Die drei Steine der Macht

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Mimbelwimbel war stehen geblieben und wartete mit Hund unter einem Baum am Wegesrand.

„Was ist los?“, fragte er, als Anemone und Max den Baum erreichten. „Macht er schon schlapp?“, knurrte er mit einem Kopfnicken in Max´ Richtung.

„Er hat keine Schuhe an!“, warf Anemone zu Max´ Verteidigung ein.

„Nicht meine Schuld!“, brummte Mimbelwimbel missmutig, setzte sich aber ins Gras.

Max ließ sich mit einem erleichterten Seufzer ebenfalls nieder. Die Fußsohlen schmerzten und waren rot von der ungewohnten Belastung. Er lief sonst auch nicht viel. Das Einzige, was er seinem Körper an regelmäßiger Bewegung zumutete, war die eine Stunde Fitnessstudio zweimal die Woche gegen das kleine Speckröllchen um die Bauchgegend. Immerhin hatten sich keine Blasen gebildet. Noch nicht.

„Solange wir hier sitzen, kannst du Max ein wenig erzählen!“, forderte Anemone gerade den kleinen Mann auf.

„Was, wem?“

Mimbelwimbel war nicht begeistert.

Anemone unterdrückte mühsam ein Augenverdrehen und stellte Max und Mimbelwimbel erst einmal einander vor. Mimbelwimbel nahm dies mit einem Grunzen zur Kenntnis.

Max, der einiges an schlechtem Benehmen gewohnt war, kam schnell zu dem Schluss, dass es noch schlimmer ging. Der Beweis saß vor ihm.

Anemone unternahm einen zweiten Versuch, den Zwerg zum Sprechen zu bewegen.

„Max weiß nichts von dieser Welt, er hat vielleicht sein Gedächtnis verloren ... und du bist viel weiter herumgekommen als ich und kannst ihm viel mehr erzählen.“

Sie sah Mimbelwimbel erwartungsvoll an.

Mimbelwimbel starrte Max eine lange Weile von oben bis unten an. Max starrte zurück. Er wollte um keinen Preis zeigen, wie unangenehm ihm das war. Er fühlte sich unter dem prüfenden Blick fast nackt.

„Gedächtnis verloren, so, so ...“, krächzte Mimbelwimbel in seiner brüchigen Stimme.

„Ja“, sprang Anemone an, „er erinnert sich vielleicht wieder, wenn du ihm etwas erzählst!“

Sie nickte eifrig.

Mimbelwimbel pflückte einen Grashalm, steckte sich das dicke Ende in den Mund und begann darauf herumzukauen.

„Vielleicht erinnert er sich daran, was er mit seinen Ohren angestellt hat. Hast du dir die Spitzen abgeschnitten oder was? Habe noch nie so seltsame Ohren gesehen!“

„Na, da musst du dich gerade melden!“, dachte Max und fasste sich reflexartig an die Ohren. Alles in Ordnung. Er zuckte mit den Schultern.

„Meine Ohren waren schon immer so. Alle, die ich kenne, haben solche Ohren!“

Anemone lachte ungläubig.

„Ohren sind normalerweise so!“

Sie fasste sich an ihr rechtes Ohr und wackelte es kurz hin und her.

Mimbelwimbel schnaubte verächtlich, holte einen Wasserschlauch aus seinem Rucksack, entkorkte ihn und trank ein paar Schlucke. Ungerührt von Max´ durstigem Blick steckte Mimbelwimbel seinen Wasserschlauch wieder ein. Anemone hatte Max´ Gesichtsausdruck bemerkt und reichte ihm ihre Flasche. Dankbar trank er etwas. Das Wasser schmeckte schal und abgestanden. Während Anemone die Flasche zurück in ihre Tasche packte, rappelte sich Mimbelwimbel auf und schnallte sich seinen Rucksack wieder um.

„Los weiter, sonst sitzen wir heute Abend noch hier!“

Er hüpfte los ohne abzuwarten, ob sie ihm folgten.

Max starrte ihm mit offenem Mund nach.

„Was für ein netter ... was auch immer.“

Er hatte Mensch sagen wollen. Aber das war der griesgrämige kleine Mann ja nicht. Und Wobbelhobbel hätte er ohne ein Kichern nicht über die Lippen gebracht. Anemone lachte kurz und stand ebenfalls auf.

„Er wird schon noch freundlicher werden.“

Max mühte sich ebenfalls hoch.

„In hundert Jahren vielleicht“, murmelte er zu sich selbst.

„Eher in tausend Jahren!“

Hund hatte seine Worte gehört und stand nun neben ihm. Mit einem Blick auf Anemone, die bereits losgegangen war, fragte Max den Vierbeiner: „Verstehst du, was ich sage?“

„Klar!“, kam prompt die Antwort.

„Max, komm jetzt!“, rief Anemone über die Schulter zurück und winkte ungeduldig.

Mimbelwimbel war schon ein gutes Stück voraus.

Max setzte sich in Bewegung.

„Wie kommt es, dass ich dich verstehe?“, fragte Max den Hund.

„Keine Ahnung. Finde ich aber richtig toll! Endlich mal jemand, mit dem man sich unterhalten kann. Nicht immer nur diese blöden Kommandos. Ich wollte schon immer mal mit jemanden den Sinn dieser Welt ergründen. Oder über die äußerst interessante Frage philosophieren, ob die Würstchen geräuchert oder gekocht besser schmecken.“

Hund sah Max erwartungsvoll an.

„Wenn ich mit dir über den Geschmack von Würstchen philosophiere, denkt Anemone, dass ich meinen Verstand völlig verloren habe.“

Hund ließ traurig den Kopf hängen.

„Da hast du völlig Recht!“

Anemone hatte auf sie gewartet und stand nun mit in die Hüfte gestemmten Händen vor ihnen.

Hund wackelte unschuldig mit dem Schwanz und ging zu ihr. Während sie ihn hinter den Ohren kraulte, warf sie Max einen misstrauischen Blick zu.

Um abzulenken, fragte Max: „Wie kommt es eigentlich, dass du mit Mimbelwimbel unterwegs bist? Er scheint eher der Typ zu sein, der allein reist.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

„Das tut er normalerweise auch“, sagte Anemone. „Er hat mich davor bewahrt, ein paar Wegelagerern in die Hände zu laufen.“

Max sah sie interessiert an. Sie hatte ganz am Anfang, kurz nachdem er auf dem Weg gelandet war, so etwas erwähnt.

„Das Mittlere Gebirge ging schon in Hügel über, als ich, in Gedanken versunken, nicht auf die Umgebung geachtet habe. Irgendwann bin ich stehen geblieben, weil Hund mir unruhig um die Beine gewuselt ist. Da ist Mimbelwimbel aus dem Gebüsch gesprungen, hat mich an der Hand gepackt und in die Sträucher gezerrt. Ich bin so überrascht gewesen, dass ich gar nicht geschrien habe. Was auch gut war. Hinter der Biegung hatten die Räuber gerade eine Reisegruppe überfallen. Von unserem Versteck aus konnten wir alles sehen. Die haben den Männern die Kehle durchgeschnitten und die Leichen ins Gebüsch geworfen. Alles Wertvolle und die zwei Frauen, die dabei waren, haben sie mitgenommen und sind im Wald verschwunden. Es war schrecklich.“

Anemone erschauderte.

Max war geschockt. In was für einer Welt war er denn bloß gelandet?

„Äh ... Kommt hier so etwas öfter vor?“, fragte er, bemüht um eine ruhige Stimme.

Anemone zuckte mit den Schultern.

„Mimbelwimbel meint, dass die Überfälle dieses Jahr besonders häufig sind. Er ist zum Ende des Winters schon mal hier unterwegs gewesen. Man reist am besten in Gruppen oder mit kampferprobten Reisebegleitern, sofern man es sich leisten kann. Ich weiß nicht, warum er bei mir geblieben ist. Ohne mich würde er um einiges schneller vorankommen.“ Anemone lächelte, den Blick auf den hüpfenden Wobbelhobbel gerichtet. „Vor zwei Tagen hätte es uns beinahe wieder erwischt. Aber Hund hat uns rechtzeitig gewarnt.“ Sie streichelte dem Vierbeiner über den Kopf, was dieser mit einem heftigen Schwanzwedeln quittierte. „Er ist ganz nett für einen Wobbelhobbel“, meinte sie schließlich.

Max nickte und fragte sich gleichzeitig, wie ein nicht netter Wobbelhobbel so wäre. Im Wald schien es wohl am gefährlichsten zu sein. Die offene Weite der Felder und Wiesen bot Wegelagerern kaum Deckung. Im Moment bestand wohl kein Grund zur Sorge. Trotzdem, ein ungutes Gefühl blieb.

Sie gingen schweigend weiter. Das Gras unter Max´ Füßen war trocken und stachelig. Seine Sohlen brannten und fühlten sich wund an. Die Sonne schien auf seinen Kopf und Nacken, und bald brannten nicht nur seine Sohlen, sondern auch seine Haut. Der Schweiß rann ihm den Rücken runter, und die Schlafanzughose klebte ihm unangenehm an den Pobacken. Er konnte das flotte Tempo von Anemone und Mimbelwimbel kaum mithalten, es wäre schon mit Schuhen problematisch gewesen. Bereits erschöpft schnaufte er wie ein verwundetes Nashorn. Anemone warf ihm immer wieder besorgte Blicke zu. Max wollte nicht schon wieder um eine Pause bitten, doch seine Füße würden sie bald einfordern, außerdem quälten ihn großer Hunger und Durst. Das letzte Mal hatte er gestern Abend etwas gegessen. Es schien Lichtjahre her zu sein.

Mimbelwimbel war hinter einem kleinen Hügel verschwunden, und als Max und Anemone oben ankamen, lag unter ihnen ein größerer Hof, ein paar Meter abseits von der großen Nord-Süd-Straße. Mimbelwimbel stand an dem Abzweig, der zu dem Gehöft führte, und wartete auf sie.

Kleider machen Leute

Ein paar Minuten später hatten sie Mimbelwimbel erreicht. Max setzte sich erleichtert seufzend hin, um seine Füße zu entlasten und erntete dafür einen verachtenden Blick. Anemone sah zum Haus hinüber.

„Wollen wir fragen, ob wir hier eine Nacht bleiben können? Vielleicht haben sie etwas für uns zu tun, so dass ...“

„Ich glaube nicht, dass hier noch jemand ist“, fiel Mimbelwimbel ihr ins Wort. „Und so, wie er aussieht, würde uns wahrscheinlich auch keiner aufnehmen.“

Wieder dieser verächtliche Blick. Max starrte böse zurück und musste dabei nicht mal groß den Kopf heben.

„Du meinst ...“

Anemone erblasste. Mimbelwimbel nickte ernst.

„Hörst du es nicht?“

Max verstand nur Bahnhof. Was sollte denn zu hören sein?

Und dann traf es ihn wie ein Vorschlaghammer. Er hörte nichts außer dem Zirpen der Grillen im Feld, dem Wispern der leichten Brise in den Getreidehalmen, Anemones aufgeregtem Atmen, Hunds Hecheln. Aber nichts weiter. Der Hof lag höchstens fünfzig Meter von der Straße entfernt. Um diese Zeit hätten sie Menschenstimmen hören müssen. Werkzeuggeklapper, Hundegebell, Hühnergegacker, irgendwas. Aber keine Stille.

 

„Was ist hier passiert?“, fragte Max.

Anemone schluckte und starrte noch ein paar Sekunden auf den Torbogen, der zum Hof führte, bevor sie antwortete: „Ich habe dir doch erzählt, dass einzelne Gehöfte eher die Ausnahme sind, sie sind zu ungeschützt. Zwei Tage, nachdem Mimbelwimbel und ich uns getroffen hatten, sind wir an so einem abseits gelegenen Hof vorbeigekommen. Wir sind reingegangen, um nach Übernachtung und Verpflegung zu fragen. In der Erntezeit bekommt man fast immer etwas, wenn man als Gegenleistung bei der Arbeit hilft.“

Anemone verstummte, die Augen weit aufgerissen. Max beschlich eine dunkle Ahnung, was geschehen sein könnte, und war sich nicht mehr sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Anemone fing sich und sprach mit belegter Stimme weiter: „Alles war durcheinander. Die Ställe standen offen und waren leer. Keiner der Bewohner lebte noch, auch nicht die Kinder. Der Hof war überfallen und ausgeraubt worden. Es müssen viele Angreifer gewesen sein. Sie sind in der Nacht gekommen und haben alle in ihren Betten abgeschlachtet.“

Max starrte sie mit offenem Mund entsetzt an.

„Und was habt ihr dann gemacht?“

Mimbelwimbel zog sich den Grashalm aus dem Mund.

„Na was wohl. Wir haben sie begraben. Sie müssen schon einige Zeit gelegen haben und waren kräftig am stinken.“

Anemone zuckte zusammen. Das Ereignis saß ihr offensichtlich noch ziemlich in den Knochen.

„Nachdem wir sie begraben hatten, übernachteten wir im Stall, der Geruch im Haus war nicht zu ertragen. Die Räuber oder Söldner, oder wer auch immer das gewesen war, hatten den Speisekeller nicht komplett ausgeplündert. Ein paar Dinge fanden wir noch, also ...“

Sie zuckte mit den Schultern. Max war nun froh, dass sein Magen leer war. Ihm wurde schlecht bei der Vorstellung.

„Und ihr meint, dass so etwas hier auch passiert ist?“

Das Zittern in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Wahrscheinlich!“, sagte Mimbelwimbel gnadenlos. „Wirst du es verkraften?“ Anemone anblickend fügte er hinzu „Das ist die einfachste Möglichkeit, ihn mit Schuhwerk zu versorgen.“

Sie nickte zustimmend. Beide gingen los. Max fügte sich, rappelte sich hoch und ging langsam hinterher. Er fürchtete sich. Ein Blutbad im Fernsehen anzuschauen war eine Sache, aber dies in Wirklichkeit zu erleben eine völlige andere. Die Beiden hatten recht, er konnte, so wie er angezogen war, unmöglich weiter durch die Gegend stolpern, aber es gefiel ihm nicht. Widerstrebend setzte er einen Fuß vor den anderen.

Mimbelwimbel, Anemone und Hund betraten den Hof bereits und verschwanden aus seinem Blickfeld. Hätten sie nicht auf ihn warten können? Es war lange her, dass er sich so gefürchtet hatte.

Halb erwartete Max Kampfgeräusche zu hören, dass die Übeltäter noch auf dem Hof waren und auf arglose Wanderer lauerten.

Er achtete nicht auf den Weg, stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, stolperte und fing sich gerade noch rechtzeitig. Leise fluchend blieb er stehen und wartete, bis der Schmerz nachließ.

Er hatte das Tor fast erreicht. Es war immer noch totenstill. Die anderen Drei, die bereits hinter dem Torbogen verschwunden waren, machten keine Geräusche. Angst, dass er ganz alleine sein könnte, machte sich plötzlich in ihm breit.

„Reiß dich zusammen!“, befahl er sich selbst und machte die letzten Schritte.

Langsam trat Max durch den steinernen Torbogen in den schattigen Hof. Die Torhälften standen weit offen, eine hing nur noch halb in den Angeln. Nach dem langen Marsch in der heißen Sonne war es im Schatten der Mauer nahezu kalt. Max fröstelte, Gänsehaut überzog seine Arme, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Sein Blick glitt vorsichtig tastend über das Gehöft.

Der Hof bestand aus drei Gebäuden, die in U-Form angeordnet waren. Das Gebäude gegenüber dem Tor schien der Stall zu sein. Durch die große, zweiflügelige, ebenfalls weit offen stehende Tür konnte Max aufgewühltes Stroh erkennen. Das Haus rechts von ihm war ein einstöckiger Bau. Das linke Haus hatte zwei Stockwerke, wahrscheinlich war es auch das Wohnhaus. Max erinnerte sich, derartige Gehöfte schon im Freilandmuseum gesehen zu haben, als er noch mit seinen Eltern in die Ferien gefahren war.

Er hatte erwartet, überall Leichen zu sehen und war froh, dass zumindest keine im Hof lagen. Aber laut Anemones Aussage waren das letzte Mal die Bewohner im Haus getötet worden. Es polterte leise im Wohnhaus.

Max atmete tief durch und ging auf den Eingang zu. Dabei fielen ihm dunkle Flecken auf der festgestampften, braunen Erde des Hofes auf. Fliegen schwirrten darüber. Vom Tor aus hatte er sie nicht bemerkt. Aber nun, wo er fast davor stand, konnte er die Flecken, die wie eingetrocknete Pfützen aussahen, nicht übersehen. Als er näher kam, roch er es auch. Es wehte ein leichter Wind in seinen Rücken, so dass er wirklich ganz dicht an einer Pfütze vorbeigehen musste, um den leichten Verwesungsgeruch wahrzunehmen, der noch darüber lag. Das Blut war zu einer rissigen Glasur erstarrt.

Max musste den Blick abwenden. Ihm war schlecht. Jemand, viele waren hier gestorben. Es waren nicht nur ein oder zwei Flecken. Auf dem Weg zum Eingang des Wohnhauses kam Max an mehreren dicht beieinander liegenden eingetrockneten Pfützen vorbei, die teilweise ineinander gelaufen waren, bevor die Flüssigkeit in der Sonne verdunstet war.

Auch die Tür zum Wohnhaus stand auf. Langsam ging er die Stufen hoch und trat in die dunkle Kühle. Bald gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er stand direkt vor einer Treppe, die in das obere Geschoss führte. Rechts von sich sah er einen Raum, in dem Spinnrad und Webstuhl standen oder gestanden hatten. Die Geräte waren umgeworfen und zum Teil zerstört worden. In dem Zimmer, das dahinter lag, konnte er ein Bett und einen Schrank erkennen. Beides durchwühlt, Federn lagen verstreut herum, und ein schlaffer, leerer Kopfkissenbezug hing über der halb aus den Angeln gerissenen Schranktür. Die Kleidungsstücke aus dem Schrank waren achtlos auf den Boden geworfen worden. Ein Bild kompletter Zerstörung.

Max zuckte zusammen, als es hinter seinem Rücken polterte. Vorsichtig trat er durch die angelehnte Tür zu seiner Linken und atmete erleichtert auf. Es war das Wohnzimmer. Auch hier waren die Möbel bei der brutalen Durchsuchung umgeworfen und teilweise zertrümmert worden. Überall glitzerten Glasscherben auf dem Fußboden. Eines der Fenster war eingeschlagen und Gläser an die Wand geschmissen worden, wo sie Flecken von ihrem Inhalt hinterlassen hatten.

Anemone war dabei aufzuräumen, die Möbel aufzurichten und auszufegen. Sie befahl Max an der Tür zu warten, bis sie die Scherben zusammengekehrt hatte. Als sie fertig war, stützte sie sich auf den Besen, blies sich eine Strähne aus dem Gesicht und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Sie sah seinen ängstlichen Gesichtsausdruck und lächelte.

„Keine Angst, das Haus ist in Ordnung, etwas unordentlich vielleicht ...“

Sie blickte sich um.

Die kleine Kammer in ihrem Rücken, die sich an das Wohnzimmer anschloss, war genauso mit Federn gepudert wie das Zimmer, das Max hinter der Webstube gesehen hatte.

Anemone stellte den Besen zur Seite.

„Wir sehen uns den Rest an und schauen, ob wir passende Kleidung für dich finden.“

Sie wandte sich an Hund der mit erwartungsvoll gespitzten Ohren zu ihr aufschaute.

„Hund, such Essen!“ Hund bellte kurz und wackelte mit dem Schwanz.

„Die erste Wurst ist meine!“, hörte Max ihn noch rufen, bevor er durch die Tür verschwand.

Max sah ihm hinterher. Als er sich wieder umdrehte, verschwand Anemone gerade in der Kammer hinter dem Wohnzimmer. Zögernd schaute sich Max noch mal im Raum um. Es war alles so fremd, so unwirklich.

Niedergeschlagen folgte er Anemone in den Nebenraum. Sie hatte die Kleidung vom Boden hochgehoben und hielt sie Max nun prüfend an. Sie fand zwei Hosen, die den Überfall heil überstanden hatten, und ein Hemd. Sie knüllte alles zusammen und stopfte es Max in die Arme. Es kamen ein paar Tücher hinzu und etwas, das wie Unterhosen aussah.

Anemone hatte alles durchgeschaut und blickte nun auf den bereits beachtlichen Berg in Max´ Armen. Dann meinte sie:

„Leider keine Schuhe, aber immerhin.“ Sie schaute ihn an. „Was ist los, hat es dir die Sprache verschlagen?“

Max schluckte, wie sollte er erklären, was gerade in ihm vorging. Die Bewohner dieses Hauses lagen irgendwo ermordet herum. Sie plünderten nun dieses bereits einmal durchforstete Haus, das durch diese Tat bereits seine Bedeutung als Heim, als sichere Zuflucht verloren hatte.

Sie würden das Essbare und die noch brauchbare Kleidung mitnehmen und damit diese Wohnstätte endgültig töten. So empfand es Max zumindest. Er fühlte sich als Eindringling, als Ruhestörer.

Anemone umarmte ihn kurz, soweit es mit Max´ vollen Armen ging. Sein Gesichtsausdruck musste lauter als Worte gesprochen haben.

„Sie brauchen diese Dinge nicht mehr, und wenn wir sie nicht mitnehmen, wird es jemand anderes tun“, meinte sie leise, fast entschuldigend.

„Ganz genau!“, sagte Mimbelwimbel von der Tür her.

Max zuckte zusammen und hätte beinahe den Wäscheberg fallen lassen.

„Ich habe im Garten ein paar frische Gräber gefunden. Jemand hat sie bereits begraben. Der Garten ist so gut wie leer, aber für heute Abend werden wir noch genug finden. Die Ställe sind auch leer. Nicht mal ein Huhn ist noch da.“

Anemone nickte.

„Hund sucht schon nach Lebensmitteln. Und wir schauen gerade nach passender Kleidung.“

Mimbelwimbel grunzte.

„Ist auch besser so. Ich werde nach der Wasserstelle suchen. Heute können wir hier bleiben.“

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und sprang die Stufen hinunter auf den Hof. Anemone sah ihm noch hinterher, runzelte die Stirn und holte Luft, als ob sie etwas sagen wollte. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf und ging durch die Webstube in das dahinter liegende Zimmer, kam aber zurück, bevor Max die Webstube betreten konnte.

„Mägdekammer“, sagte sie zur Erklärung und stieg die schmale, knarrende Treppe nach oben.

Die Durchsuchung des ersten Zimmers zur Rechten ergab schnell, dass es sich ebenfalls um ein Frauengemach handelte. Anemone wies Max aber an, schon mal die Kleidungsstücke anzuprobieren, die sie bereits gefunden hatten, während sie weitersuchte. Zweifelnd zog Max den Schlafanzug aus und stieg in das, was er für eine Unterhose hielt.

Er hätte darin wenden können. Wie, in Gottes Namen, sollte er dieses Zweimannzelt dazu bringen, oben zu bleiben?

Nach einigem Suchen fand er schließlich das Band am Saum, mit dem er dieses Ding soweit zusammenraffen konnte, dass es ihm nicht mehr über den Hintern rutschte.

Immer wieder hörte er Anemone in den Nebenzimmern poltern, während er sich mit dem ungewohnten Kleidungsstück abmühte. Gerade betrachtete er kritisch ein Hemd und eine Hose (sie waren genauso riesig wie die Unterhose!), als er Anemone am Ende des Flurs aufschreien hörte.

Er hastete in den Raum, aus dem der Schrei gekommen war. Anemone kam gerade hinter dem Bett hoch. Offensichtlich hatte sie auch darunter gesucht und war fündig geworden.

Triumphierend hielt sie ein paar Stiefel in der Hand. Sie sahen einfach, aber recht neu aus. Auch schienen sie groß genug für seine Füße zu sein, Anemone sah Max mit den Riesenbuchsen bekleidet in der Tür stehen und brach in Gelächter aus. Beleidigt verschränkte er die Arme vor der nackten Brust. Er war sich im Klaren, dass er lächerlich aussah (seine Urgroßmutter hatte solche Teile auch getragen, nur mit Rüschen dran.), aber musste man es denn so deutlich zum Ausdruck bringen? Sein beleidigter Gesichtsausdruck fachte Anemones Gelächter nur noch mehr an.

Anemone beruhigte sich schließlich wieder und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie deutete auf den Haufen, der auf dem Bett lag und meinte:

„Das dürfte besser passen.“

Sie suchte eine deutlich kleinere Unterhose heraus und hielt sie ihm hin. Max nahm sie und schaute verlegen in ihr erwartungsvolles Gesicht. Eine Peepshow wollte er eigentlich nicht geben.

Mit einem Augenverdreher drehte sie sich um und nahm ihm die Entscheidung, das Zimmer zum Umziehen zu verlassen, ab. Rasch löste Max die Haltebänder.

 

Er stieg gerade in die kleinere Unterhose, als Anemone fragte:

„Fertig?“, und sich umdrehte, ohne die Antwort abzuwarten.

Er schaffte es gerade noch so, die Hose in Position zu ziehen.

„Anemone, bitte!“, sagte er empört.

Sie lachte.

„Schon viel besser!“, meinte sie.

Aus dem Haufen auf dem Bett suchte sie eine Hose und ein Hemd heraus.

„Die hier könnten passen.“

Max nahm ihr die Kleidungsstücke ab, und sie ging in Richtung Tür. Über die Schulter sagte sie:

„Ich glaube, ich habe in einem der Zimmer eine größere Umhängetasche gesehen.“

Max sah ihr einen Augenblick nach, dann zog er Hemd und Hose an. Sie passten ganz gut. Noch etwas zu groß vielleicht, aber besser als zu eng. Er nahm die Stiefel und hielt sie sich an. Sie würden ebenfalls etwas zu groß sein, aber vielleicht mit einem zweiten Paar Socken ... und das bei der Hitze. Er würde sich totschwitzen. Unschlüssig schaute Max auf die Stiefel. Egal, barfuß konnte er auf gar keinen Fall weitergehen.

Er begann im Kleiderhaufen nach Strümpfen zu suchen. Während er noch wühlte, kam Anemone in das Zimmer zurück. Sie hatte gefunden, was sie suchte, was man von Max nicht behaupten konnte.

„Was suchst du denn?“, fragte sie und warf mehrere Ledertaschen auf das zerrupfte Bett.

„Strümpfe“, meinte Max und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihm war warm geworden, und die ungewohnt grobe Kleidung rieb auf seiner schwitzigen Haut.

„Strümpfe?“

Aus Anemones Mund klang das Wort sehr seltsam. Auf ihren fragenden Blick hin schaute er nur betont auf seine bloßen Füße. Sie zog ein Gesicht, das ihm deutlich sagte, dass sie ihn gerade für unglaublich dumm hielt. Mit einem Kopfschütteln zupfte sie aus dem Wäschehaufen eines der Tücher, die Max für Stoffwindeln gehalten hatte. Schon die ganze Zeit war ihm die Frage im Kopf herumgegeistert, was die in einem Männerzimmer zu suchen hatten. Max starrte fassungslos auf das Stück Stoff in Anemones Hand.

„Das ist nicht dein Ernst!“, protestierte er.

Anemone seufzte, drückte ihm den Lappen in die Hand und zog einen Schuh aus, um ihm zu zeigen, wie er seine Füße verpacken musste. Es dauerte eine Weile, bis Max den Dreh raus hatte. Falten, falten, wickeln, wickeln, knoten.

Schließlich waren alle Füße verpackt und in den Schuhen und Stiefeln verstaut. Durch die ganze Wickelei hatten Max´ Füße so an Volumen gewonnen, dass die Stiefel nun perfekt passten. Er machte gerade ein paar Probeschritte unter Anemones kritischen Augen, als Hund, heftig mit dem Schwanz wedelnd und fröhlich bellend, in das Zimmer gelaufen kam. Er sprang an ihr hoch und sie kraulte ihn hinter den Ohren.

„Ja, was ist denn? Hast du was gefunden?“

Hund bellte und jaulte und versuchte, Anemone aus dem Zimmer zu ziehen. Sie bemühte sich, ihn zu beruhigen, und redete auf ihn ein. Er würde sich ja sonst auch nicht so aufregen, wenn er was gefunden hatte. Max verstand genau, was Hund wollte. Kochschinken und geräucherte Würste hinter einer versteckten Tür im Keller, Hunds Lieblingsleckereien. Anemone solle sofort kommen und Mimbelwimbel helfen die Tür aufzubrechen. Er habe Hunger und großen Appetit!

Max versuchte das Gerede zu überhören, obwohl ihm sein eigener Hunger dabei wieder bewusst wurde. Schließlich sah Hund ein, dass Anemone ihn noch warten ließ und begann, sich im Zimmer umzusehen und in die Ecken zu schnüffeln.

Anemone hielt Max den größten der Beutel hin. Er hatte zwei extra Schlaufen, so dass er ihn auch auf dem Rücken tragen konnte. Dann nahm sie eine ähnliche, aber deutlich kleinere Tasche in die Hand und blickte nachdenklich von der Tasche zu Hund, der gerade halb im Schrank verschwunden war.

„Hund kann sein Futter eigentlich selbst tragen.“

Hund erstarrte und kam aus dem Schrank heraus, einen Strumpflappen auf dem Kopf.

„Ausgeschlossen!“

Anemone zupfte ihm das Tuch vom Schädel und hielt ihm die Tasche an.

„Hier die Beine durch und um den Bauch festgebunden, ja Hund, so machen wir das!“

„Weiber!“

Hund ließ Kopf und Ohren hängen.

Max begann Kleidungsstücke aus dem Haufen zu ziehen und zusammenzulegen.

„Warum nennst du ihn eigentlich Hund? Meinst du nicht, dass er vielleicht einen richtigen Namen will?“

Anemone zuckte mit den Schultern.

„Wieso sollte er einen anderen Namen haben wollen? Er ist ein Hund. Ich könnte auch Blödmann oder Scheißhaufen zu ihm sagen, es wäre ihm egal.“

Hund war bei diesen Worten zusammengezuckt.

„Dann doch lieber Hund. Trotzdem netter Versuch, Kumpel.“

Max musste gegen seinen Willen lächeln. Anemone hatte sich Hund zugewandt.

„Komm, zeig mir, was du gefunden hast!“

Hund bellte und lief voraus. Anemone wandte sich im Türrahmen noch einmal um.

„Du kommst dann runter, wenn du fertig gepackt hast.“

„Nein, ich werde mich unter dem Bett verkriechen!“, gab Max zur Antwort und brachte Anemone damit zum Lächeln. Dann folgte sie Hund die Treppe hinunter.

Er schmunzelte in sich hinein und begann, die zusammengefalteten Kleidungsstücke in den Beutel zu packen.