Von den Göttern verlassen IV

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Serena wurde seit dem Verschwinden ihres Vaters von einem kleinen, runden Mann namens Zorghk, der alleine tief im Wald lebte, in der Kampfkunst unterrichtet. So war Serena stark und wusste sich zu wehren. Als sie sah, wie der Mann auf das am Boden liegende Mädchen mit der Peitsche einschlug, konnte sie nicht an sich halten und eilte zur Rettung des armen Geschöpfs. Der Mann fiel bei dem Handgemenge zu Boden, schlug mit dem Kopf auf einen spitzen Stein und blieb reglos am Boden in seinem eigenen Blut liegen.

Doch Serenas Herz kannte kein Mitleid für ihn. Sie ließ ihn, wo er war, und brachte das schwerverletzte Mädchen zu Zorghk, ihrem Lehrmeister. Als er den Rücken des kaum noch atmenden Mädchens sah, schickte er nach Alara. Nur mit Mühe gelang es Serenas Mutter die Verletzte dem Tode zu entreißen. Die Sklavin würde leben. Doch ihr Herr war tot. In manchen Augen mag das Gerechtigkeit sein, doch nicht vor dem Gesetz, das wusste Zorghk und drängte Serena, mit dem Mädchen noch in derselben Nacht zu fliehen.

Gemeinsam liefen sie Tage und Nächte durch den dunklen Wald, der seit jeher das kleine Dorf umgab, immer in der Angst, verfolgt und gejagt zu werden. Das Mädchen war aus der Rasse des Bergvolkes und lebte seit seiner Geburt bei den Vostoken als Sklavin. Ohne Rechte, ohne Stimme, ohne Namen. Serena taufte sie Aira und versprach, sie zu ihrem Volk zu bringen, wo sie in Freiheit und Frieden leben könnte.

Am fünften Tag erzitterte der Wald vor wildem Geheule. Ein Rudel Wölfe hatte die Spur der Mädchen aufgenommen. Serena nahm die kurzbeinige Aira huckepack und lief so schnell ihre Beine sie trugen. Doch sie hatte keine Chance, den wilden Tieren zu entkommen. Nur mit einem Stock bewaffnet, stellte sich Serena den hungrigen Bestien entgegen. Doch trotz ihrer Kampfausbildung hatte sie keine Chance. Als gerade einer seine scharfen Zähne tief in Serenas Arm vergrub, erschien ein stattlicher, junger Mann und schlug mutig die Biester in die Flucht.

[Lucel fuchtelte mit den Armen und spießte imaginäre Gegner auf. Selena entschlüpfte ein leises Kichern und sie flüsterte seufzend: „Mein Held!“ Lucels Hände gefroren in der Luft und seine Wangen röteten sich leicht, als er sich verlegen räusperte.]

Da Mikhael, ihr Retter, ein Edelmann von Herzen war, konnte er die zwei jungen Damen nicht alleine im Wald herumirren lassen. Er beschloss, sie zu begleiten und mit seinem Leben zu beschützen. Sein Entschluss war nicht nur reiner Natur, denn sein Herz schlug, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, für die schöne Serena. Doch obwohl Mikhael die schönsten Augen der Welt hatte, die meist verschmitzt wie Bernsteine funkelten, blieb Serenas Herz unberührt.

Auf ihrem Weg hielten sie in einem Gasthaus, um sich auszuruhen und für die kommende Reise zu stärken. Dort begegnete ihnen Molly, eine junge, fröhliche Kellnerin, die den ganzen Tag nur lachte und deren Herz in freudiger Erwartung auf kommende Abenteuer pochte und Serena sofort entgegenflog. Molly schloss sich der Gruppe an.

Zu viert reisten sie durch Täler und Wälder, vorbei an Häusern und Feldern. Auf ins unbekannte Land, das vor ihnen noch niemand betreten hatte. In einem Wald mit Bäumen, die so groß waren, dass sie den Himmel berührten, traf die muntere Truppe auf das Waldvolk. Riesige Gestalten mit spitzen Ohren, die sangen, anstatt zu sprechen. Sie durchsuchten die Sachen der erstaunten Gefährten, die auf ihrer Reise zu Freunden geworden waren und fanden bei Aira ein Amulett.

Aufgeregt brachten sie die Gefährten zu ihrem König, der nicht nur singen, sondern auch sprechen konnte. Er erzählte ihnen, dass vor einiger Zeit das Waldvolk und das Bergvolk sich angefreundet und als Zeichen ihrer Verbundenheit gemeinsam das Amulett Zerelf gefertigt hatten. Doch das Amulett war vor über einem Jahrzehnt verloren gegangen. Und eben dieses trug Aira um den Hals. Der König des Waldvolkes bat die Gefährten, Zerelf in seinem Namen zum Bergvolk zu bringen, um die Freundschaftsbande zu erneuern und zu stärken.

In der Hoffnung, dort ein neues Zuhause für Aira zu finden, willigten die Freunde ein. Malhim, der Sohn des Königs, hatte sich wie Mikhael auf den ersten Blick unsterblich in Serena verliebt und bat seinen Vater, die Gruppe auf ihrer Reise begleiten zu dürfen. Schweren Herzens ließ der König seinen einzigen Sohn mit fünf Außerwählten ziehen: den Kriegern Salmon, Aragar, Garif und Mof, sowie dem Magier Haril.

Ausgeruht und gestärkt machten sie sich auf, ihre Aufgabe zu erfüllen. Doch sie wussten nicht, das Morphis, ein böser Zauberer, schon lange nach dem Amulett suchte. Und so fand seine Dienerin die Freunde unvorbereitet. Sie beschwor eine Severenarmee und ergoss einen Pfeilregen über die Gefährten. Haril, der Magier riss seine Hände in die Luft und erschuf mit all seiner Kraft einen Transportzauber. Kurz bevor eine Windkugel sich um die Freunde schloss, erblickte Serena das Gesicht der Angreiferin und erkannte Alara, ihre eigene Mutter.

Harils Wirbelsturm brachte die Reisenden in ein verbotenes Gebiet, den verwunschen Wald, in dem die Magie der Bäume so stark war, dass sie alle anderen Zauber verformten und zerrissen. Magier mieden diesen Ort um jeden Preis. So auch ihre Angreifer. Doch der Pfeilhagel war nicht ohne Spuren über sie hereingebrochen. Viele waren getroffen. Die Glücklichen waren nur leicht verletzt, doch Molly erlag ihrer Wunde noch vor dem Transport.

Voller Schmerz vertrauten die Gefährten ihren Körper dem Wald und seinen Wurzeln an. Vor allem Mof vom Waldvolk hatte an ihrem fröhlichen Wesen Gefallen gefunden und Trauer um das Mädchen aus dem Flachland fand sich in seinem Herzen ein.

Trauer ergriff auch Serenas Herz, denn sie hatte Molly sehr liebgewonnen. Gefangen in ihrem Schmerz, nutzte Oril, der verwirrte Herrscher des verwunschenen Waldes, die Chance, verzauberte die schöne Serena und entführte sie auf sein Schloss. Malhim und Mikhael, deren beide Herzen für Serena schlugen, machten sich sofort auf, um sie zu retten.

[Selena seufzte verträumt. Gleich zwei gutaussehende, strahlende Helden, die eilten, um die holde Maid aus den Klauen des Ungeheuers zu befreien. Und sie musste sich im wirklichen Leben mit dem da zufrieden geben. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Lucels Ohren, die aufgeregt hin- und herzuckten. Wie machte er das nur? Ungewollt glühten ihre Wangen und Selena versteckte ihr Gesicht tief in dem Bärenfell.]

Nur mit Mühen gelang es ihnen, Serena aus den Krallen des verdrehten Geistes zu befreien. Und sie machten sich weiter auf zum Bergvolk. Doch Alara, die Dienerin des bösen Morphis, wartete mit einer Armee am Waldrand. Die Gefährten kämpften tapfer, vor allem Serena mähte einen Feind nach dem anderen nieder und es gelang ihnen trotz ihrer Unterzahl, den Feind zu besiegen. Müde und ausgelaugt erreichten sie das Bergvolk.

Doch die Angriffe ließen den Freunden keine Ruhe und sie beschlossen, ins Schneeland zu reisen, um im Morphium Kloster nach Antworten zu suchen. Und so brach Serena mit Mikhael, Krohl, der den Namen Zorghk abgelegt hatte, Malhim und Mof auf in die nördlichste Region der Welt. Während ihrer Reise begegneten sie Armirus, Mikhaels Ziehvater. Nach langen Gesprächen stellte sich heraus, dass Armirus der Bruder von Serenas Vater war und damit ihr Onkel. Von ihm erfuhr Serena auch, dass Laron, ihr Vater, noch am Leben und seit Jahren zu Unrecht in einem Verlies eingesperrt war.

Gemeinsam machten sie sich auf, ihn zu befreien und nahmen ihn mit in den kalten Norden. Wochenlang durchstreiften sie das Schneeland und fanden erst kurz vor dem Erfrieren das Kloster, das sich einsam von der weißen Schneehölle abhob. Sie gelangten durch eine geheime Tür hinter die dunklen Mauern und liefen Halif, Armirus‘ und Larons verschollenem Halbruder, in die Arme. Gemeinsam mit Nadine war es ihm gelungen, in wenigen Monaten die Kunst der Magie zu meistern. Mit ihrer Hilfe konnten sie nach einem langen Kampf den bösen Zauberer besiegen. Alara jedoch war nicht auffindbar.

Der Prinz des Waldvolkes gestand Serena seine Liebe. Seinen vor Leidenschaft glühenden, grünen Augen mit goldenen Sprenkel gelang es, die Eismauer um Serenas Herz zum Schmelzen zu bringen und sie kehrten gemeinsam in seine Heimat zurück. Kurze Zeit später bekamen sie einen hübschen Jungen, dem sie den Namen Lucel gaben.

[Sanil beobachtete aus dem Augenwinkel Selena und Lucel. Selbst mit ihren sechszehn Sommern, die sie jetzt zählten, lagen sie auf dem Fell und hörten gebannt ihrer Mutter zu. Er wusste, dass diese Tage bald vorbei sein würden und genoss jeden Abend, den sich die Jungspunde noch zähmen ließen.]

Sie lebten glücklich, besuchten oft ihre Freunde sowohl im Bergland als auch im Flachland. Es hätte ein Happy End werden können, doch plötzlich erkrankte Serena. Keiner wusste sich zu helfen, kein Heilmittel war bekannt, über die Krankheit an sich wusste man nichts. Voller Trauer bat Malhim das Bergvolk um Rat und man beschloss gemeinsam, Serena in einen Schlaf zu versetzen und ihren Körper tief im Gebirge aufzubewahren. Bis zu dem Tag, an dem man ein Heilmittel finden würde.

Sie würde keine Schmerzen leiden und die Krankheit würde ihr gemeines Werk in dem Raum ohne Zeit nicht vollenden können. Und wenn noch keiner ein Heilmittel für ihre Krankheit gefunden hat, liegt sie vielleicht heute noch dort und wartet, eingehüllt in Träume von Abenteuer, Liebe und Freundschaft, darauf, dass jemand sie retten kommt.

 

Selena war wie immer mit dem Ende, das keines war, unzufrieden und konnte nicht umhin, ihre traditionelle Frage zu stellen: „Wie geht die Geschichte weiter?“

Wie immer füllten sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen und es tat Selena leid, dass sie gefragt hatte.

Laura lächelte, sah voller Liebe von ihrer Tochter zu Lucel. So sehr sie sich wünschte, dass Lucel ihr leiblicher Sohn wäre, war sie doch froh für Selena, dass sie nicht blutsverwandt waren.

„Ich kenne die Geschichte nur bis hierhin. Den Fortlauf zu erzählen ist eine Sache der nächsten Generation. Vielleicht erzählst du ihn ja eines Tages deinen Kindern.“ Laura blickte wieder zu Lucel, der immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Die langen Holznadeln in ihren Händen bewegten sich rhythmisch im geübten Takt. Ihre Augen verloren sich im Feuer und sie sah ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken und blauen Augen, wie sie Lucel hatte. Es war nicht traurig und doch lachte es nicht.

Eine Träne, die sich kurz in ihren Wimpern verfing, kullerte über die Nase und tropfe auf den grünen Wollknäuel. Als sie aufblickte, starrten sie blaue Augen, die sie so gut kannte und so sehr liebte, voller Sorge an. Laura konnte nicht anders und sie schenkte Lucel ein strahlendes Lächeln.

Ihr entging Selenas Schnauben nicht und sie spürte sofort Sanils Hand auf ihrer. Die Luft vibrierte von den gemischten Gefühlen. Liebe und Eifersucht. Dann rettete sie ein Klopfen aus der peinlichen Lage. Laura legte das Strickzeug auf den kleinen Holztisch neben ihrem Schaukelstuhl, den Sanil ihr zu irgendeinem Geburtstag geschenkt hatte. Er war ein praktischer Mann und hatte nur wenig Ahnung von Romantik.

Doch er war ein guter Mann. Er hatte kein Wort darüber verloren, als Laura mit dem kleinen Lucel im Arm nachhause gekommen war und hatte die fadenscheinige Geschichte, Lucel sei der Sohn einer entfernten Cousine, die bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nicht in Frage gestellt. Sanil hatte Lucel wie seinen eigenen Sohn großgezogen, soweit es ihm möglich war. Laura wusste, dass Lucel ihm unheimlich und seine Anhänglichkeit gegenüber Laura unangenehm war. Doch Sanil gab sein Bestes, vergötterte Selena und tat alles für die Familie.

In Gedanken versunken, öffnete Laura die Tür und blickte in Augen, von denen sie nicht gedachte hatte, sie je wiederzusehen. Von einem Grün, etwas dunkler als ihre eigenen, starrten sie Laura aus einem haselnussfarbenem Gesicht entgegen. Augen, die sonst voller Güte, Freude und Fröhlichkeit waren, wirkten hart und bitter.

Lauras Herz hüpfte ihr in den Hals und ihre Knie wurden schwach. „Ist etwas mit Serena?“ Lauras Stimme zitterte.

Die Frau schüttelte den Kopf, presste aber die vollen Lippen aufeinander, bis alles Blut aus ihnen gewichen war und sie weiß wie Marmor wurden.

„Ich komme wegen Lucel.“ Leise entschlüpften die Worte dem widerwilligen Mund.

Laura sank zu Boden, presste ihre geballten Fäuste an ihre Burst und sagte mit tränenden Augen: „Er ist zu jung. Was auch immer ihr plant. Er ist zu jung.“

„Die anderen wissen nicht, dass ich hier bin.“

Bei den leisen Worten des schlechten Gewissens, sah Laura erleichtert auf.

„Krieg droht. Dunkle Mächte haben sich in Schatten und Licht versammelt. Sie sind kurz davor, wieder die Welt zu betreten ... “

„Liebling, alles in Ordnung? Wer war denn das so spät noch an der Tür?“, unterbrach Sanil die schwarze Botschaft. Laura rappelte sich auf, strich ihr Kleid mit zitternden Händen und bleichem Gesicht glatt.

„Eine Freundin der Familie. Sie war in der Gegend und hat an mich gedacht.“

Die schweren Schritte ihres Mannes hallten auf dem Holzboden. Er warf einen besorgten Blick zu seiner Frau und musterte den Ankömmling.

Der unangekündigte Gast strich die Kapuze ab. Braune, lange Locken sprangen ungezähmt über die Schultern. Sie lächelte den Hausherrn an und sagte entschuldigend: „Es ist eine ungeplante Reise und ich hatte leider nicht die Zeit meinen Besuch anzukündigen. Ich wäre so oder so vor meinem Brief angekommen und ich musste unbedingt Lucel sehen.“

„Das macht doch nichts. Lucel wird sich sicher freuen, Frau ... ?“ Fragend sah Sanil die Schönheit an.

„Nadine, einfach nur Nadine. Ich glaube nicht, dass er sich an mich erinnert, doch ich habe ihn nie vergessen.“ Ihre zarten Hände schlossen sich um einen rosafarbenen Kristall, der an einer Kette um ihren Hals hing.

„Kommen Sie doch herein! Wir sitzen gerade alle beim Kamin und lauschen den Geschichten meiner Frau. Haben Sie zu Abend gegessen? Können wir Ihnen etwas anbieten?“ Mit einer galanten Bewegung und einer Rücksichtnahme, die Laura an ihrem Mann nicht kannte, zeigte er Nadine den Weg ins Wohnzimmer.

„Ich bin heute weit geritten. Ein kleines Mahl würde ich nicht ablehnen“, erwiderte Nadine höflich, strich sich die dunkelgrünen Reiterhandschuhe von den Händen und streckte Sanil die Hand hin.

„Wo habe ich nur meinen Kopf! Ich mache gleich etwas Tee und ein paar belegte Brote“, stotterte Laura und eilte in die Küche, während Sanil Nadine den Umhang abnahm. Zum Vorschein kam eine seltsame, waldfarbene Tunika und Stiefel, zu kurz, um nützlich zu sein. Sanil führte Nadine ins Wohnzimmer, wo sie neugierig von Selena gemustert wurde.

Eine Frau in Hosen war in Krem eine Seltenheit, vor allem in so engen. Selena bewunderte die schöne Figur, die lockigen Haare, die nussbraune Haut und Augen, grün wie eine saftige Sommerwiese. Ihr Herz sprang der Fremden entgegen, die sie freundlich anlächelte.

Dann fuhr der Blick der Frau zu Lucel und Schmerz trat in die schönen Augen.

Selenas Herz zog sich zusammen und eine dunkle Vorahnung ergriff von ihr Besitz. Angst erfüllte ihren Geist. Angst, dass diese Frau ihr Lucel wegnehmen würde. Selena schalt sich, versuchte über ihre Dummheit zu lachen, doch Wut staute sich auf, die sich nur schwer herunterschlucken ließ. Sie stellte sich dicht neben Lucel, der bei dem Eintritt der Fremden aufgestanden war, und griff nach seiner Hand.

Sie war kalt.

Lange starrten sich Lucel und Nadine an, ohne etwas zu sagen. Bis Sanil die Stille brach: „Nadine ist gekommen, um dich zu sehen, Lucel. Erinnerst du dich an sie?“

Als Laura eines Abends mit dem kleinen Jungen auf dem Arm angekommen war, hatte sie gesagt, Lucel habe miterlebt, wie seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen seien, und könne sich aufgrund des Schocks an nichts aus seiner Vergangenheit erinnern. Apathisch war er die ersten Monate herumgelegen, hatte nicht gesprochen, nichts und niemanden wahrgenommen.

Nach langen Kämpfen um seine Aufmerksamkeit war Selena es endlich gelungen, ihn aus seinem Kokon zu locken und sie würde ihren Lucel nicht einfach einer fremden Frau überlassen. Mit erhobenem Kinn funkelte sie die fremde Schönheit an.

Lucel schüttelte mit gerunzelter Stirn langsam den Kopf, als müsse er sich selbst davon überzeugen, dass er die Frau nicht kannte.

Selenas Fingernägel gruben sich tief in seine Haut, doch er spürte den Schmerz nicht, tastete nach dem Kokon, in den er sich noch nie so sehr hatte zurückziehen wollen, wie jetzt. Doch der Blick der Frau hielt ihn gefangen. Etwas an ihr rief ihn, lockte ihn.

Dann fingen seine Augen das Leuchten des rosafarbenen Anhängers ein. Ein nie gekanntes Feuer erfasste seine Seele, die Spitzen seiner Ohren schmerzten, als würde sie jemand langziehen und gleichzeitig zusammenpressen. Das Blut rauschte immer schneller durch seinen Gehörgang. Ein unbändiges Verlangen nach dem Stein ergriff ihn.

Kalter Hass und heiße Wut.

Man hatte ihm etwas Wichtiges genommen.

Nadine sog scharf die Luft ein. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass Lucels Augen sich schwarzsilber gefärbt hatten. Eine Hand um das linke Ohr gekrallt, streckte sich die rechte zitternd nach Nadine aus.

Lucels Gesicht war verzerrt vor Schmerz.

Nadine eilte zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Nacken und presste sich fest an ihn.

„Es tut mir so leid, Lucel. So furchtbar leid.“ Sachte strich sie ihm über die schwarze Lockenpracht.

Lucel hielt still.

Der Schmerz verschwand.

„Ich werde sie dir wiedergeben. Es ist Zeit, dass du dich erinnerst. Wir hätten sie dir nie nehmen dürfen.“ Die Worte waren so leise gehaucht, dass Lucel sie kaum hörte. Er legte die Arme um die Frau, die er vor einigen Sekunden noch geglaubt hatte zu hassen, und drückte sie fest an sich. Er spürte eine Wärme an seiner Brust, die ihn beruhigte und doch aufwühlte.

„Ähem!“, räusperte sich Selena laut und ungeduldig, die gezwungenermaßen Lucels Arm hatte frei geben müssen.

Lucel ließ die Frau aus seiner Umarmung und sie trat verlegen zurück. Dann kam Laura mit einem Tablett und alle setzten sich an den Tisch. Nadine nahm die dampfende Tasse Tee, roch daran und nahm genüsslich einen Schluck.

„Pfefferminz aus Selenas Garten. Dieses Jahr ist das Aroma besonders gut“, sagte Laura, rieb sich über die Oberarme und wusste nicht, wohin sie ihren Blick richten sollte.

„Man schmeckt die Liebe und den Gesang“, erwiderte Nadine mit geschlossenen Augen und einem leisen Lächeln auf den Lippen.

Selenas Ohren wurden rot. Woher wusste die Frau, dass sie ihrem Kräutergarten jeden Abend etwas vorsang? Nur leise, sodass es niemand mitbekam. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von Lucel?“, giftete Selena sie an, um die Verlegenheit abzuschütteln. Sie mochte den Blick nicht, mit dem Lucel die Frau betrachtete. Nur selten bezeugte er so viel Interesse an irgendetwas oder irgendjemandem.

„Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen! Ich heiße Nadine.“ Das Lächeln war verschwunden, die Tasse in ihrer Hand zitterte leicht, als sich ihre Augen in Lucels bohrten, der ihren Blick ausdruckslos erwiderte.

„Nadine? Wie die Zauberin in Mamas Gutenachtgeschichte!“, rief Selena verwundert und alle negativen Gefühle verschwanden. Ein aufgeregtes Glitzern ließ ihre Augen glühen.

Nadine sah verwirrt zuerst zu Selena dann zu Laura, die ihren Blick mit geröteten Wangen, jedoch mit Trotz und Kampfeswillen erwiderte. Sie würde sich nicht dafür entschuldigen und sie bereute es nicht, sagten ihre Augen, während sich ihre Finger in dem Stoff ihres Rockes wühlten.

„Ich würde diese Geschichte nur zu gerne einmal hören“, erwiderte Nadine mit hochgezogener Augenbraue.

„Mama erzählte sie jeden Abend, immer etwas anders, aber immer mit den gleichen Figuren. Nadine hat in der Geschichte auch grüne Augen und braune Locken, wie Ihr. Sie hilft, den bösen Zauberer Morphis zu besiegen. Könnt Ihr zaubern?“, fragte Selena aufgeregt. Sie mochte die Vorstellung von Magie, wenn sie auch davon nur in den Märchen ihrer Mutter gehört hatte.

Nadine verschluckte sich an dem Tee und hustete laut, während sie sich auf die Brust klopfte. Mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend saß sie da, als sich ihr Rücken plötzlich durchdrückte und sie wild über die Schultern blickte. Ihre Stirn legte sich in Falten und der kalte Ausdruck in ihren Augen kehrte zurück.

„Ich habe nicht mehr viel Zeit. Er wird mein Verschwinden entdecken, wenn ich länger bleibe.“ Sie sprang auf, nahm ihre Kette vom Hals, legte sie in Lucels Hand und schloss kräftig seine Finger um den Kristall.

Lucel versteifte sich.

„Sie gehören dir. Wir hätten sie dir nie nehmen dürfen. Es gibt noch zehn weitere.“ Nadine holte eine alte, zerknittere Papierrolle aus ihrer Tunika und drückte sie Lucel in die andere Hand.

„Von denen ich erahne, wo sie sich befinden, habe ich farbige Markierungen auf dieser Karte gemacht. Halte dich von Lila und Gelb so lange fern, wie du kannst! Aber du musst sie alle finden und egal was passiert, suche den Schwarzsilbernen erst auf, wenn du alle anderen hast und dein Herz stark ist. Finde Türkis und Rot zuerst! Sie sind verbittert, haben sich jedoch ihr liebendes Herz bewahrt. Traue weder der Erde noch der Sonne!“

Nadine stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste sanft und traurig Lucels Wange und flüstere ihm Abschiedsworte ins Ohr: „Vergiss nie, Menschen begehen die schlimmsten Taten aus Angst, nicht Hass. Verzeih uns, wenn du kannst.“ Dann packte sie das belegte Brot, stürmte zur Tür, nahm ihren Mantel und war in der Dunkelheit verschwunden. Kurz, in dem Augenblick eines Wimpernschlages, wurde sie von kleinen Lichtern umschwärmt. Dann war da nur noch die Dunkelheit der Nacht.

Sprachlos stand die kleine Familie um den Esstisch. Sie alle spürten, dass ihr ruhiges Beisammensein vor ihnen in Scherben lag. Laura brach weinend über dem Tisch zusammen und Selena schrie auf, als Lucel, den Stein und die Karte umklammernd, zu Boden sank.

 

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Er saß weinend im Wald. Er hatte jemandem wehgetan, hatte sein Versprechen gebrochen. Würde sie ihn noch lieben? Oder würde sie ihn mit Angst in den Augen ansehen? Die Bäume standen dicht gedrängt aneinander. Ihre Kronen waren so hoch, dass sie den Himmel berührten, Sterne und Mond bedeckten. Alles war schwarz. Die Rinde des alten Baumes, der seit Urzeiten auf dieser Welt am selben Fleck weilte, drückte gegen seinen Rücken.

Dann hörte er Schritte, fuhr zusammen. Furcht stieg in ihm auf und mit ihr etwas, das er nicht freilassen durfte. Dann sah er sie. Kleine Sterne fielen aus den Kronen der Bäume, umringten ihn, lachten ihn an, küssten seine Tränen weg. Und mit ihnen kam sie. Wunderschön, in ein Meer aus Licht getaucht, von Sternenstaub bedeckt. Die Stellaryphal, vom Volk der Sternenkinder, hatten Nadine, ihre Mutter und Schöpferin zu ihm geführt.

Er fühlte sich sicher bei ihr. In ihr pulsierte die Reinheit. Sie kniete sich vor ihm hin, strich ihm über den Kopf und nahm ihn in den Arm. Der Schmerz verflog, das Drängen ließ nach. Er war wieder im Gleichgewicht, obwohl er diese Reinheit nicht verdient hatte.

Der kleine Junge schluchzte und erzählte ihr, was er getan hatte. Sein Mund bewegte sich, doch Lucel hörte die eigenen Worte nicht, wusste nicht, was er getan hatte. Ängstlich, in ihren Augen Abneigung, Vorwurf oder gar Furcht zu sehen, blickte er zu ihr auf. Doch sie lächelte, stricht ihm übers Haar und sagte: „Tut es dir leid?“

Nachdrücklich nickte er.

Dann musst du dich entschuldigen. Hoffen und warten, dass man dir eines Tages vergibt. Es kann dauern. Wenn aber die Reue in deinem Herzen bleibt, wird Vergebung in den Herzen der anderen erblühen. Bei manchen schneller, bei anderen langsamer“, erwiderte Nadine und küsste seine Tränen weg.

Vergebung?“, fragte er verwirrt.

Nichts kann so schlimm sein, dass es nicht irgendwann vergeben werden kann. Manchmal muss man darum kämpfen, Wiedergutmachungen leisten. Aber wenn man auf dem Pfad der Reue und der Wiedergutmachung bleibt, wird einem verziehen. Wir können uns unsere Fehler schwer selbst verzeihen und sind meist auf die Vergebung anderer angewiesen.“

Sie hob ihn hoch und trug ihn zurück ...

Aber wohin zurück? Was hatte ihn so aufgewühlt?

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Als Lucel erwachte, lag er auf dem Boden, die besorgten Gesichter von Selena, Mutter und Vater über sich.

„Lucel?“, fragte Selena ängstlich.

„Mir geht es gut. Es ist nichts“, erwiderte er und richtete sich auf.

„Du weinst ... “ Wer diese Worte aussprach, wusste er nicht. War es Laura? War es Selena? Seine Hand fuhr zu seinen Wangen. Sie waren nass.

„Lucel!“, rief Laura heulend und fiel ihn an, warf ihn wieder zu Boden, lag auf seiner Brust und schluchzte.

Selena beobachtete die Szene mit schmerzender Brust und ihr ekelte es vor sich selbst. Wie konnte sie nur auf ihre Mutter eifersüchtig sein? Sanil nahm seine Tochter an der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Lucel hatte in den neun Jahren, die er bei ihnen war, nicht einmal geweint. Was war nur passiert? Der Stein in seiner Hand hatte geleuchtet, Lucel für einen Augenblick umhüllt, dann war das Licht in ihm verschwunden.

Laura riss sich von Lucel los, setzte sich auf und half ihm beim Aufstehen.

„Woran erinnerst du dich?“, fragte sie. Scham lag in ihrem Blick, aber auch Freude.

„Ich erinnere mich an Nadine. Ich habe sie als Kind gekannt. Es sind nur Bruchstücke, aber ich kenne Nadine.“ Verwirrt starrte Lucel auf den Stein, der farblos in seiner Hand lag. Es fühlte sich an, als hätte er ein Stück von sich wiedergefunden.

„Noch etwas?“, fragte Laura drängend.

„Einzelne Bilder aus meiner Kindheit. ... ich habe eine Kindheit!“, Freude und Schmerz wühlten seine Brust auf, „riesige Bäume, die so hoch sind, dass sie den Himmel erreichen. Die Sternenkinder sind von ihren Kronen herabgestiegen, um mit mir zu spielen.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, stieg Zweifel an seinem Verstand in Lucel auf.

Traurig strich Laura ihm eine Locke aus dem schönen Gesicht und sagte leise: „Egal, was vor dir liegt. Egal, was du von deiner Vergangenheit erfahren wirst, wisse, dass ich dich immer wie mein eigen Fleisch und Blut lieben werde.“

Lucel blickte in die Augen, die ihn, seit er sich erinnern konnte, nur mit Liebe angesehen hatten und sein Herz quoll über. Gefühle stürmten auf ihn ein. Er nahm Laura in den Arm und drückte sie fest an sich. Und sein Herz verstand, was Liebe war.

So lagen sie sich in den Armen, bis Laura sich seufzend mit den Worten von ihm löste: „Ich werde dann wohl anfangen, Reisevorbereitungen zu treffen. Du willst sicher bald los.“

„Ich will nicht weg“, rief Lucel aufgebracht.

„Vielleicht nicht jetzt, aber bald. Nadine hat zur Eile angetrieben. Es ist besser, wenn du mit der Suche so schnell wie möglich beginnst“, erwiderte Laura, ihm den Rücken zugedreht. Sie verschwand in der Küche, hantierte ungeschickt in der Vorratskammer, suchte Reisebeutel und leichtes Kochgeschirr.

Nadines Worte hallten in ihrem Geist.

Meide Lila und Gelb.

Wer hatte den lila und wer den gelben Stein? Sollte Lucel sie meiden wegen den Erinnerungen, die sie beherbergten, oder wegen den Trägern? Wer jagte Nadine, die gütigste und sanfteste Seele, die Laura je kennengelernt hatte? Statt Fröhlichkeit und kindlicher Naivität war Härte in Nadines Augen gewesen. Was war passiert?

Laura stieß einen Berg Töpfe um, als sie Schritte hinter sich hörte. Erschrocken drehte sie sich um.

„Ich werde mit ihm gehen.“ Selenas Gesicht verriet nur Entschlossenheit und den Willen zum Kampf. Herausfordernd sah sie ihre Mutter an.

Laura seufzte tief. Sie hatte nicht vorgehabt, ihre Tochter aufzuhalten und selbst wenn, wäre es ihr nicht gelungen. Den Dickkopf ihres Engels kannte Laura nur zu gut, auch wenn Selena ihr aufbrausendes Gemüt immer zu verstecken suchte, waren diese Charaktereigenschaften Teil ihres wunderbaren Wesens.

„Ich wusste, dass du mitgehen würdest. Aufhalten werde ich dich nicht und um Vater kümmere ich mich auch. Er wird nicht begeistert sein, dass du gehst. Dass ihr geht.“ Laura drehte ihrer Tochter wieder den Rücken zu.

Selena war bei den Worten ihrer Mutter sprachlos. Sie hatte fest mit einem Kampf gerechnet und die Energie, die sie in Erwartung eines Wortgefechtes aufgebaut hatte, verpuffte in der Luft.

„Das Märchen, das du immer erzählst, ist kein Märchen. Nadine ist echt.“ Selena hatte immer den Wunsch gehegt, Teil des Märchens zu sein, das sie seit der ersten Erzählung so sehr liebgewonnen hatte.

Laura hielt in ihrer Bewegung inne und sagte leise: „Was davon wahr ist und was nicht, werdet ihr auf eurer Reise noch früh genug erfahren. Ich ... “ Die Selbstbeherrschung verließ Laura, sie ließ alles fallen und umarmte ihre Tochter stürmisch.

„Egal, was passiert, kommt gesund wieder zu mir zurück! Ich liebe euch, vergesst das nie!“

Dann packten die zwei Frauen zwei Bündel. Alles, was man für die Reise brauchen könnte, war doppelt und dreifach vorhanden. Als hätte sich jemand auf diesen Tag lange vorbereitet.


Lucel besah sich Selenas roten Kopf, der über der Karte hing. Das Pergament war alt, hatte hier und da Risse und viele handschriftliche Nachträge. Vermutlich von verschiedenen Personen. Einige Städtenamen waren schön geschwungen geschrieben, andere klobig und kaum leserlich. Hätte Lucel es nicht besser gewusst, hätte er den Klecks, der Krem darstellen sollte, als Fettfleck interpretiert. Die Buchstaben waren unbeständig und unregelmäßig, als hätte ein Kind, das gerade das Schreiben gelernt hatte, die Buchstaben K R E M hinzugefügt, um den Fettfleck wie einen Eintrag aussehen zu lassen.