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Verträumt 4

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Aus der Reihe: Verträumt #4
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Sie denkt nicht weiter darüber nach und lässt den Vermisstenbrief mit dem starken Wind weiterziehen. Daraufhin begibt sie sich nun eine Etage höher und steht mitten in einer leergefegten Gasse.

Am Straßenrand befinden sich mehrere beschädigte Kutschen, während in dieser sternenklaren Nacht unzählige Laternen vor den Backsteinhäusern die Sicht verbessern. Doch so menschenleer scheint dieser Ort nicht zu sein, denn es ertönt lautes Gelächter aus einer Taverne neben ihr. Pocahs Herz schlägt bei diesem Anblick Purzelbäume.

»Die Luft ist rein. Schnell, beeilt euch, hicks«, hetzt sie ungeduldig und sprintet, ohne auf die anderen zu warten, in die Gaststätte.

Froggy folgt ihr zugleich, während Veronika von ihrer Fee, unter freiem Himmel, aufgehalten wird. Durch ein offenes Fenster ist die Begeisterung für die neu dazugewonnenen Gäste nicht zu überhören, weshalb zur Begrüßung typisch irische Instrumente gespielt werden. Lautstark schallen die Klänge dieser geselligen Musikrichtung die Gasse hinunter und lassen pure Freude hochkommen. Veronika hingegen verschränkt auf dem Bürgersteig stehend lustlos ihre Arme und horcht Verbena zu.

»Das ist nicht unser Begehren, Veronika. Ihr vergesst, weshalb Ihr hier seid.«

»Ich glaube, jeder andere auch, meine Liebe. Wie willst du mich nun vergebens zum Weinen bringen?«

»Ich war mir gewiss, Euch mit dem schlimmsten Verlust jener Zeit von der Infektion zu erlösen. Aber da lag ich wohl sehr falsch. Zu lange scheint diese Erinnerung vergangen. Kommt, wir reisen in das Herz Eurer Träume«, nimmt sich die Fee vor und schwingt daraufhin ihren Zauberstab.

Beide verschwinden durch eine farbenprächtige Nebelwolke. Wiederzufinden sind Veronika und Verbena in Mitte eines schnuckeligen, düsteren Ladens. Dort werden sie von unzähligen, von der Decke herunterhängenden, Traumfängern umzingelt. Hierbei ähnelt keiner dem anderen. Gelangweilt schaut Veronika aus den zwei großen Schaufenstern in eine mystische Sphäre, während sich ihre Fee hochkonzentriert jeden einzelnen, sorgenvollen Moment in den Traumfängern ansieht. Dabei bleibt sie an drei nebeneinander hängenden Traumfängern haften.

»Sind wir hier denn endlich irgendwann fertig?«, fragt Veronika teilnahmslos, bevor sie von Verbena herzlich hergerufen wird.

Sachte entzieht die gute Fee mit ihrem Zauberstab die Magie aus diesen drei Traumfängern, um danach rasch einen antiken Standspiegel vor sich und Veronika erscheinen zu lassen.

»Ich suchte etwas Schmerzliches hier im Herzen und bin nun auf etwas aus jüngster Zeit gestoßen. Ich hoffe Euch hiermit zu besänftigen.«

»Nun zeig schon her, meine Liebe. Schauen wir mal, wie sehr es mich erschüttert«, amüsiert sich Veronika offenkundig und nimmt im Standspiegel die folgende Situation in Augenschein.

»Nun gut, seht her.«

Voller Hoffnung projiziert Verbena ein Stück Realität in den Spiegel, in dem Veronikas Stieftochter Clara zu sehen ist. Die kleine 13-Jährige tanzt in ihrem Kinderzimmer, begleitet von ohrenbetäubender Musik, vor einem anderen Spiegel und wünscht sich dabei ein Star zu sein.

»Das ist erst ein paar Tage alt und was willst du mir damit sagen? Soll ich vor Rührung anfangen loszuheulen und ihr die Zukunft als Star ebnen?«

»Das ist Eurer Illusion entsprungen, Veronika. Der Wahrheit entsprach es allerdings nicht.«

Die Wahrnehmung im Spiegel verändert sich, woraufhin Clara zu sehen ist, wie sie laut Musik hörend auf ihrem Computer ein Online-Referat verfasst. Willensstark und voller Enthusiasmus ist in den Augen des Teenagers bereits eine gute Note zu erkennen, bis plötzlich der Strom ausfällt und nichts mehr von ihrer getanen Arbeit vorhanden ist.

»Upsi. Ist das jetzt wirklich die Wahrheit, meine Liebe?«

»Ja es entspricht der Wahrheit. Claras ganze Arbeit, verloren wegen Eures Trugschlusses, sie tanze nur unsinnig vor dem Spiegel«, verdeutlicht Verbena rigoros und konfrontiert Veronika mit einer neuen Situation.

»Seht her. In Tränen versunken schreibt das kleine Fräulein seine Gedanken in einem Tagebuch nieder, die sie nicht wagt auszusprechen. Und dieses Tagebuch, das sie einst stets versteckt hielt, platzierte sie an diesem Tage offenkundig für jeden sichtbar auf dem Bett. Wohl mit der Zuversicht, dass es gefunden und gelesen wird. Scheint es nicht ein verzweifelter Versuch, Gehör zu erhalten?«

»Clara will mich als Mutter nicht und ich sie nicht als Tochter. Sie hasst mich.«

»Mit Verlaub. Entspricht es denn aber der Wahrheit? Sie ist ein kleines Mädchen und weiß selbst nicht wohin des Weges. Es bedarf nur eine ausgestreckte Hand, an der sie sich festhalten könne.«

Veronikas Interesse wird nun doch geweckt und sie beginnt das Ganze aufmerksamer zu verfolgen.

»Wie steht es hiermit, Veronika? Kann diese Handlung denn richtig sein?«

Nach diesem Satz wechselt Verbena das Bild in dem Spiegel erneut, woraufhin Veronika sieht, wie ihr Lebensgefährte Brandon seiner Tochter Busfahrkarten im Kinderzimmer in die Hand drückt.

»Hä? Was soll ich damit?«, ertönt es durch den Spiegel aus Claras Munde. Ihr entsetztes Gesicht ist dabei kaum zu übersehen.

»Das sind Stempelkarten für den Schulbus.«

»Really? Dein Ernst, Papa?«

»Ja, mein Schatz, wir müssen jetzt ein bisschen taktischer vorgehen und Veronika mehr Luft zum Atmen lassen, bis sie sich wieder beruhigt hat.«

Verblüfft blickt Veronika in Claras geschockte Augen, die sich im Spiegel zeigen.

»Das habe ich von Brandon nicht verlangt.«

»Sein Tun brach der Kleinen wohl völlig das Herz und ließ sie aus der Bahn gleiten«, erläutert Verbena, während sie neue Magie aus einem weiteren Traumfänger entzieht und diesen Moment im Standspiegel abspielen lässt. Diesmal ist eine weitere Situation im Kinderzimmer zu sehen, in der Brandon seiner Tochter kabellose Kopfhörer in die Hände drückt.

»Veronika hat heute Morgen wichtige Telefonate geführt und dir zigmal gesagt, dass du die Musik leiser machen sollst beim Tanzen. Aber ich denke, hiermit ist das Problem gelöst.«

Widerwillig nimmt Clara die Lösung an und schüttelt dabei zornig ihren Kopf.

»Alles okay, Clara mein Schatz?«

»Ja, alles okay. Damit ist wohl mein Problem gelöst.«

»Schön, falls du noch Hunger hast, ich habe Sucuk im Kühlschrank für dich aufgehoben.«

»Was ein Taugenichts. Hauptsache der Vollidiot hat das Sucuk im Kühlschrank erwähnt«, macht sich Veronika über ihren Lebensgefährten lustig.

Verbena hält den Moment im Spiegel daraufhin an.

»Keine Tränen? Kein Mitleid? Kein Mitgefühl?«

Doch Veronika schüttelt einfach nur mit dem Kopf.

»Meine Liebe, Clara hin oder her. Glaube mir, ich habe bereits von Anfang an verstanden, weshalb du mir Tränen entlocken wolltest. Aber ich wusste von Anfang an auch, dass es dir eben nicht gelingen wird. Egal mit welchen Situationen. Gib mir bitte deinen Zauberstab. Denn jetzt würde ich dir gerne mal einen kurzen, intimen Ausschnitt zeigen, weshalb deine Absicht, mich von dieser Infektion befreien zu können, von vornherein aussichtslos war.

Also nun, meine Liebe, schau in den Spiegel und erhalte meine Antwort darauf.«

9
Vernebelt

Zu sehen ist im Spiegel der einst vergangene Schein des Mondes, der die menschenleere Küche des ehemaligen Hauses der Familie Stein durchflutet. Durch die offenstehende Innenhoftür weht ein warmer Sommerwind hinein und blättert mehrere Seiten von Veronikas Klatschzeitschrift umher. Herrlich surreal werfen die Skulpturen im Hofe ihre Schatten voraus, während von dort, durch die bodentiefen Fenster eine blonde Veronika im Kinderzimmer zu erkennen ist. Sie wünscht ihren Zwillingen eine erholsame gute Nacht und fährt die elektronischen Rollläden hinunter.

Im direkt danebenliegenden Elternreich darf Veronikas Mann auf dem Bett begutachtet werden, wie er sich, nur in einer Buxe gekleidet, nach seiner Frau sehnt. Diese öffnet in einem verführerischen Negligé die Schlafzimmertür und löst zugleich ihre Frisur mit einem Strahlen im Gesicht.

»Median und Fabian sind nun im Bett, mein Schatz.«

»Sehr gut. Gut schaust aus. Ich lieb dein offenes Haar.«

Für dieses Kompliment erhält er einen liebevollen Luftkuss und schaut zu, wie seine Frau den Blick zum Innenhof versperrt, indem sie die schön verzierten Vorhänge zuzieht. Danach erhellen nur noch zahlreiche Kerzen das romantische Liebesnest.

»Aber Schatz, du hast heute Nacht wieder schlecht geträumt, nicht wahr? Dein Bett war ganz nass geschwitzt«, sorgt sich Veronika um ihren Mann und kuschelt sich kokett an ihn.

»Dass du diesen Albtraum im Restaurant einfach vergessen kannst. Ich fands schrecklich«, gesteht Veronikas Mann glaubhaft.

»Klar war es das, aber wir haben uns ja noch. Das macht die Situation doch einfacher.«

»Trotzdem lässt mich der Gedanke einfach ned los, dass wir uns in diesem Moment auch hätten verliern könne, weshalb ich unglaublich dankbar bin, dass wir nix Weiteres außer Geld und Schmuck entbehren mussten. Ich glaub, ich werd mir wohl Hilfe suchen müssen. Irgendwie muss es ja weitergehn.«

»Ich begleite dich gerne zur Therapie, falls du das willst.«

»Was würde ich nur ohne dich mache, kämst du damit klar?«

»Frage mich doch so etwas nicht. Ohne dich, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich könnte niemanden mehr so lieben wie dich. Ich glaube, ich würde auch keinem anderen Partner mehr so gutes Essen kochen, wie dir. Ich würde mein Haar beim Sex nicht mehr offen tragen und keinen Mann mehr Schatz nennen«, lockert Veronika das tiefgründige Gespräch ein wenig auf.

 

»Das ist ja ulkig. Aber des meinst doch ned Ernst?«

»Aber klar doch«, belächelt Veronika diese Gegebenheit und verliert sich für einen kurzen Moment in den leuchtenden Augen ihres Mannes.

»Liebes«, beginnt er melancholisch seine Gefühle in Worte zu fassen.

Dabei erkennt Veronika, dass diesmal nicht ihre Gedanken von der Dunkelheit überschattet werden, sondern die ihres Mannes.

»Wenn ich irgendwann einmal vor dir sterb, aus welchem Grund auch immer, dann möcht ich, dass du weinst. Trauere ruhig um mich und ärger dich, dass ich dich allein gelassen hab. Doch es wird der Tag kommen, an dem du dich von der Trauer lösen musst. Und von da an möchte ich, dass du nie wieder eine Träne vergießt. Sei für unsere Kinder da und nimm an deinem weiteren Leben voller Freude teil.«

»Och mein Schatz, hör auf mit dem Unsinn und küss mich lieber.«

Angekommen in der Gegenwart erlischt die Erinnerung nun im Spiegel. Darin zu erkennen ist nur noch, wie Veronika ihrer guten Fee den Zauberstab zurückgibt.

»Das ist der Grund, wieso ich nicht mehr weinen kann. Meine letzte Träne galt ihm und keinem anderen. Viel zu viel habe ich geflennt und dennoch kann ich meinen Mann nicht loslassen. Zu sehr fehlt er mir, immer noch.«

»Wie rührend. Liebe kennt keinen Tod. Aber so wird diese Geschichte nicht vollkommen sein.«

»Das weiß ich, denn mit mir gibt es auch niemals ein Happy End. Ich danke dir trotzdem, meine Liebe, für deine Hilfe«, zeigt sich Veronika dankbar und streift ihrer guten Fee mit einem Augenzwinkern sanft über die Wange.

Schluchzend zaubert Verbena sich und Veronika wieder zurück in die Gasse des Schlosshofes. Hier tobt der Sturm mittlerweile so gewaltig, dass die Flammen der Laternen bereits erloschen sind und sogar Kutschenräder durch die Luft geschleudert werden. Mit überaus schnellem Schritt suchen Veronika und Verbena Zuflucht in der Taverne, in der noch immer eine ausgelassene Stimmung herrscht.

»Da seid ihr ja, hicks«, freut sich Pocah sternhagelvoll an der Bar sitzend, nachdem sie mehrere Kräuterschnäpse mit anderen Gästen abgezischt hat. Auch Froggy ist in der gut besuchten Taverne sichtlich am Feiern und lässt sich von jedem willkürlich abknutschen.

»Euch geht es ja gut, was?«, fragt Veronika mit einem Grinsen im Gesicht, während sie sich zu Pocah gesellt.

»So, hicks, jetzt, bevor die Welt untergeht, trinken du und ich Brüderschaft«, befiehlt Pocah leichtlebig und stellt Veronika einen Rachenputzer vor die Nase.

»Ich trinke so etwas nicht.«

»Ein Schnäpschen geht. Nun los, runter mit dem, hicks.«

Gesagt, getan. Veronika lässt sich auf die gewünschte Brüderschaft ein und kippt mit Pocah, in dieser lustigen Atmosphäre, den Rachenputzer hinunter. Das Ganze wird anschließend, wie es sich gehört, mit einem schönen Schmatzer auf den Mund besiegelt.

»Hey, ich will auch einen Kuss! Ich will auch, ich will auch«, grätscht Froggy zwischenrein, hüpft vom Tresen aus auf die Schulter von Veronika und spitzt drollig ihre feuchten Lippen.

Veronikas herzhaftes Lachen übertönt die irische Musik, bevor sie Froggys Bitte nachkommt. Den überaus klebrigen Knutscher werden wohl beide ewig in Erinnerung behalten.

»Schade, meine Liebe. Da habe ich doch glatt gedacht, du wärst meine Froschprinzessin. Hat nicht so geklappt mit dem Fluch brechen. Ich könnte nochmal Verbena fragen, ob sie dich nicht doch zurückverwandeln kann.«

»Wer ist Verbena? Meinst du, irgend ´ne gute Fee? Ist ihr richtiger Name Verbena?«, fragt Froggy nachdenklich.

»Mach dir nichts draus, hicks, ich wusste zur Hälfte der Geschichte auch nicht, wie Veronika heißt. Anscheinend sind in Veronikas Traumwelt Namen nicht so relevant«, pöpelt Pocah lautstark mit erhobenem Krug, wodurch sie böse Blicke von Veronika einfängt.

»Ne, ne, ich wurde heute schon von so vielen geküsst. Ich werde mit meinem Fluch von dieser Erde gehen.«

»Irgend ´ne gute Fee ist Verbena und eigentlich meine gute Fee, nicht wahr, meine Liebe?«, beantwortet Veronika Froggys Frage und hält daraufhin verwundert Ausschau nach Verbena.

Diese weilt auf der anderen Seite des Tresens und starrt betrübt in ihr Glas voller Brandy.

»Alles gut, kleine Fee?«, reißt eine chinesische Bedienung Verbena sachte aus den Gedanken.

»Nein, mitnichten.«

»Geschichten gehen oftmals anders aus, als man denkt«, versucht, die maskulin wirkende Bedienung hinter dem Tresen, sie aufzuheitern.

»Diese Geschichte stand von Anbeginn unter keinem guten Stern«, sagt die gute Fee, während ihr Blick nach oben auf einen Aushang schweift, der als Dartscheibe entfremdet wurde.

Zu lesen ist darauf ›Der Live-Club‹ und abgebildet sind allerhand Bösewichte.

»Ob einer davon einen Rat wüsste?«, grübelt Verbena mit einem neuen Hintergedanken, nachdem all ihre Aktionen zuvor bei Veronika misslungen sind.

»Also schlau waren diese Bösen ja gewesen. Das muss man ihnen lassen. Aber, ob sie dir helfen können, das ist fraglich? Fehler haben sie ja allesamt gemacht.«

»Es käme auf einen Versuch an. Ist ein besseres Unterfangen, als hier unnütz zu verweilen. Es stellt sich mir die Frage, an welchem dubiosen Ort man diesen Live-Club zu suchen vermag? Wie schön, meine Zuversicht ist wieder erblüht.«

»Du hast doch einen Zauberstab.«

»Wie recht Ihr habt. So darf mich nur nicht der Mut verlassen.«

»Zu verlieren, scheinen wir alle nichts mehr zu haben«, äußert sich die Chinesin mit Vermerk auf die äußerst prekäre Lage, in der sich alle befinden.

Daraufhin verschwindet Verbena mutig entschlossen in ihrem farbenfrohen Nebel, um sich an den versteckten Ort der bösen Märchenklassiker zu zaubern.

Sie manifestiert sich vor einem finsteren Flur, der mit Klavierklängen beschallt wird. Lodernde Flammen fungieren als Bodenleiste, während die vielen geschlossenen Türen, rechts und links von ihr, mit den unterschiedlichsten Namen gekennzeichnet sind.

»Zifelam? Eniamert ydal? Alusru? Welches Rätsel mag sich wohl hinter diesen Namen verbergen?«, fragt sich Verbena unruhig.

Doch den Code darin kann sie einfach nicht entziffern. Sie fliegt völlig verwirrt, durch einen aufleuchtenden Türbogen, in einen vernebelten Raum. Billardtische, Dartscheiben und Spielautomaten so weit das Auge reicht. Gehässiges Gelächter schallt von den verschiedensten männlichen Bösewichten umher, wobei sie sich begeistert an den Spielgeräten austoben.

Die weiblichen Bösewichte hingegen planschen sorgenlos in den Whirlpools und nehmen genüsslich exotische Spezialitäten zu sich.

Voller Respekt betrachtet Verbena von der Tür aus die Schurken genauer und entdeckt daraufhin nicht nur Tentakeln, die aus dem Wasser hervorkommen, sondern auch brennendes Haar, erstickt ihren Mut. Die verruchte Frau mit ihrem Pelzmantel trägt ebenfalls dazu bei, dass sich die kleine Fee ganz und gar nicht wohlfühlt. Deshalb trifft sie mit ungezähmter Angst die Entscheidung, sich nun doch nicht jeden dieser Bösewichte genauer zu betrachten und den Rückweg einzuschlagen.

Verbena schwirrt hurtig zum Eingang zurück, womit ihr Vorhaben in der Luft verpufft. Überraschenderweise wird sie jedoch aufgehalten, da sich ihr Weg mit einer vermummten Person kreuzt, deren arabisches Paillettenkleid sich im Gesicht der guten Fee reflektiert. Erschrocken blicken sich beide ganz verdutzt vor der Tür an, aus der die Fremde gerade herauskam.

»Sind Sie hier, um den letzten Platz einzunehmen?«, flüstert die Frau mit unterwürfigem Blick.

»Verzeiht, mein Antlitz ähnelt wohl kaum dem eines Bösewichts«, stottert Verbena und traut auf dem zweiten Blick ihren Augen nicht.

Denn sie erkennt unter der Verschleierung eine vermisste Person.

»Prinzessin Jasmine? Was ist Euch widerfahren? Seid Ihr jemandes Diener?«

»Seien Sie unbesorgt, ich habe es mir freiwillig ausgesucht. Lieber diene ich hier den Bösewichten mit vollem Magen, als im Märchenreich mit leerem Magen zu verhungern. Sagen Sie, was wollen Sie denn hier, wenn Sie kein Bösewicht sind?«

»Mit Euch zur Seite, wäre es ein Leichtes die Hilfe eines Schufts zu erbitten. Doch mit Verlaub, einer genügt.«

»Liebe Fee, der Bösewicht aus meiner Geschichte ist hier alleine in diesem Zimmer. Nennen Sie ihn bitte Rafaj, denn in diesem Schutzbunker haben alle ihre Boshaftigkeit abgelegt und wollen somit Spiegelverkehrt genannt werden.«

»Oh, ich verstehe, lieber Live statt Evil.«

»Nun denn, bleiben Sie vorerst hinter mir.«

Gemeinsam betreten sie durch einen bunten Teppichvorhang vorsichtig das Zimmer mit dem Schriftzug ›Rafaj‹. Unzählige Goldmünzen übersäen den Raum und während es überall funkelt und glitzert, entdeckt der Herrscher dieses Zimmers seine Gäste. Mit einem bis zum Boden reichenden Stock, an dessen oberen Ende ein Schlangenkopf beiwohnt, strotzt Rafaj auf seinem Thron nur so voller Stärke.

»Wie herrlich, Besuch für mich. Komm kleine Fee, komme näher zu mir, hab keine Scheu.«

»Guten Tag, Eure Boshaftigkeit. Ich bin die gute Fee von Veronika.«

»So, so, von Veronika also.«

»Wie meint Ihr das, Eure Boshaftigkeit?«

Völlig amüsiert ergötzt sich Rafaj an der Naivität der guten Fee und bittet Prinzessin Jasmine zugleich, um eine Kanne schwarzen Tee.

»Sehr wohl!«, hallt Prinzessin Jasmines Stimme durch den Raum.

»Nun gut, fertig mit dem Gegacker. Was sind deine Beweggründe, gute Fee?«

»Unverarbeitete Schmerzen haben Veronikas Geist umhüllt, welche die Genesung ihres Körpers erschweren. Entweder, sie lässt ihren Tränen freien Lauf und reinigt sich somit von der Infektion der wahren Liebe oder sie verstirbt an gebrochenem Herzen. Seid Euch gewiss, ich habe all meinen Ideenreichtum ausgeschöpft. Ihre Vergangenheit stellt für sie kein Problem dar.«

»Aha, ich verstehe. Bist du bereit einen Handel mit mir einzugehen?«

»Es ist schwer, es über die Lippen zu bekommen, aber diese Geschichte nähert sich unweigerlich ihrem Ende. Verloren wäre sie auf jeden Fall, wenn ich sie nun aufgäbe.«

Dankend schenkt Verbena gänzlich angespannt Prinzessin Jasmine ein freundliches Lächeln, nachdem diese voller Tatendrang den Tee serviert. Rafaj hingegen scheucht seine Bedienstete hastig auf die Seite und geht sofort wieder in die nächste Verhandlungsrunde.

»Wir wollen doch fair spielen. Bekomme ich es hin, sie zum Weinen zu bringen, darf sie als genesene Frau, wie von dir gewollt, weiterleben. Schaffe ich es aber nicht, wird sie mir gehören und den freien Platz hier im Live-Club bis zum bitteren Ende einnehmen.«

»Bedarf es nicht dem Ruf eines Bösewichts, um sich hier niederzulassen?«

»Veronikas Vergangenheit macht sie zu einem. Haben wir nun einen Deal? Oder vergeudest du hier nur meine kostbare Zeit?«

Zögernd blickt Verbena zu Prinzessin Jasmine, geht aber notgedrungen auf den Handel ein und verschwindet daraufhin wieder in ihrem farbenfrohen Nebel.

»Denken Sie, das war ein guter Deal?«, fragt Prinzessin Jasmine unsicher nach, während Rafaj ausgelassen und unverschämt grinsend an seiner Tasse nippt.

»Ich werde Veronika zwar vor die Wahl stellen, aber

ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie, so, wie jeder andere Bösewicht auch, die richtige Entscheidung trifft. Daher werden keine Tränen fließen. Veronika hat die dunkelste Seele im ganzen Land.«

Zur gleichen Zeit sitzt Veronika auf einem Stuhl in der hintersten Ecke der Taverne. Auf ihrem Schoß befindet sich eine ältere Zeitung, gedruckt an Tagen, als die Zeitenwende noch nicht existierte. Von hier aus hat Veronika alles im Blick. Das freundliche Gerede, das sinnlose besaufen und das unbefangene Ambiente. Und nach und nach bewegen sich immer mehr Gäste in den eigenen Schlaf. Darunter auch Pocah und Froggy, die gemeinsam kuschelnd unter einem Tisch ihre Sinne abschalten. Dies lässt Veronika noch einmal die Erinnerung an die letzte gemeinsame Zeit mit ihnen hervorrufen und zaubert ihr hiermit ein breites Grinsen ins Gesicht.

Doch etwas anderes erweckt schleichend die Angst im Inneren. Nämlich die knarrende Eingangstür, die aufgrund der Zeitenwende und des somit vorhandenen Sturms, stark eingedrückt wird.

»Veronika? War es nicht eine schöne Geschichte?«, flüstert Verbena plötzlich in ihr Ohr.

Veronika nickt nur trübsinnig.

»Die Hilfe eines Bösewichts wird Euch nun zuteil und lässt das Unvermeidliche geschehen. Denn die Guten sind zu so etwas nicht in der Lage.«

 

Völlig fiebrig atmet Verbena tief ein, wünscht sich, dass alles gut ausgeht und schwingt zum letzten Mal ihren Zauberstab für eine farbenfrohe Nebelwolke. Somit hinterlässt Veronika nicht nur ein Traumreich, dessen Ende naht, sondern auch einen ausgerissenen Schriftzug aus der Zeitung mit den Worten ›Es war schön mit euch.‹

Während die Dunkelheit noch kurzzeitig in Veronika innehält, steigt mit einem Mal der unverwechselbare Parfümduft ihres Mannes sanft in ihre Nase. Diese vertrauten Duftnoten lassen klitzekleine Glücksgefühle in ihr hochkommen, die innerhalb kürzester Zeit zu einem wahren Gefühlsrausch werden, der sie förmlich überrollt. Gleichzeitig wird ihre linke Hand durch seine rechte miteinander verbunden. Romantische Musik erklingt um sie herum und berührt ihre Seele, während sie den Atem ihres Mannes nahe an ihren Augen zu spüren bekommt. Mit innig geschlossenen Lidern verinnerlicht sie den warmen Hauch, der aus seinem wieder lebendigen Körper strömt. Bis sie voller Euphorie langsam ihre Augen öffnet.

Sein unnachahmliches Lächeln, die weißen vertrauten Zähne, nimmt sie als Erstes wahr, um keine Sekunde später sein gütiges Gesicht, gänzlich im milden Schein der Kerzen zu bestaunen. In seinen vor Glück strahlenden Augen spiegelt sich ihre Schönheit wieder. Ihr Herz schlägt Purzelbäume, denn dass sie noch einmal dem warmen Körper ihres verstorbenen Mannes so nahe kommt, hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt.

Das Traumpaar findet sich in einem wundersamen, zauberhaften Ballsaal im Funkelschloss wieder. Ein pompöses, gelb-goldenes Ballkleid umschmeichelt Veronika, während ihr Mann in einem maßgeschneiderten Anzug genauso hübsch ausschaut, wie seine Schöne an seiner Seite. Ihr offenes Haar gefällt ihm dabei besonders gut.

Rote Rosenblätter fallen von der Decke herab und das Licht der Kronleuchter daran taucht alles in einen warmen Farbton. Gleichzeitig ist der hervorstechende Blutmond, bekannt aus ihrem Handspiegel, durch die funkelnden Schlossfenstern am Horizont zu erkennen.

Währenddessen tanzt Veronika mit ihrem Mann mitten im zauberhaften Raum eng umschlungen zu alten Liebesliedern. Sie tanzen, so wie bei ihrer ersten Begegnung auf der Halloween-Party, sie lachen, so wie sie sich das erste Mal über die anderen amüsiert haben und sie lieben, so wie sie sich beim ersten Blick lieben gelernt hatten.

Das euphorisierende Gefühl von Glück erfüllt zu sein, steht Veronika hervorragend zu Gesicht.

Liebkosend verliert sie sich in seine ausdrucksvollen Augen, bis sie ihren Kopf an seine Brust lehnt und hinaus zum Blutmond blickt. Denn dieser hat nun seine Kernphase erreicht und gibt mit vollster Kraft rötliche Strahlen in den Ballsaal ab.

Aufgrund dessen fangen auf einmal die schön verzierten Wände um sie herum an zu vibrieren, verwandeln sich in Glas und zerspringen mit einem ohrenbetäubenden Knall. Auch die großen Fenster zerbersten ohne Vorwarnung und lassen den starken Sturm hinein, der die Glasscherben tobend umherwirbelt. Ebenfalls beeinflusst der Sturm ein weiteres Geschehen und entzweit das Traumpaar. Wie von Zauberhand landet Veronikas Mann entsetzt in einem antiken Standspiegel und blickt darin gefangen heraus.

»Mein Schatz, helf mir«, fleht ihr Mann voller Angst und versucht sich daraus zu befreien, indem er mit seiner Faust von innen auf den Spiegel einschlägt.

Doch der Spiegel hält stand – kein Riss seiner Bahnen auf der Oberfläche. Überrumpelt von diesem lebensbedrohlichen Zwischenfall bekommt Veronika keinen klaren Gedanken zustande.

Stattdessen kann sie nur zusehen, wie selbst der Boden um sie herum einbricht.

»Ich weiß nicht, was soll ich machen?«, fragt sie sich völlig aufgebracht, bis ein zweiter Standspiegel plötzlich neben ihrem Mann erscheint.

Fassungslos blickt Veronika in die Augen ihrer Zwillinge.

»Mama!«, rufen Fabian und Median mit großen, angsterfüllten Augen, weshalb ihre Mutter zu deren Gefängnis eilt.

»Oh, meine Lieben!«, erklingt es hilflos aus Veronikas tiefstem Herzen, während ihr Ballkleid von herumfliegenden Glasscherben zerrissen wird. Denn dieses Mal ist es gewiss kein Sicherheitsglas.

Vollkommen überfordert eilt sie von einem Spiegel zum anderen und findet selbst keine Lösung für diese Zwickmühle, bis plötzlich Verbenas Stimme lautstark durch den Ballsaal hallt.

»Entscheidet Euch, Veronika. Entscheidet Euch endlich!«

»Ich soll mich entscheiden?«, ruft sie gestresst umher, mit den Nerven am Ende.

»Entscheidet Euch für Eure Kinder oder Euren Mann. Entscheidet Euch für das Leben oder den Tod!«

»Was soll das Verbena? Das ist nicht lustig! Im Leben sollte man niemanden zwingen, sich zwischen zwei Menschen entscheiden zu müssen!«

»Entscheidet Euch endlich! Bitte!«

Getrieben von der Panik, wird sie zusätzlich nun, nur knapp, von einem herunterfallenden Kronleuchter verfehlt.

»So entscheidet Euch doch! Für das Leben oder den Tod. Jetzt!«

»Das kann ich nicht, ich kann mich nicht entscheiden. Ich konnte es bisher nicht und ich werde es auch jetzt nicht können! Ich kann meinen Mann nicht loslassen!«

»Das Leben oder den Tod, Veronika!«

Die Spiegel zerbrechen mit einem Schlag in tausend Einzelteile, woraufhin auch der Rest von Veronikas Traumwelt im Dunkeln verschwindet.

Es wird still. Mucksmäuschenstill. Und nur eine Frage gilt es noch zu beantworten.

»Veronika, habt Ihr Euch entschieden?«

»Ja meine Liebe, ich habe mich entschieden.«

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