Decke ein.

Max saß eine Weile da und lauschte. Mimbelwimbels Atemzüge waren langsam und gleichmäßig. Anemone lag zwar still, aber Max war sich sicher, dass sie nicht schlief. Sie war zwar dem unerwünschten Bräutigam entkommen, aber würde der Wunschkandidat wirklich noch auf sie warten? So unsicher, wie sie die Geschichte erzählt hatte, schien sie sich alles andere als sicher zu sein. „So, wie es aussieht, sitze nicht nur ich in der Klemme“, dachte sich Max. Bei dem hohen Risiko, dass sie einging um zu ihm zu gelangen, musste sie den jungen Mann sehr lieben. Er hoffte für Anemone, dass der Kerl die Mühe wert war.

Die Zeit verging langsam, und Max nickte immer wieder ein. Hund betrachtete ihn seufzend. So, wie es aussah, würde die Nachtwache wohl größtenteils an ihm hängen bleiben.

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