Nur ein kleiner Verdacht

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Was hatte es eigentlich mit diesem Ungeziefer-Gift auf sich? Normalerweise war er für diese Dinge zuständig. Schließlich war er immer noch Chemiker, auch wenn er zum letzten Mal vor zwanzig Jahren ein Labor von innen gesehen hatte. Maggie hatte irgendetwas von Blattläusen erzählt. Aber dafür gleich eine ganze Dose Gift? Das war doch übertrieben.

Im Flur hörte er Maggie nach oben ins Schlafzimmer gehen. Er blieb noch weitere zehn Minuten liegen, dann räumte er die Wärmflasche, die die Sache nur noch schlimmer gemacht hatte, beiseite und schlich auf Socken hinunter in die Küche. Leise öffnete er den Schrank. Die Dose stand nicht mehr an ihrem Platz. Karl durchsuchte den ganzen Schrank, die anderen Schränke, die Schubladen. Nichts. Er grübelte. Vielleicht in der Vorratskammer. Er öffnete die Tür zu dem kleinen kühlen Raum, und da stand sie. Links im Regal neben den Konserven. Karl setzte seine Brille auf und überflog die Inhaltsstoffe. Da war es: Lindan!

Ein hochgefährliches Nervengift, das nicht unumstritten war und zur Insektenvernichtung eingesetzt wurde. Karl hielt die weiße Dose gegen das Licht. Er holte einen Bleistift aus dem kleinen Becher in der Küche und markierte mit einem winzigen Punkt den Höhenstand des Pulvers. Dann stellte er die Dose zurück, ging in die Küche und trank fast einen Liter Milch. Das hatte er zuletzt als kleiner Junge gemacht. Er überlegte. Maggie hatte das Insektizid heute gekauft. Er hatte aber bereits seit drei Tagen Magenbeschwerden. Gab es überhaupt einen Zusammenhang? Er wollte sich gerade beruhigen, als ihm das Taubengift einfiel, das er im Frühjahr über einen ehemaligen Arbeitskollegen illegal erworben hatte. Es war nur eine sehr kleine Dose voll mit Blausäure in Pulverform, die er dem Mais untergemischt hatte. Klein, aber höchst wirkungsvoll. Die Tauben lagen zwei Tage später tot im Vorgarten. Wo hatte er die Dose gelagert? In der Garage oder draußen im Schuppen? Er zog sich Schuhe und Jacke an und machte sich auf die Suche. In der Garage fand er sie nicht. Und im Schuppen lagerten zwar alle möglichen Mittel gegen Wühlmäuse, Unkraut und Flohbefall bei Haustieren, aber die Blausäure war nicht dabei. Er arbeitete sich von der Vorratskammer in den Hobbykeller hinunter, ohne Erfolg. Er war sich absolut sicher, dass von dem Mittel noch ein Viertel übrig gewesen war. Genug, um einem ausgewachsenen Mann erhebliche Magenbeschwerden zu verursachen. Nein, Maggie würde ihn nicht umbringen wollen. Das traute er ihr nicht zu. Aber außer Gefecht setzen, das wäre durchaus möglich. Als er aus dem Keller nach oben kam, hörte er seine Frau in der Küche hantieren.

„Lass mich das Wasser aufsetzen“, sagte er beim Hereinkommen.

„Von mir aus.“ Sie trat zur Seite. „Die Teebeutel sind schon in der Kanne.“

Karl füllte das Wasser aus der Leitung in den Kocher. Dann nahm er die Teekanne, entfernte die Teebeutel und hielt sie Richtung Fenster, mit der Öffnung ins Licht.

„Was machst du da?“, wollte Maggie wissen.

„Ablagerungen“, murmelte er. „Es bilden sich immer diese Ablagerungen, die den Tee bitter machen.“

„Willst du vielleicht jetzt deine Nachspeise essen?“

„Nein, danke. Nimm du sie doch.“

„Nein. Ich muss auf meine Figur achten.“

„Dann lass uns teilen. Jeder eine Hälfte.“

„Nein. Ich möchte nicht.“

„Komm schon, Maggie. Tu mir den Gefallen.“

„Karl, ich will nicht.“

Er nahm den Joghurt aus dem Kühlschrank und holte zwei Teelöffel aus der Schublade.

„Hier.“ Er reichte ihr einen der beiden Teelöffel. „Du isst jetzt diesen Joghurt mit mir. Erst du, dann ich.“

„Karl, was soll denn das? Ich möchte keinen Joghurt essen.“

„Ich befehle es dir. Iss.“

Maggie traten die Tränen in die Augen.

„Du bist gemein.“

„Iss.“

Sie nahm den Löffel und tauchte ihn in die weiße Masse.

„Ja, gut. Mund auf und rein damit.“

Maggie weinte fast, während sie den Löffel zum Mund führte.

„Sehr schön. Und nicht vergessen zu schlucken.“

Sie würgte.

„Na komm. Noch einen.“

Maggie warf den Löffel in die Spüle und rannte aus der Küche. Kurz darauf knallte die Haustür.

Das Telefon klingelte.

„Hallo Papa.“ Ersticktes Weinen am anderen Ende.

„Susanne.“

„Ach, Papa. Es ist alles so schrecklich.“

„Na komm, so schlimm kann es doch nicht sein“, sagte Karl, während er von einem Magenkrampf gepeinigt wurde.

„Er hat mir von sich aus gestanden, dass er verheiratet ist. Und er wird sich auch nicht scheiden lassen. Er hat kleine Kinder und will keine neue Frau.“

„Hab ich dir doch gleich gesagt.“ Karl hielt sich die Hand auf den Bauch.

„Der geht doch nicht vom Regen in die Traufe. Der will einfach ein bisschen Spaß.“

„Warum sind bloß alle Männer Egoisten?“, weinte Susanne.

„Nicht alle, Susanne.“

„Aber du bist ja schon vergeben.“

„Na, es gibt auch noch ein paar andere edle Exemplare.“

„Und wo finde ich die?“ Susanne brach erneut in Tränen aus.

„Und ihr seid auch nicht da. Keiner ist da, um mich zu trösten oder mal in den Arm zu nehmen …“ Das brachte Karl auf eine Idee.

„Weißt du, was?“ Seine Haltung straffte sich. „Ich komme. Ja, du hast richtig gehört. Dein alter Vater kommt, um sein Mädchen zu trösten. Ich könnte eh ein paar Tage frischen Wind um die Nase gebrauchen. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.“

„Ich weiß nicht, Papa, du musst nicht extra hierher kommen, nur weil ich mal wieder Liebeskummer habe.“

„Keine Widerworte. Versprochen ist versprochen. Ich nehme den nächsten Flug. Wozu hat man einen Vater?“

„Papa, das ist total nett von dir, aber ich komme schon zurecht.“

„Ich melde mich, sobald ich weiß, wann mein Flugzeug geht. Wie ist das Wetter in San Francisco?“

„Warm, vielleicht dreiundzwanzig, vierundzwanzig Grad. Aber Papa …“

„Ich ruf dich nachher wieder an. Wenn du wegmusst, schalt den Anrufbeantworter an, dann spreche ich dir meine Zeiten drauf. Also mach’s gut.“

Karl drückte die Gabel hinunter und wählte gleich wieder eine Nummer. Am anderen Ende sprang ein Anrufbeantworter an.

„Hallo Kleines. Es handelt sich um einen Notfall. Susanne hat eben aus San Francisco angerufen. Es geht ihr ganz fürchterlich. Sie hat Liebeskummer wegen irgendeines Blödmanns. Naja, und da hat sie mich gebeten, zu kommen.

Seelischer Beistand – du weißt schon. Also habe ich mich breitschlagen lassen, den nächsten Flieger zu nehmen. Mag sein, dass es übertriebene Vatersorge ist, aber sie hat so herzerweichend geweint. Ich konnte nicht Nein sagen. Bist du so lieb und buchst mir den nächsten Flug bei der Lufthansa? Ich hab mir gedacht, ich nutze die Zeit für ein paar Geschäftsbesuche und bleibe im Ganzen zwei Wochen. Ich rufe dich später an. Mach’s gut und Küsschen. Ach übrigens – zur Entschädigung lade ich dich heute Abend zum Essen ein. Du weißt schon, wo – um acht. Also bis nachher.“

Als der Flieger abhob, schloss Karl die Augen. Alles war nach Plan gelaufen. Jutta hatte zwar ein wenig gemurrt, weil er ihre Verabredungen platzen ließ, aber sie wusste, dass ihn Nörgeleien vertrieben, also hat sie keine große Sache daraus gemacht.

„In zwei Wochen bin ich wieder da, Kleines. Und ich verspreche dir, ich bring dir etwas Hübsches mit – etwas, das nur ich an dir sehen darf.“

Maggie hatte nach der Szene in der Küche noch weniger gesprochen als zuvor. Sie kam an dem Abend erst gegen Mitternacht heim. Die Abende mit Karin wurden immer lang.

„Ich fliege morgen Mittag zu Susanne“, hatte er angekündigt, als sie ins Wohnzimmer kam.

„Zu Susanne?“

„Ja, sie hat mich gebeten, ihr beizustehen.“

„Wobei?“

„Herzschmerz.“

„Dich?“

„Ja, mich. Wieso denn nicht mich? Du warst ja die letzten Male, als sie verzweifelt hier angerufen hat, nicht zuhause.“

„Wann hat sie denn angerufen?“

„Neulich abends, da hast du bereits geschlafen, und heute Nachmittag.“

„Und warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Sie hat mich nicht darum gebeten.“

„Du hättest es mir wenigstens erzählen können.“

„Das muss ich wohl vergessen haben.“

Maggie sah verletzt aus.

„Ich gehe ins Bett“, sagte sie.

„Mach das. Ich werde heute Nacht noch einmal im Gästezimmer schlafen. Dann hast du mehr Ruhe.“

„Wann geht das Flugzeug morgen?“

„Um zwölf Uhr vierzig.“

„Sie hat dich wirklich gebeten?“

„Ja, natürlich. Was tust du so erstaunt? Ich wüsste nicht, was daran so komisch ist, wenn eine Tochter ihren Vater um Unterstützung bittet.“

„Und wie lange bleibst du?“

„Zwei Wochen.“

„Zwei Wochen? Um unsere Tochter zu trösten?“

„Natürlich nicht. Ich habe noch ein paar geschäftliche Termine drangehängt, damit sich der Aufwand lohnt. Allein schon wegen des Jetlags.“

„Geschäftliche Termine?“

„Ja, geschäftliche Termine. Noch verdiene ich Geld, falls dir das entgangen sein sollte. Und dazu habe ich ab und zu geschäftliche Verabredungen. Aber diese Welt ist dir ja fremd.“

„Du wolltest doch, dass ich aufhöre zu arbeiten!“

„Ja und, war das etwa nicht gut? Hast du nicht ein wunderbares Leben gehabt? Ein wunderschönes Haus, ein Auto? Eine Putzfrau? Friseurtermine, Italienischkurse, Gymnastik. Passt dir irgendetwas nicht?“

„Doch, es war nur …“

„Was denn? Was gefällt dir nicht?“

„Du sagtest, mir sei die Arbeitswelt fremd, dabei wolltest du nie, dass ich arbeite.“

„Sekretärin, bei diesem verstaubten Hinterzimmeranwalt. Ich habe dich da rausgeholt. Also was wirfst du mir vor?“

 

„Nichts.“

Pause.

„Soll ich dich morgen fahren?“, fragte Maggie.

„Ich bitte darum. Der Flieger geht um zwanzig vor eins, das heißt, wir müssen um zehn Uhr hier los. Und mach dir keine Mühe mit dem Frühstück. Ich will nichts essen. Ich habe nämlich verdammt schlimme Magenschmerzen.“

„Seit wann?“, fragte Maggie.

„Seit irgendwann.“

„Trotzdem fährst du weg?“

„Ich fahre unter anderem deshalb weg.“

„Verstehe ich nicht.“

„Gib dir keine Mühe. Gute Nacht.“

Sein Oberbauch schmerzte heftig. Die Tropfen zeigten keinerlei Wirkung. Kurz nach dem Start rief Karl die Stewardess und bat um ein trockenes Brötchen. Dazu bestellte er einen Pfefferminztee. Kaum hatte er beides intus, kam es ihm wieder hoch. Er rannte auf die Bordtoilette und übergab sich.

„Alles in Ordnung?“, fragte die Stewardess, als er aus der Toilette kam.

„Es geht schon wieder.“

Für den Rest des Fluges lehnte er weitere Mahlzeiten ab. In San Francisco würde er einen Arzt aufsuchen und sich einer Blutuntersuchung unterziehen. Dann würde man sehen.

„Flugangst?“, fragte der schmächtige Herr neben ihm.

„Keineswegs. Nur zu wenig gegessen“, antwortete Karl.

„Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, sagte sein Nachbar.

„Das betrifft mehr Menschen, als man glaubt. Aber die meisten sprechen nicht darüber. Lieber bezwingen sie die Angst mit einer Flasche Wodka. Sie schämen sich …“

„Mit mir ist alles in Ordnung“, wiederholte Karl.

„Ich habe bloß leichte Magenschmerzen.“

„Es gibt Seminare, in denen man lernt, seine Flugangst zu besiegen.“

Karl schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Der Mann neben ihm plauderte weiter, und wenn man nicht zuhörte, verwoben sich seine Worte mit dem tiefen Brummen der Düsen zu einem angenehm ermüdenden Klangteppich.

Schweißgebadet erwachte er aus seinem Nickerchen. Sein Nachbar reichte ihm ein Erfrischungstuch.

„Jaja, diese Angst verfolgt einen bis in den Schlaf. Glauben Sie mir.“ Er beugte sich zu Karl hinüber.

„Ich weiß, wovon ich spreche. Ich …“ Jetzt senkte er die Stimme.

„Ich hatte selbst einmal Flugangst. Aber die Betonung liegt auf ‚hatte’, denn ich bin sie los. Weg!“ Er schnipste mit den Fingern.

„Wie weggeblasen.“ Karl erhob sich leise stöhnend.

„Verschonen Sie mich mit Ihren Weisheiten!“

Mit weichen Knien wankte er in den Waschraum, wo er sich wieder erbrach. Dieses Mal kam nur bräunlicher Schleim. Er hatte seit gestern Abend, nachdem er sich mit Jutta noch für zwei Stunden bei Da Pasquale getroffen hatte, nichts mehr zu sich genommen. Außer dem Brötchen und dem Tee vorhin. Am Essen konnte es nicht liegen. Sein Hemd war unter den Achselhöhlen und am Rücken völlig durchnässt. Er versuchte, es auszuziehen, um sich frisch zu machen, aber die Kabine war zu eng, und er bekam wegen der Magenkrämpfe kaum Luft. Erschöpft sank er auf die Toilette, als es wieder klopfte.

„Alles in Ordnung da drinnen?“

„Alles klar“, zwang Karl sich zu sagen.

„Der Mann hat Flugangst, aber er traut sich nicht, es zuzugeben“, hörte er die vertraute Stimme seines Nachbarn sagen.

Er hatte kaum die Kraft, das Schloss zu entriegeln. Sein Sitznachbar stand neben der Stewardess vor der Tür.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Frau.

„Wahrscheinlich eine Grippe oder ein Magendarminfekt.“

Der schmächtige Herr wich ein wenig zurück.

„Grassiert momentan in meinem Büro“, sagte Karl.

„Sehr unangenehm.“

Den Rest der Flugzeit hatte er Ruhe. Sein Nachbar hatte sich versetzen lassen.

„Soll ich Ihnen ein Aspirin bringen?“, fragte die Stewardess.

„Das wäre nicht schlecht.“

Nachdem er die Tablette mit wenig Wasser geschluckt hatte, damit sie ihm nicht wieder hochkam, fiel er erneut in einen Dämmerschlaf. Als er erwachte, befand sich das Flugzeug im Sinkflug. ‚Gleich holt mich Susanne ab’, dachte er. Sein Oberbauch war aufgebläht, unter den Rippen brannte es, und er hatte das Gefühl, mehr als ein Furz säße ihm quer. Maggie war wirklich zu weit gegangen. Endlich holperte die Maschine über das Rollfeld. Mit letzter Kraft stemmte er sich aus seinem Sitz. Das Letzte, woran er sich später erinnern konnte, war das entsetzte Gesicht seines ehemaligen Sitznachbarn, als er sich im Zusammensacken auf dessen Schulter stützte.

Susanne 1

Mrs. Susanne Nienstetten. Mrs. Susanne Nienstetten. Please contact the Lufthansa Counter. Mrs. Susanne Nienstetten.” Susanne betrat gerade die Ankunftshalle durch die gläserne Drehtür, als sie ihren Namen über die Lautsprecher hörte. War die Maschine früher gelandet als angekündigt? Sie hatte dreißig Minuten Verspätung, aber die waren einkalkuliert. Normalerweise dauerte es fast eine Stunde, bis man sein Gepäck geholt hatte und durch die Emigration kam. Auf dem Weg zum Lufthansa-Schalter dachte sie sich eine Entschuldigung aus. Ihr Vater hasste Verspätungen. Der Verkehr! Seit zwei Spuren der Oakland Bay-Bridge gesperrt waren, musste man sich entweder durch das einspurige Nadelöhr zwängen oder den Umweg über die Richmond Bridge nehmen, auf der sich auch alles staute. Man konnte so früh losfahren, wie man wollte und kam trotzdem immer zu spät. Die Gänge erschienen ihr unendlich lang, und ausgerechnet heute hatte sie ihre silbernen Riemchensandalen mit den hohen Absätzen angezogen. Die passten zwar toll zu ihrem schwarzen, schmal geschnittenen Rock und dem schwarzen Rippen-T-Shirt mit dem aufgestickten Ying-Yang-Zeichen aus silbernen Pailletten, aber rennen konnte man auf den Dingern nicht. Also hockte sie sich kurzerhand hin, knüpfte die Riemchen auf, zog die Sandalen aus, nahm sie in die linke Hand und rannte barfuß durch die vielen Menschen Richtung Lufthansaschalter. Die Blicke der Reisenden störten sie nicht. Äußerst kurzatmig erreichte sie den Stand der Fluglinie. Ihr Vater war nirgends zu sehen.

„Frau Nienstetten?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Susanne drehte sich um und blickte in das offene und sehr sympathische Gesicht eines jungen Stewards. Er war vielleicht Mitte zwanzig, hatte blondes, fast schulterlanges Haar, das seitlich gescheitelt und elegant zurückgekämmt war.

„Ja.“

„Würden Sie bitte mit in unser Büro kommen?“

‚Könnte schwul sein’, dachte Susanne, als sie seinem knackigen Po folgte.

„Was ist denn los?“, fragte sie. „War die Maschine zu früh?“

In dem kleinen Büro saß eine ältere Angestellte mit stark toupiertem blondgrauem Haar und rosa geschminkten Lippen. ‚Viel zu grell für ihren blassen Teint’, fand Susanne. ‚Ein Apricot würde passen.’

„Mrs. Nienstetten?“ Die Frau sprach Deutsch mit einem starken amerikanischen Akzent.

„Ja.“

„Dürfte ich Ihren Ausweis sehen?“

„Natürlich.“ Susanne kramte in ihrer schwarzen Handtasche. Wo war er? In dem Durcheinander konnte sie nichts finden. Susanne bewunderte Menschen wie ihre Mutter oder ihre Schwester, die für alles einen festen Platz hatten und jedes Ding auf Anhieb fanden. Ihr wollte das nicht gelingen. Nacheinander legte sie eine kleine Plastiktüte mit dem T-Shirt, das sie sich auf dem Weg zum Flughafen gekauft hatte, ein Schminktäschchen aus durchsichtigem rosa Plastik in Form eines Herzens, ein notdürftig in eine Serviette gepacktes angebissenes Sandwich, ihren dicken schwarzen Terminkalender, zwei Packungen Vitamin B, ihr schwarzes Leder-Portemonnaie, eine abgerissene Kinokarte, zwei Briefe, die sie vergessen hatte einzuwerfen, einen U-Bahn-Fahrplan, einen angebrochenen Streifen Kondome, ein Päckchen OB, Handcreme, ihren Schlüsselbund, einen abgebrochenen Stielkamm, drei lose Stifte, eine Handvoll Kleingeld, ein Päckchen Kaugummis und einen kleinen gelben Stoffhasen, den ihr Tom erst kürzlich geschenkt hatte („für die langen Stunden ohne mich“) auf den Schreibtisch vor die Dame, die sie gelangweilt beobachtete. Wahrscheinlich ebenfalls eine Ordnungshüterin. Sie stopfte ihre Sachen wieder zurück in den Beutel, und wie durch ein Wunder fiel dabei ihr Pass aus dem schwarzen Terminkalender.

„Er muss hineingerutscht sein.“

„Offensichtlich“, sagte die Lufthansa-Mitarbeiterin und blätterte ihn mit ihren spitzen pinken Nägeln durch. ‚Wie zerfleddert er aussieht’, dachte Susanne, während sie ihre restlichen Sachen zurück in die Tasche stopfte.

„Was ist denn passiert?“

Sie wurde langsam richtig nervös.

„Ihr Vater“, sagte die Frau.

„Er ist bei der Landung im Flugzeug zusammengebrochen. Wir haben sofort die Ambulanz gerufen. Es scheint ernst zu sein, der Krankenwagen hat ihn ins St. Lukes Hospital gebracht.“

„Was ist mit ihm?“

„Wir wissen es nicht. Am besten, Sie fahren gleich ins Krankenhaus.“

Sie reichte Susanne eine braune Ledertasche.

„Hier ist sein Gepäck. Wir konnten es nicht früher aus dem Flugzeug holen. Viel Glück und gute Besserung.“

„Danke.“

„Soll ich Sie zum Taxi begleiten?“, fragte der nette Steward und nahm ihr die Tasche ab.

„Das wäre sehr freundlich.“

„Wollen Sie vielleicht zuerst Ihre Sandalen wieder anziehen?“

„Lieber nicht, mit denen brauchen wir eine Ewigkeit zum Taxi.“

Sie eilten durch die Flughafenhalle.

„Hoffentlich ist es nichts Schlimmes“, versuchte er sie auf dem Weg zum Ausgang aufzumuntern.

„Meine Eltern waren noch nie im Krankenhaus.“

„Mein Vater ist letztes Jahr gestorben“, sagte der Steward.

„Herzinfarkt. Ganz plötzlich.“

Susanne schwieg, und er fügte hinzu:

„Aber so schlimm muss es ja nicht gleich kommen.“

„Hoffentlich.“

„Leben Sie hier in San Francisco?“

„Ja.“

„Schon lange?“

„Zwei Jahre.“

„Ein Mann?“

„Zuerst schon.“

„Und jetzt?“

„Freunde, der Job.“

„Was machen Sie, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin Modeberaterin für eine große amerikanische Boutiquenkette. Ich beobachte den Markt, Trends in Europa und veranstalte Events.“

„Klingt spannend. Man kommt bestimmt viel rum?“

„Nicht so viel wie Sie, nehme ich an.“

„Von wegen.“

Er hatte wirklich ein süßes Lachen.

„Ich bin hier beim Bodenpersonal. Aber nur zur Aushilfe. Auf Dauer möchte ich was anderes machen – vielleicht auch mit Mode.“

„Sind Sie schwul?“, fragte Susanne.

„Sie sind aber direkt. Sehe ich so aus?“

„Entschuldigen Sie.“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund.

„Ist mir rausgerutscht.“

„Bi.“

„Schön für Sie.“

Am Taxistand wühlte Susanne in ihrem Portemonnaie nach einer Visitenkarte, auf der sie hinten ihre Privatnummer notierte.

„Wir können ja mal einen Kaffee zusammen trinken. Zum Dank für Ihre Unterstützung. Ich habe gute Kontakte in der Branche, vielleicht kann ich etwas für Sie tun?“

„Gerne. Ich ruf an.“

„Vielen Dank fürs Taschetragen.“

„Alles Gute und viel Glück mit Ihrem Vater.“

Sie warf die Tasche ihres Vaters in den Fond des Taxis und stieg dann selbst ein. Ihre Füße waren an den Sohlen und den Rändern schwarz. Sie versuchte, das Gröbste an den Stoff-Fußmatten abzureiben, bevor sie in die Sandalen schlüpfte, aber der Schmutz haftete hartnäckig an ihren Sohlen. Es war heiß, und sie öffnete das Seitenfenster. Der Wind kühlte ihre schweißnasse Stirn. Der Taxifahrer – wahrscheinlich ein Inder oder Pakistani, auf jeden Fall trug er einen weinroten Turban und einen weißen Leinenkaftan – machte ein paar Anläufe, um ins Gespräch zu kommen, auf die sie normalerweise eingestiegen wäre, aber heute konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Was war passiert? Am Flughafen hatte ihr niemand Auskunft darüber gegeben, was ihrem Vater fehlte. Zusammengebrochen, das hörte sich nicht gut an. Im Außenspiegel entdeckte sie einen riesigen Schwitzfleck unter ihrem linken Arm.

„Sorry“, entschuldigte sie sich in Richtung Taxifahrer, als sie sich das T-Shirt über den Kopf streifte. Was für ein Glück, dass sie Ersatz dabeihatte. Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog ihre Neuerwerbung (weiß-blau gestreift) aus der kleinen Tüte und entfernte das Preisschild. Sie genoss es, noch einen Moment im BH sitzen zu bleiben und den Fahrtwind auf ihrem nackten Oberkörper zu spüren. Eigentlich hatte sie ihren Vater abholen, ihn ins Hotel begleiten und anschließend nach Hause fahren wollen. Für den frühen Abend hatte sie einen Tisch im Adresso reserviert – ein hübsches Lokal in einem Hinterhof mit Lampions und gemütlichen Sitzgruppen. Ihr Vater mochte gute Restaurants, genau wie sie. Nicht zu elegant, aber stilvoll. Sie ging gerne mit ihm aus. Er war ein Gentleman. Der beste aller Begleiter. Und jetzt das: im Krankenhaus!

 

Das Taxi hielt, Susanne zog sich hastig das T-Shirt über, holte ein Bündel Dollars aus ihrem Portemonnaie, drückte dem verdutzten Taxifahrer ein paar Scheine in die Hand, wahrscheinlich viel zu viel, und hastete in die Lobby des St. Lukes.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die dicke schwarze Frau am Empfang.

„Ja, mein Vater. Karl Nienstetten. Er ist am Flughafen zusammengebrochen, und man hat mir gesagt, er sei hier eingeliefert worden.“

„Wie war der Name?“

„Karl Nienstetten.“

Die Frau keuchte, als sie ihr einen Zettel und einen Stift durch die gläserne Trennwand schob.

„Ist aber auch heiß heute“, sagte Susanne.

„Schreiben Sie den Namen hier drauf.“

Sie notierte den Namen ihres Vaters, die Frau nahm den Zettel mit ihren wurstigen Fingern, klappte die Durchreiche zu und wählte eine Nummer. Susanne sah sie reden, schweigen und dann wieder reden. Dann schob sie die Klappe wieder hoch:

„Ausweis.“

„Hören Sie bitte, ich möchte wissen, was mit meinem Vater los ist.“

„Ausweis.“

Wieder kramte sie verzweifelt in ihrer Tasche. Mein Gott, hier fand man aber auch nichts wieder. In der nächsten Saison würde sie dafür sorgen, dass Handtaschen mit verschiedenen Fächern wieder in Mode kamen. Um die Sache zu beschleunigen, schüttete sie den Inhalt ihres Beutels auf den Boden vor dem gläsernen Empfangshäuschen und fischte ihren Ausweis heraus.

„Hier, bitte.“

Die Empfangsdame nahm das Dokument und notierte in aller Ruhe Susannes Daten.

„Entschuldigen Sie“, sagte Susanne mit dem freundlichsten Lächeln, das ihr im Moment noch möglich war.

„Können Sie sich nicht ein wenig beeilen? Mein Vater liegt hier irgendwo. Ich weiß nicht, was er hat. Er ist heute erst aus Deutschland gekommen. Ich möchte ihn sehen.“

„Können Sie jetzt sowieso nicht. Er wird operiert.“

Susanne erschrak.

„Was soll das heißen? Was hat er denn?“

„Keine Ahnung.“

„Das gibt’s doch nicht. Sie müssen mir doch sagen können, wieso mein Vater operiert werden muss?“

„Junge Frau, ich habe keine Ahnung. Gehen Sie nach oben und fragen Sie den Arzt.“

Nach einer halben Ewigkeit schob sie den Ausweis zurück durch die Klappe.

„Dritter Stock, rechts. Fragen Sie nach Dr. Scott.“

Susanne stopfte den Ausweis in ihre Tasche und steuerte auf die Aufzüge zu. Wieder hinderten diese blöden Sandalen sie daran, so schnell zu laufen, wie sie eigentlich wollte. Aber hier im Krankenhaus mochte sie nicht barfuß gehen.

Also wackelte sie in kleinen schnellen Trippelschrittchen davon. Im Nacken spürte sie das spöttische Kopfschütteln der dicken Schwarzen.

„Magnesium unterstützt den Fettstoffwechsel“, rief sie ihr zu, bevor sie den Fahrstuhl betrat. Blöde Schnepfe.

Eine Viertelstunde später saß sie vor einer Tasse Kaffee am Schreibtisch von Dr. Scott. Er war vielleicht Mitte vierzig, wahrscheinlich persischer Abstammung. Seine sanften braunen Augen und die zerzausten Locken ließen ihn ein bisschen zerstreut aussehen. Seine Lippen waren weich und voll, die Zähne strahlend weiß. Schlanke Hände, kein Ehering.

„Ihr Vater hat einen Ileus – wir konnten noch nicht feststellen, ob er mechanisch oder funktionell ist. Das werden wir erst nach der Operation wissen.“

„Entschuldigung. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Ein Ileus ist ein Darmverschluss. Das bedeutet, seine Darmpassage ist nicht durchlässig. Anders gesagt: Der Nahrungsbrei wird nicht mehr transportiert.“

„Wieso bekommt er dann kein Abführmittel? Oder einen Einlauf?“

„Weil das nicht helfen würde. Der Darm ist verschlossen, die Mittel kämen gar nicht an ihren Wirkungsort.“

„Und jetzt?“

„Jetzt wird er operiert. Hören Sie, so ein Darmverschluss ist lebensbedrohlich. Wenn er noch später eingeliefert worden wäre, hätten Sie ihn vielleicht nicht lebend wiedergesehen.“

„Das ist ja furchtbar.“

„Die Operation dauert nicht sehr lange, aber anschließend braucht er sicher eine Weile, bis er zu sich kommt. Wie wäre es, wenn Sie nach Hause fahren, und wir rufen Sie an, wenn alles vorbei ist und er wieder aufwacht?“, schlug Dr. Scott vor.

„Ist er immer noch in Lebensgefahr?“

„So ein Eingriff ist immer eine gefährliche Sache. Aber Ihr Vater ist in einer sehr guten körperlichen Verfassung. Ich nehme an, er macht Sport. Ich denke, er wird die Operation gut überstehen. Aber danach müssen wir uns an die Ursachenforschung machen.“

„Ja, er macht Sport. Er ist unglaublich fit für sein Alter.“

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Wie lange wird es dauern?“

„Bis er ansprechbar ist? Sicher mindestens vier Stunden. Wir rufen Sie an.“

„Soll ich meine Mutter anrufen?“

„Das müssen Sie entscheiden.“

Susanne stützte sich mit der linken Hand auf die Lehne, griff nach ihrem Lederbeutel und stand auf. Dr. Scott erhob sich ebenfalls. Er war einen Kopf kleiner als sie. Die Sandaletten! Definitiv die falsche Wahl für heute!

Draußen ging sie einige Blocks zu Fuß, aber dann schmerzten ihre Zehen. Sie machte am nächsten Schuhgeschäft Halt, um die dämlichen Sandalen gegen ein paar bequeme Espandrillos oder etwas Ähnliches zu tauschen. Aber die Qualität der Ware war so schlecht, dass sie sich nicht entschließen konnte, hier zu kaufen. Im nächsten Schuhgeschäft erging es ihr nicht besser, und im übernächsten war es sogar noch schlimmer. Sie hielt ein Taxi am Straßenrand an und dirigierte den Fahrer in Richtung Mission. Hier kannte sie die Boutiquen, und sie wusste auch schon, in welchen Schuhladen sie gehen würde.

„Anthony’s“. Die hatten immer die ultimativen Modelle aus London und Paris. Schrecklich, diese Warterei. Ein Einkaufsbummel würde sie ablenken.

Im Taxi überlegte sie, ob sie vorher nach Hause fahren sollte, um ihre Mutter anzurufen, aber es war sicher sinnvoller, erst einmal abzuwarten. Nachher würde sie genauer über den Zustand ihres Vaters Bescheid wissen und besser Auskunft geben können. Im Moment konnte sowieso niemand etwas ausrichten.

Drei Stunden später schloss sie die Tür zu ihrem Loft auf. Ein Hauch von Orangen und Zitronen wehte ihr aus dem großen sonnendurchfluteten Zimmer mit den bodentiefen Fenstern entgegen. Susanne liebte Düfte, besonders in Räumen. Sie stellte die Tüte von Anthony’s mit den Cowboystiefeln aus Jeans und drei weitere Tüten anderer Boutiquen im Flur neben der weißen Lack-Kommode ab. Der Anrufbeantworter blinkte. Sieben Anrufe.

„Hi, hier ist Tom. Ich bin übermorgen in der Stadt. Ruf mich an.“

„Hallo. Hier ist das St. Lukes Krankenhaus. Ihr Vater ist jetzt aus dem OP raus und wird etwa gegen achtzehn Uhr aufwachen.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Siebzehn Uhr dreißig– ihr blieb noch eine halbe Stunde, um zu duschen und sich umzuziehen.

Sie stoppte den Anrufbeantworter und wählte die Nummer des Krankenhauses. Nachdem sie dreimal durchgestellt wurde, kam eine Schwester an den Apparat, die ihr die beruhigende Nachricht übermittelte, ihrem Vater gehe es den Umständen entsprechend gut.

„Den Umständen entsprechend“ – wie oft hatte man diesen Halbsatz schon im Fernsehen gehört. Man musste die Umstände schon gut kennen, um einschätzen zu können, was das heißen sollte. Und Susanne kannte die Umstände überhaupt nicht, aber sie wollte diese Aussage als ‚positiv’ werten. Im gleichen Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ihr Vater tatsächlich tot sein könnte. Was, wenn er gestorben wäre? Hier, bei ihr, in San Francisco. Wenn sie ihn nie wieder beziehungsweise als Leiche wiedergesehen hätte. Sie hätte ihn identifizieren müssen. Ein unerträglicher Gedanke, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Die anderen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren von Freunden und Bekannten: Carol, die sich ein Abendkleid ausleihen wollte, James, der fragte, ob sie am Wochenende Lust hatte mit ihm, seiner Schwester und deren Freund nach Santa Cruz zu fahren. Sie wollten einen Mietwagen leihen und brauchten noch einen vierten Mitfahrer. Ellen, ihre Assistentin, die ihr einen Termin mit dem Pressechef von Dior gemacht hatte, der nächste Woche in San Francisco Station machen würde, dann noch einmal Carol und zuletzt eine Stimme, die sie nicht gleich erkannte.

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