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Das neue Dschungelbuch

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Dennoch wären sie wohl über den Winter hinweggekommen mit dem Vorrat an gefrorenem Lachs, angesammeltem Tran und dem, was die Fallen hergaben. Aber im Dezember stieß einer ihrer Jäger auf ein Tupik (Felljurte), in dem Sterbende lagen – drei Frauen und ein Mädchen. Ihre Männer waren in den Fellbooten durch die auflaufenden Massen des Packeises zermalmt worden, als sie vom hohen Norden herabgekommen waren, um den langgehörnten Narwal zu jagen. Kadlu mußte wohl oder übel die Frauen in die Hütten des Winterdorfes verteilen, denn kein Innuit wagt, einem Fremdling den Herd zu versagen, weiß er doch niemals, wie bald an ihn selbst die Reihe, Hilfe zu erbitten, kommen mag. Amoraq nahm das etwa vierzehnjährige Mädchen in ihrem Hause als eine Art Dienerin auf. Nach dem Schnitt der spitzen Haube und dem Rautenmuster auf ihren Rentierhosen hielt man sie für eine aus Ellesmereland. Noch nie zuvor hatte sie Blechkochtöpfe gesehen oder Schlitten mit hölzernen Kufen – aber Kotuko, der Knabe, und Kotuko, der Hund, hatten das Mädchen gern.

Bald verschwanden alle Füchse südwärts, und selbst der Vielfraß, der knurrende, stumpfnasige kleine Dieb des Schneegebiets, gab sich nicht mehr die Mühe, die leeren Fallen abzusuchen, die Kotuko gestellt hatte. Der Stamm verlor einige seiner besten Jäger, die im Kampf mit dem Moschusochsen schwer verwundet wurden; und dadurch lastete auf den übrigen noch mehr Arbeit. Tag für Tag zog Kotuko aus mit leichtem Jagdschlitten und sechs bis sieben der stärksten Hunde und spähte und spähte, bis ihm die Augen übergingen, nach einem Fleckchen klaren Eises, wo vielleicht ein Seehund ein Luftloch gekratzt haben könnte. Kotuko, der Hund, schweifte umher durch die tote Stille der Arktis, und Kotuko, der Knabe, vernahm das vor Erregung halberstickte Gewinsel des Tieres beim Verbellen eines gefundenen Seehundloches – vernahm es so deutlich über drei Meilen hin, als wäre der Hund ihm zur Seite. Neben dem aufgespürten Loch richtete der Knabe eine kleine Schneewand auf, um den schärfsten Wind abzuhalten, und dann lauerte er, zehn, zwölf und oft zwanzig Stunden hintereinander, auf den Augenblick, da der Seehund zum Luftschöpfen hochsteigen würde, starrte unausgesetzt nach dem Zeichen hin, das er sich über dem Loch eingeritzt hatte, um den Tiefenstoß seiner Harpune sicher führen zu können. Unter den Füßen hatte er eine kleine Seehundsfellmatte ausgebreitet, und die Beine steckten zusammengebunden in dem Tutareang, dem Sack, von dem die alten Jäger gesprochen. Der soll verhindern, daß die Beine ausrutschen bei dem endlosen Warten und Warten auf den hellhörigen Seehund. Aufregung ist wohl mit der Sache nicht verbunden; aber man kann sich vorstellen, daß dieses regungslose Stillsitzen im Sack bei vielleicht vierzig Grad unter Null für den Innuit die härteste Arbeit ist, die er kennt. Gelang es, einen Seehund zu spießen, dann sprang Kotuko, der Hund, vor und half, den Körper nach dem Schlitten hinzuziehen, wo die hungrigen müden Hunde, hinter ragenden Blöcken grün schimmernden Eises vom Winde geschützt, trübselig beieinanderlagen.

Aber so ein Seehund reicht nicht weit, da jeder Mund im kleinen Dorfe das Recht hatte, gefüllt zu werden; weder Knochen, Haut noch Sehnen wurden verschwendet. Das für die Hunde bestimmte Fleisch mußte für die Menschen bleiben. Amoraq fütterte die Meute mit Stücken alter Sommerfellzelte, die sie unter der Schlafbank hervorklaubte, die Tiere aber heulten, heulten im Schlaf und erwachten, um abermals hungrig zu heulen. An den Specksteinlampen in den Hütten konnte man erkennen, daß die Hungersnot herannahte. In guten Jahren, wenn Tran reichlich vorhanden war, brannte das Licht in den schiffsförmigen Lampen oft sechs Fuß hoch, fröhlich, ölig und gelb. Jetzt aber flackerte es kaum sechs Zoll hoch, und sorgsam drückte Amoraq den Moosdocht wieder hinunter, wenn etwa das Licht heller aufflammen wollte, wobei die Blicke der ganzen Familie besorgt ihrer Hand folgten. Schrecklich ist der Hungertod dort oben; aber das Schrecklichste für den Innuit ist es, im trostlosen arktischen Dunkel dahinscheiden zu müssen. Er fürchtet die Nacht, die jedes Jahr sechs Monate ununterbrochen auf ihm lastet; und wenn die Lampen in den Hütten niedrig zu brennen anfangen, dann werden die Gemüter der Menschen wirr und erschüttert. Aber noch Schlimmeres war im Anzug.

Die unterernährten Hunde schnappten und heulten wilder und wilder im Schneegang der Hütten, glotzten nach den frostigen Sternen und schnüffelten nächtens in den schneidenden Wind. Verstummte ihr Klagegeheul, dann fiel das gewaltige Schweigen wieder herab, so wuchtig und schwer wie der Druck einer Schneewehe gegen das Haustor – dann hörten die Menschen das Brausen des eigenen Bluts in den dünnen Adern der Ohren und das Pochen ihrer Herzen so laut wie das Dröhnen von Zaubertrommeln über der Eisfläche.

Schon seit Tagen war Kotuko, der Hund, ungewöhnlich schlecht im Geschirr gegangen. Eines Abends nun sprang er hoch und stieß mit dem Kopf gegen Kotukos Knie. Dieser streichelte ihn, aber der Hund stieß und drängte immer weiter, wie von einer Unruhe befallen. Davon erwachte Kadlu, packte den schweren, wohlfsähnlichen Kopf und starrte in die glasigen Augen. Der Hund winselte und schauderte zwischen Kadlus Knien. Das Nackenhaar sträubte sich, und er knurrte, als stände ein Fremder vor der Tür; dann wieder bellte er freudig auf, wälzte sich auf dem Boden und schnappte nach Kotukos Stiefeln, wie junge Hunde es machen.

»Was ist mit ihm?« fragte Kotuko in aufsteigender Angst.

»Die Krankheit ist es, die Hundekrankheit«, erwiderte Kadlu. Kotuko, der Hund, hob die Schnauze, heulte und heulte.

»Das habe ich noch nie gesehen. Was wird mit ihm?« fragte Kotuko.

Kadlu zuckte ein wenig mit der Schulter, ging quer durch die Hütte und suchte seine kurze Stoßharpune. Der große Hund blickte ihm aus irren Lichtern nach, heulte auf und schlich davon, in den Schneegang, wo sich die anderen Hunde rechts und links zur Seite drückten, um ihm Platz zu machen. Als er draußen im Schnee war, schlug er wütend an, als wäre er einem Moschusochsen auf der Spur, sprang in die Luft und verschwand in der Dunkelheit. Nicht Tollwut war seine Krankheit, sondern einfach Wahnsinn. Kälte, Hunger und vor allem die Nacht hatten ihm die Sinne verwirrt. Wenn aber die furchtbare Hundekrankheit in einem Gespann ausbricht, dann frißt sie wie Wildfeuer um sich. Am nächsten Jagdtage erkrankte wieder ein Hund, biß wütend um sich, zerrte in den Trossen und wurde von Kotuko auf der Stelle getötet. Der schwarze zweite Hund, einst der Führer des Gespanns, war der nächste; er begann wie rasend zu bellen, als wäre er auf einer Renfährte, und als man ihn schnell von dem Leitseil frei machte, rannte er davon, wie sein Vorgänger, mit dem Geschirr noch auf dem Rücken. Von da ab wollte keiner mehr mit den Hunden fahren; man brauchte sie auch zu etwas anderem – und die Hunde wußten es. Fest angepflockt lagen sie, wurden aus der Hand gefüttert, dennoch sprachen Verzweiflung und Angst aus ihren Augen. Um die Sache noch schlimmer zu machen, begannen die alten Weiber Geistergeschichten zu erzählen und sagten, daß ihnen die Geister der im letzten Herbst umgekommenen Jäger erschienen wären und alles erdenkliche Unheil prophezeit hätten.

Kotuko grämte sich mehr um den Verlust seines Hundes als um die bittere Not. Obwohl ein Innuit ungeheuer stark ißt und essen muß, kann er doch auch Hunger ertragen. Aber Kälte, Nacht und Entbehrung zehrten an Kotukos Kräften, und er begann, in seinem Innern Stimmen zu hören und Erscheinungen zu haben. In einer Nacht, nachdem er zehn Stunden lang über einem »blinden« Seehundloch gesessen hatte, kam er schwach und schwindlig dem Dorfe zugewankt. Um auszuruhen, lehnte er sich gegen einen Eisblock, der zufällig nur locker auflag; der Block kam aus dem Gleichgewicht und überschlug sich polternd. Kotuko sprang zur Seite, um ihm zu entgehen, aber der Block kam zischend und raschelnd den Hang hinab hinter ihm her gerollt.

Das war genug für Kotuko! Er war aufgewachsen in dem Glauben an Geister; in jedem Fels, in jedem Eisblock lebte ein Bewohner (Inua), den man sich gewöhnlich als eine Art einäugigen weiblichen Wesens, Tornaq genannt, vorstellte. Wollte eine Tornaq dem Menschen beistehen, so rollte sie, glaubte man, hinter einem her im Innern ihres Steinhauses und bot sich als Schutzgeist an. (Eisumschlossene Felsen beginnen im Sommer, wenn die Hülle taut, über das Land dahinzurollen und zu tanzen – daher der Glaube an lebendige Steine.) Wie an allen Tagen hörte auch jetzt Kotuko das Blut in den Ohren pulsen und rauschen; aber nun meinte er, daß es die Stimme der Tornaq im Stein war, die zu ihm redete. Als er sein Haus erreicht hatte, stand für ihn fest, daß der Steingeist geheimnisvoll zu ihm gesprochen hatte, die anderen glaubten ihm ebenfalls, und keiner widersprach ihm.

»Die Tornaq raunte mir zu: ›Ich springe herab, ich springe herab von meinem Platz im Schnee‹«, rief Kotuko, der vorgebeugt, mit hohlen brennenden Augen in der schwach erhellten Hütte stand. »Sie sagte: ›Ich will dir Führer sein‹; sie sagte: ›Zu den großen Robbenlöchern führe ich dich, folge mir‹; und morgen ziehe ich aus, denn die Tomaq wird mich führen.«

Der Angekok, der Dorfzauberer, trat nun herbei; und Kotuko erzählte zum zweitenmal die Geschichte. »Folge den Tornait, den Geistern der Steine«, sagte der Zauberer, »sie werden uns wieder Nahrung zuwenden.«

Schon seit Tagen hatte das Mädchen aus dem Norden in der Nähe der Lampe gelegen, wenig gegessen und noch weniger gesprochen. Als aber am nächsten Morgen Amoraq und Kadlu einen kleinen Handschlitten hervorzogen, ihn mit Kotuks Jagdgerät und mit so viel gefrorenem Seehundfleisch und Tran beluden, als sie entbehren konnten, da ergriff das Mädchen aus Ellesmereland wacker die Zugleine und stellte sich an die Seite des Knaben.

»Dein Haus ist mein Haus«, sagte sie, indes der kleine knochenkufige Schlitten hinter ihnen knirschte und stieß durch die grauenvolle Dunkelheit der Polarnacht.

 

»Mein Haus, dein Haus«, sagte Kotuko. »Wir beide zusammen, scheint mir, sind auf dem Wege zu Sedna.«

Sedna ist die Herrin der Unterwelt; und der Innuit glaubt, daß jeder nach seinem Tode ein Jahr in ihrem finsteren Reiche wohnen muß, bis er nach Quadliparmiut eingehen kann, dem glückseligen Land, wo es niemals friert und fette Rens auf Anruf angetrottet kommen.

Im Dorf aber riefen die Leute: »Die Tornait haben zu Kotuko gesprochen. Offenes Eis werden sie ihm weisen. Seehunde wird er uns heimbringen zu den Hütten.« Die Stimmen waren aber bald von der kalten, leeren Finsternis aufgeschluckt; und Kotuko und das Mädchen zogen Schulter an Schulter an dem Zugstrick oder schoben den Schlitten durch das Eis in Richtung auf das Polarmeer. Kotuko bestand darauf, die Tornaq im Stein habe ihm befohlen, nordwärts zu ziehen, und so wanderten sie nach Norden unter Tuktuqdjung, dem Ren – jenem Sternbild, das wir den großen Bären nennen.

Ein Europäer hätte über den Eisschutt und das scharfkantige Geschiebe kaum fünf Meilen am Tag zurücklegen können; diese zwei aber kannten aus alter Erfahrung jede Drehung des Handgelenks, mit der man den Schlitten über den Eishügel hinwegbringt, jeden geschickten Ruck, der ihn aus einer Eisspalte herauszerrt, kannten, wenn der Weg hoffnungslos blockiert schien, das Maß der einzusetzenden Kraft, um mit ein paar Speerschlägen einen Pfad zu bahnen.

Das Mädchen sprach kein Wort, hielt den Kopf gesenkt, und die langen Fransen aus Vielfraßfell an ihrer Hermelinkapuze wehten über ihr breites dunkles Gesicht. Der Himmel über ihnen war wie tiefschwarzer Samt, erhellt gegen den Horizont hin von düsterroten Streifen – dort, wo die mächtigen Sterne glommen wie Straßenlaternen. Zuweilen zuckten grünliche Wogen des Nordlichts über das Gewölbe des hohen Firmaments wie flatternde Fahnen und erloschen wieder; oder ein Meteor zog sprühend vorüber auf seiner Bahn aus der Nacht in die Nacht und zog einen Schauer glühender Funken hinter sich her. Später erstrahlten vor den Wandernden die Rippen und Furchen der Oberfläche des Eisfeldes in seltsamen Farben – verbrämt und betupft in Rot, Kupfer und Blau; bald aber wandelte das Sternenlicht alles wieder in froststarres Grau. Die Eisdecke war durch die Herbststürme zerspalten und zerpflügt worden und glich nun im Frost des Winters einem erstarrten Erdbeben. Risse, Spalten und Löcher klafften im Eis wie tiefe Schründe; Klumpen und Bruchstücke klebten festgefroren auf dem ursprünglichen Boden der Eisfläche; alte schwarze Eispusteln, vom Sturm unter die Eisdecke getrieben, stiegen wie Blasen wieder empor; große Blöcke ragten auf mit scharfen Kanten und Graten, vom Schnee geschliffen, der vor dem Winde her fliegt; eingesunkene Gründe erstreckten sich dreißig und vierzig Morgen weit, tief unter der Ebene der Eisfelder.

Aus der Entfernung konnte man die Klumpen und Blöcke für Seehunde oder Walrosse halten, für umgekippte Schlitten oder Menschen auf der Jagd; ja, selbst der weiße Gespensterbär, mit den zehn Läufen, erstand aus den Umrissen eines gewaltigen Eisblocks. Aber wenn auch die phantastischen Formen wie von spukhaftem Leben erfüllt schienen, so war doch kein Laut, nicht der leiseste Widerhall eines Geräusches zu vernehmen. Und durch dieses allgegenwärtige Schweigen, durch diese Einöde, wo fahle Lichter flackernd aufzuckten und dahinstarben, kroch der winzige Schlitten mit den beiden dahin, die ihn zogen. Nachtalben schienen sie zu sein, die den Menschen im Schlafe schrecken – Phantome vom Ende der Welt, am Ende der Welt.

Wenn sie müde wurden, machte Kotuko ein Halbhaus, wie die Jäger es nennen, eine kleine Schneehütte, in die sie krochen, und wo sie über der Reiselampe das gefrorene Seehundsfleisch aufzutauen versuchten. Wenn sie geschlafen hatten, begannen sie wieder ihre Wanderung – dreißig Meilen Marsch am Tage, um fünf Meilen nordwärts zu gelangen. Das Mädchen war immer sehr schweigsam; Kotuko aber führte Selbstgespräche oder stimmte Gesänge an, die er im Singhause gelernt hatte, Sommerlieder, Ren- und Lachslieder – alle in schreiendem Widerspruch zu ihrer Lage. Dann glaubte er wieder die Tornaq zu ihm reden zu hören, und er rannte wild und wirr einen Eishügel hinan, fuchtelte mit den Armen und sprach in lautem, drohendem Ton. In Wahrheit war Kotuko zu jener Zeit dem Wahnsinn nahe; das Mädchen aber glaubte sicher, daß ein Schutzgott ihn führte und alles gut werden würde. So erstaunte sie nicht, als am Ende des vierten Tagesmarsches Kotuko ihr mit glühenden Augen erzählte, daß seine Tornaq ihm über den Schnee folge in Gestalt eines zweiköpfigen Hundes. Das Mädchen wandte sich um, wohin Kotuko zeigte, und irgend etwas schien in einer Eisspalte zu verschwinden. Es war gewiß nichts Menschliches, aber jedem war es bekannt, daß die Tornaq gern Gestalten von Bären, Robben und dergleichen annahmen.

Es mochte ebensogut der weiße, zehnbeinige Gespensterbär als sonst irgend etwas sein; denn Kotuko und das Mädchen waren so ausgehungert, daß ihre Augen versagten. Seitdem sie das Dorf verließen, hatten sie nichts gefangen, noch auch nur eine einzige Wildfährte gesehen. Ihr Vorrat reichte noch knapp eine Woche, und ein Sturm war im Anzug. Zehn Tage hintereinander tobt manchmal der Polarsturm, ohne nachzulassen, und jedem bringt er sicheren Tod, der sich während der Zeit im Freien befindet. Kotuko baute ein Schneehaus, groß genug, um auch den Schlitten mit hineinzunehmen (denn niemals soll man sich von seinem Fleischvorrat trennen), und als er den letzten Eisblock zurechthackte, der den Schlußstein des Daches bilden sollte, sah er auf einer niedrigen Eisklippe eine halbe Meile entfernt etwas kauern, das zu ihm herüberblickte. Diesig war die Luft; das, was dort kauerte, schien vierzig Fuß lang zu sein und zehn Fuß hoch, mit einem zwanzig Fuß langen Schwanz hinter sich, und die Umrisse der Gestalt schienen sich fortwährend zu ändern. Auch das Mädchen sah das Phantom, aber anstatt vor Schreck aufzuschreien, sagte sie gelassen: »Das ist Quiquern. Was wird nun kommen?«

»Es wird zu mir reden«, erwiderte Kotuko; aber das Schneemesser zitterte in seiner Hand, als er sprach, denn so gern auch ein Mann glauben mag, mit fremdartigen häßlichen Geistern gut Freund zu sein, so ungern läßt er sich beim Worte nehmen. Quiquern nun gar ist das Gespenst eines gigantischen zahnlosen Hundes ohne ein Haar. Hoch im Norden soll er leben und erscheint immer im Lande am Vortage großer Ereignisse, seien sie nun froher oder trauriger Art. Aber selbst der Zauberer hütete sich, von Quiquern zu sprechen, der die Hunde toll macht. Gleich dem Gespensterbären hat er eine große Anzahl von Beinpaaren – sechs oder acht –, und das Etwas, das da in der diesigen Luft hin und her sprang, besaß entschieden mehr Beine, als ein wirklicher Hund bestenfalls brauchen könnte.

Kotuko und das Mädchen verkrochen sich schnell in die schützende Hütte. Natürlich konnte der Quiquern, wenn er die beiden haben wollte, das Haus über ihren Köpfen zusammenschlagen, aber es war doch ein tröstlicher Gedanke, durch einen fußdicken Schneewall von der tückischen Dunkelheit draußen getrennt zu sein. Der Sturm brach los mit einem Schrei des Windes wie der gellende Pfiff einer Lokomotive und hielt drei Tage und drei Nächte mit gleicher Stärke an, ohne auch nur einen Augenblick nachzulassen. Sie hielten die steinerne Lampe zwischen den Knien, gossen Tran nach, nagten an halbwarmem Robbenfleisch und sahen den schwarzen Ruß sich an der Decke festsetzen – zweiundsiebzig lange Stunden. Das Mädchen überprüfte den Fleischvorrat im Schlitten, er reichte gerade noch für zwei Tage; Kotuko untersuchte die eiserne Spitze und die Tiersehnenleine seiner Harpune, seine Seehundlanze und seine Vogelpfeife. Nichts weiter gab es zu tun.

»Bald werden wir bei Sedna sein – sehr bald«, flüsterte das Mädchen. »Drei Tage noch, dann legen wir uns nieder und gehen von dannen. Schweigt deine Tornaq? Singe ihr doch ein starkes Zauberlied und locke sie her.«

Er hob zu singen an, heulte im scharfen Diskant der Zaubergesänge und – der Sturm ließ allmählich nach. Mitten im Gesang stutzte das Mädchen plötzlich, legte ihre im Fausthandschuh steckende Hand und dann ihren Kopf auf den Eisboden der Hütte. Kotuko folgte ihrem Beispiel, und die beiden knieten nebeneinander, starrten sich an und horchten mit jeder Fiber ihres Leibes. Kotuko schnitt einen Span vom Fischbeinrand einer Vogelschlinge ab, bog ihn zurecht und steckte ihn aufrecht ins Eis. So fein wie die Kompaßnadel steckte die dünne Rute im Eise; und sie horchten nicht mehr, sondern beobachteten sie. Leise zitterte die Rute ein wenig, kaum bemerkbar; nun vibrierte sie gleichmäßig sekundenlang, kam zur Ruhe und vibrierte wieder, dieses Mal nach einer anderen Richtung der Windrose.

»Zu früh!« sagte Kotuko. »Irgendeine große Eisdecke brach auf, weit draußen.«

Das Mädchen zeigte auf die Rute und schüttelte den Kopf. »Der große Eisbruch ist es«, sagte sie, »höre, wie das Grundeis pocht.«

Wieder knieten sie hin, und nun vernahmen sie seltsames Stöhnen und Pochen, scheinbar unter ihren Füßen. Zuweilen klang es, als ob ein neugeborenes Hündchen über der Lampe hängend quiekte; dann als ob ein Stein auf hartem Eis geschoben würde und dann wieder wie dumpfer Trommelwirbel. Aber alles klang langgezogen und gedämpft, als ob die Laute wie durch ein Horn von weit, weit her aus der Ferne herüberdrangen.

»Liegend werden wir nicht zu Sedna gehen«, sagte Kotuko. »Der Eisbruch ist es! Die Tornaq betrog uns. Sterben müssen wir.«

Das mag seltsam genug klingen, aber die beiden standen unmittelbar vor einer ernsten Gefahr. Der dreitägige Sturm hatte das tiefe Wasser an der Baffinbucht südwärts getrieben und an der Grenze des weitreichenden Landeises, das von der Insel Beylot nach Westen sich erstreckt, aufgestaut. Die starke Strömung außerdem, die von Lancester-Sund ausgeht, führte Meile auf Meile von Packeis mit sich, rauhes, welliges Eis, das nicht zu Feldern zusammenfror. Und dieses schwimmende Packeis bombardierte die Kante der mächtigen Eisfelder, während das Schwellen und Wogen der sturmgepeitschten See sie gleichzeitig untergrub. Was Kotuko und das Mädchen gehört, war das matte Echo des Kampfes, der dreißig oder vierzig Meilen entfernt raste; und die kleine verräterische Rute hatte gebebt unter den Stößen.

Aber, wie der Innuit sagt, wenn das Eis einmal erwacht nach langem Winterschlaf, weiß niemand, was geschehen mag, denn die schwere Eisdecke ändert ihre Gestalt fast so schnell wie Gewölk. Vorzeitiger Frühlingssturm war augenscheinlich über die Eisnacht gekommen, und alles mögliche konnte daraus entstehen.

Dennoch fühlten sich die beiden jetzt ruhiger und zuversichtlicher. Brach die Eisdecke, dann gab es kein Warten mehr und kein Leiden. Geister, Kobolde und Hexenvolk trieben sich umher auf dem krachenden Eise, und sie würden vielleicht, fiebernd vor Erregung, Seite an Seite mit all dem wilden Gezücht eingehen in Sednas unterirdisches Reich. Als sie nach Abflauen des Sturms aus der Hütte traten, wuchs das Gedonner am Horizont noch ständig, und um sie her ächzte und stöhnte das See-Eis.

»Es lauert immer noch«, sagte Kotuko.

Auf dem Gipfel eines Hügels kauerte oder saß noch das achtbeinige Ding, das sie drei Tage zuvor gesehen hatten, und heulte fürchterlich.

»Folgen wir«, sagte das Mädchen. »Vielleicht kennt es einen Weg, der nicht zu Sedna führt.« Aber sie taumelte vor Schwäche, als sie die Zugleine des Schlittens ergriff.

Das gespenstische Wesen bewegte sich langsam und schwerfällig über die Spalten, immer westwärts, dem Land zu; und sie folgten ihm, indes der grollende Donner von der Eisgrenze näher und näher rollte.

Gespalten lag das Feld, geplatzt nach allen Richtungen hin, bis zu vier Meilen landeinwärts! Mächtige Schollen, zehn Fuß dick, von wenigen bis zu vielen Ellen Durchmesser, rüttelten und stießen und prallten gegen die noch ungebrochene Eisdecke, getrieben von der schweren Dünung des Meeres. Dieser Sturmbock war sozusagen die Vorhut der Heere, die der Ozean gegen die Eisfläche schleuderte. Das ununterbrochene Reiben und Krachen der schweren Schollen übertönte fast den Lärm der Packeisschichten, die unter die Eisdecke geschoben wurden, wie man Spielkarten rasch unter das Tischtuch schiebt. An seichten Stellen des Wassers türmten die Schichten sich übereinander, bis die unterste Schicht fünfzig Fuß tief auf Schlamm stieß und die verfärbte See hinter dem Eis eingedämmt wurde; erst der wachsende Druck trieb zuletzt das Ganze wieder vorwärts. Zu alledem brachten Sturm und Strömung noch die wirklichen Eisberge heran, segelnde Gebirge zackigen Geklüfts, losgelöst von der Grönländer Seite des Wassers oder der Nordküste von der Melvillebucht. Feierlich kamen sie herangezogen, umspült und umzischt von weißschäumenden Wellen, und rückten gegen die Eisdecke vor wie eine altertümliche Flotte unter vollen Segeln. Da kam ein Eisberg an, so hoch und gewaltig, als könnte er eine Welt vor sich hertreiben; plötzlich aber neigte er sich, kippte über, sank hilflos in die Tiefe und wälzte sich in einem Gischt von Schlamm und hochaufspritzendem Wasser. Ein viel kleinerer Berg hingegen schlitzte die Eisdecke auf, ganze Tonnen von Eis nach beiden Seiten werfend, und schnitt eine kilometerlange Spalte, bevor er zum Stillstand kam. Manche fielen wie ein Schwert nieder und hieben rauhkantige Kanäle; andere wieder zersplitterten in Schauern von Blöcken, die weit dahinrollten. Wieder andere standen buchstäblich aus dem Wasser auf, kollerten und wanden sich wie in Schmerzen, plumpsten schwer auf die Seite, und die See raste über sie hinweg. Das Schieben und Drängen, Treiben und Stoßen der Eismassen in allen denkbaren Formen und Gestalten erstreckte sich längs der Nordseite der Eisdecke, so weit das Auge reichte. Von der Stelle aus, wo Kotuko und das Mädchen standen, erschien der Eisbruch nur wie eine unruhige, schiebende, kriechende Bewegung am Horizont; aber sie kam ihnen mit jedem Augenblick näher und näher. Vom Lande her vernahmen sie schweres Dröhnen aus weiter Ferne, wie das Donnern von Artillerie im Nebel. Das zeigte an, daß die Eisdecke an die erzenen Klippen der Insel Beylot und das Land hinter ihnen gerammt wurde.

 

»So war es noch niemals«, sagte Kotuko mit blödem Stieren. »Es ist nicht die Zeit. Wie kann das Eis jetzt schon brechen.«

»Folge dem!« rief das Mädchen, auf das halb hinkende, halb laufende Wesen weisend, das sich vor ihnen bewegte. Sie gingen ihm nach, den Handschlitten hinter sich herziehend, indes der brüllende Eisgang näher und näher kam. Zuletzt krachten und klafften die Eisfelder rings um sie her; Spalten taten sich auf und schnappten wie Zähne der Wölfe. Das unheimliche Wesen aber lagerte nun auf einem wohl fünfzig Fuß hohen Damm von verstreuten Eisblöcken, dort war keinerlei Bewegung. Kotuko sprang rasch vorwärts, zog das Mädchen hinter sich her und kroch bis an den Fuß des Dammes. Lauter und lauter wurde das Toben des Eises, aber der Damm stand fest. Das Mädchen blickte zu Kotuko auf und sah, wie er den rechten Ellbogen erhob und ihn auswärts streckte: er gab das Innuitzeichen für Inselland. Und Land war es, wohin das achtbeinige hinkende Wesen sie geführt hatte – eine kleine Küsteninsel mit Granitfelsen und sandigem Gestade, ganz von Eis umpanzert, so daß man sie nicht von der übrigen Eisdecke unterscheiden konnte; doch auf dem Grunde war fester Boden, kein trügerisches Eisgeschiebe. Der An- und Rückprall der Eisfelder, die auf den festen Grund stießen und splitterten, zeichnete die Umrisse der Insel; nordwärts lief eine freundliche Untiefe und trieb das schlimmste Eisgeschiebe beiseite wie eine Pflugschar, die Schollen teilt. Noch immer bestand Gefahr, denn leicht konnte sich ein Eisfeld unter starkem Druck über den Rand der Insel schieben und den Gipfel des Dammes kappen. Aber das kümmerte Kotuko und das Mädchen nicht. Sie bauten ein Schneehaus und begannen zu essen, indes sie draußen über den kleinen Strand das Eis hämmern und toben hörten. Das seltsame Wesen war verschwunden; bei der Lampe kauernd, redete Kotuko lebhaft erregt von seiner großen Macht über die Geister. Unaufhaltsam floß der Strom seiner wilden Rede – da aber hub das Mädchen zu lachen an und begann sich in den Hüften zu wiegen.

Hinter ihr, Schritt für Schritt sich vorschiebend, erschienen zwei Köpfe in der engen Öffnung des Schneehauses, ein gelber und ein schwarzer, die zu zwei überaus verschämten und betrübten Hunden gehörten, offenbar mit einem sehr schlechten Gewissen: Kotuko, der Hund, und der schwarze Führer. Beide, fett geworden, in gutem Futterzustand und von dem Irrsinn geheilt, standen sie da, in der seltsamsten Art und Weise aneinandergekoppelt. Der schwarze Führer war, wie man sich erinnern wird, mit dem Geschirr auf dem Rücken davongeflüchtet. Bald darauf muß er auf Kotuko, den Hund, gestoßen sein, hatte mit ihm gespielt oder vielleicht auch gekämpft, denn seine Schulterlasche war in Kotukos kupferdrahtenem Halsband festgehakt, so daß keiner den Riemen durchbeißen konnte, der ihn mit dem Halse des Nachbarn verband. Dieser Zustand und dazu die Freiheit, nach Belieben zu jagen, hatte wohl ihre Tollheit geheilt. Jetzt waren beide sehr ernst und vernünftig.

Das Mädchen schob die zwei verschämten Geschöpfe zu Kotuko hin und rief unter Tränen lachend: »Das ist Quiquern; Quiquern, der uns auf feste Erde rettete. Sieh, er hat acht Beine und einen doppelten Kopf!«

Kotuko durchschnitt die Fesseln; beide Hunde, gelb und schwarz, stürzten sich in seine weitgeöffneten Arme, jaulten, maunzten und winselten, um zu erzählen, wie sie wieder zu Verstand gekommen. Kotuko befühlte ihnen die Rippen und fand, daß sie rund und gut gepolstert waren. »Sie haben Futter gefunden«, sagte er grinsend. »Ich glaube nicht, daß wir so rasch zu Sedna gehen werden. Meine Tornaq hat sie uns gesendet. Der Wahnsinn ist von ihnen gewichen.«

Nachdem Kotuko sie begrüßt hatte, fuhren sich die beiden, die zwei Wochen lang miteinander fressen, jagen und schlafen mußten, an die Kehlen, und in dem Schneehaus entwickelte sich die prächtigste Balgerei. »Hungrige Hunde kämpfen nicht«, sagte Kotuko. »Sie haben die Robben gefunden. Laß uns schlafen. Auch uns wird es nicht an Nahrung fehlen.«

Als sie erwachten, war am Nordstrand der Insel offenes Wasser, und all das gelockerte Eis war von den Fluten landwärts getrieben. Das erste Aufrauschen der Brandung ist der herrlichste Klang, den der Innuit kennt, denn er verkündet den nahenden Frühling. Kotuko und das Mädchen hielten sich bei der Hand und lächelten versonnen; bei dem vollen Rauschen und Brausen der Brandung dachten sie an die Lachs- und Renzeiten und den Duft blühender Zwergweiden. Aber so scharf biß noch die Kälte, daß die See zwischen den Schollen zu frieren begann; doch am Horizont zeigte sich ein breites rotes Glühen, und das war das Licht der gesunkenen Sonne. Mehr einem Gähnen des schlummernden Sonnengottes schien der rosige Schimmer zu gleichen, und auch nur wenige Minuten blieb das Leuchten am Himmel sichtbar. Aber das war die Jahreswende! Sie wußten es, und nichts mehr war daran zu ändern.

Vor der Hütte fand Kotuko die Hunde im Kampf um einen frisch gerissenen Seehund, der den vom Sturm angetriebenen Fischen gefolgt war. Er war der erste von einer Herde von zwanzig oder dreißig Seehunden; und solange die See noch offen war, spielten Hunderte eifriger, schwarzglänzender Köpfe in dem freien seichten Gewässer, schwammen und tauchten zwischen den treibenden Eisschollen.

Eine gute Sache war es, wieder Seehundleber zu essen, die Lampe üppig mit Tran zu füllen und zu sehen, wie die Flamme drei Fuß hoch in die Luft schlug. Aber sobald das Neueis fest genug war, beluden Kotuko und das Mädchen den Schlitten und ließen die Hunde ziehen, wie sie noch nie gezogen hatten, denn sie besorgten, daß dem Dorf ein Unglück zugestoßen sein könnte. Das Wetter war so unbarmherzig wie immer; aber leichter ist es, einen gut mit Vorrat beladenen Schlitten zu lenken, als verschmachtend des Weges zu ziehen. Sie ließen fünfundzwanzig Robbenleiber gebrauchsfertig zurück, vergraben im Eise des Strandes. Dann brachen sie eilig auf, um schnell zur hungernden Sippe zu gelangen. Die Hunde wiesen ihnen den Weg, sobald Kotuko ihnen erklärt hatte, was man von ihnen erwartete. Kein Grenzstein weit und breit bezeichnete die Richtung, aber schon nach zwei Tagen bellten die Hunde in Kadlus Dorf. Nur drei Hunde antworteten ihnen, die anderen hatte man verzehrt, und fast völlig finster lagen die Hütten. Kotuko aber rief: »Ojo!« (gekochtes Fleisch); da antworteten schwache Stimmen; und als er mit dem Weckruf des Dorfes Namen nach Namen aufrief, blieb keine Lücke.