Kostenlos

Das neue Dschungelbuch

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Das haben schon viele gesagt. Sieh zu, wenn die Dolen dir folgen sollten … «

»Bestimmt werden sie das tun. Ho! Ho! Viele kleine Stacheln habe ich unter meiner Zunge, die ihre Haut stechen sollen.«

»Wenn die Dolen dir folgen, heiß und blind nur nach deiner Schulter äugend, werden die, die nicht schon da oben sterben, ins Wasser hinabspringen, hier oder weiter unten, denn das kleine Volk wird sich erheben und über sie herfallen. Der Waingunga aber ist hungriges Wasser, und kein Kaa wird dasein, um sie in der reißenden Strömung oben zu halten. Die dann noch am Leben bleiben, werden abwärtstreiben bis zu dem seichten Wasser bei den Sionihöhlen; und dort mag dein Pack sie bei der Gurgel fassen.«

»Ahai! Eowawa! Besseres kann es nicht geben, bis die Regen fallen in der trockenen Jahreszeit. Bleibt nur noch das bißchen Rennen und Springen. Genau kennenlernen sollen mich die Dolen, so daß sie mir ganz dicht folgen werden.«

»Hast du dir die Felsen angesehen über dir, von der Landseite aus?«

»Nein – das vergaß ich.«

»So lauf denn hin und schau! Verwitterter Grund ist überall, zerrissen und voller Löcher. Setzest du einen der Füße plump und achtlos nieder, so ist es aus mit der Jagd. Sieh, ich lasse dich hier; um deinetwillen allein will ich den Wölfen Nachricht bringen, damit sie wissen, wo die Dolen zu treffen sind. Was mich betrifft, so bin ich mit keinem Wolf von einer Haut.«

Wenn eine Bekanntschaft Kaa mißfiel, konnte er anzüglicher werden als sonst einer in der Dschungel, Baghira vielleicht ausgenommen. Er schwamm stromabwärts, hielt dem Rätefelsen gegenüber und erblickte Phao und Akela, die den Geräuschen der Nacht lauschten.

»Hssh!! Hunde!« rief er leichthin. »Die Dolen werden den Strom herabkommen. Bei den seichten Wassern könnt ihr sie anpacken, wenn ihr keine Angst habt.«

»Wann kommen sie?« fragte Phao. »Und wo ist mein Menschenjunges?« fragte Akela.

»Sie kommen, wenn sie kommen«, höhnte Kaa. »Immer schön abwarten. Und was dein Menschenjunges angeht, dem du sein Wort abgenommen und es so dem Tode vorgelegt hast – dein Menschenjunges ist bei mir, und wenn es noch nicht tot ist, so ist das nicht dein Verdienst, gebleichter Hund! Wartet hier auf die Dolen und seid froh, daß das Menschenjunge und ich auf eurer Seite stehen.«

Blitzschnell schwamm Kaa wieder stromaufwärts, legte sich in der Mitte der Schlucht vor Anker und schaute aufwärts nach dem Rand der Felswand. Plötzlich gewahrte er Moglis Kopf gegen die Sterne, ein Sausen erklang in der Luft, dann folgte der heftige Aufprall eines Körpers, der mit den Füßen voran herunterfiel. Im nächsten Augenblick schon ruhte der Knabe wieder in Kaas Umschlingung.

»Bei Nacht ist das kein schöner Sprung«, sagte Mogli ruhig. »Zweimal so hoch sprang ich schon zum Vergnügen; aber ein schlechter Platz ist dort oben – niedriges Gestrüpp, Spalten und Löcher, die tief hineingehen, alles voll vom kleinen Volk. Dicke Steine habe ich zur Seite von drei Spalten aufgeschichtet. Die will ich beim Laufen mit den Füßen umstoßen, und das kleine Volk wird dann in heller Wut hinter mir aufsteigen.«

»Menschenrede und Menschenlist ist das«, sagte Kaa. »Weise bist du, aber wütend ist das kleine Volk immer.«

»Nein, im Zwielicht ruhen alle Flügel eine Weile weit und breit. Im Zwielicht dann spiele ich mit den Dolen, denn am besten jagt der Dole am Tage. Jetzt folgt er Won-tollas Blutspur.«

»Tschil läßt nicht von einem toten Ochsen und der Dole nicht von einer Blutspur«, sagte Kaa.

»Eine frische Blutfährte will ich ihnen legen, von ihrem eigenen Blut – Dreck sollen sie fressen. Du bleibst hier, Kaa, bis ich zurückkehre mit den Dolen?«

»Gewiß, aber wenn sie dich in der Dschungel schlagen oder das kleine Volk dich tötet, ehe du hinunterspringen kannst?«

»Wenn Morgen kommt, dann jagen wir für morgen«, sagte Mogli, einen Dschungelspruch anführend. »Und bin ich tot, dann ist es Zeit, das Totenlied zu singen. Gute Jagd, Kaa!«

Er löste den Arm vom Nacken des Pythons, ließ sich, steif wie ein Brett, durch die Schlucht treiben, steuerte einem fernen Ufer zu, wo er seichtes Wasser fand, und lachte laut vor Freude. Nichts liebte Mogli mehr, wie er selber sagte, als »den Tod am Bart zu zupfen«, und der Dschungel zu zeigen, daß er der Oberherr war. Oft hatte er mit Balus Hilfe Bienennester auf einzelstehenden Bäumen ausgenommen und wußte daher, daß das kleine Volk heftige Abneigung gegen den Geruch des wilden Knoblauchs hatte. Er sammelte ein Bündel davon, band es mit Rindenbast zusammen und folgte dann Won-tollas Blutspur, die von den Höhlen aus etwa fünf Meilen südwärts verlief. Dabei blickte er geneigten Kopfes in die Wipfel der Bäume und kicherte leise.

»Mogli, der Frosch, bin ich gewesen«, sagte er zu sich. »Mogli, der Wolf, bin ich, wie ich gelobt. Mogli, der Affe, muß ich jetzt sein, bevor ich Mogli, der Bock, werde. Zuletzt aber bin ich Mogli, der Mensch. Hoho!« Und er strich mit dem Daumen über die achtzehn Zoll lange Schneide seines Messers.

Die blutgetränkte schwarze Fährte Won-tollas lief durch einen Wald dichtstehender, starkstämmiger Bäume, der sich nach Nordosten zog. Allmählich lichter und lichter werdend, endete er zwei Meilen vor dem Bienenfelsen. Vom letzten Stamm aus bis zum Beginn des niederen Gestrüpps der Bienenfelsen war offenes Land, wo kaum ein Wolf hätte Deckung finden können. Mogli trabte unter den Bäumen hin und prüfte die Entfernungen zwischen Ast und Ast; mitunter erklomm er einen Stamm und sprang versuchsweise von einem Baum auf den anderen, bis er auf das offene Land kam, das er eine Stunde lang sorgfältig erforschte. Dann wandte er sich um, nahm Won-tollas Fährte wieder auf, da, wo er sie verlassen hatte, und stieg zuletzt auf einen Baum mit einem weitausladenden Ast, der etwa acht Fuß vom Boden entfernt war. Dort hängte er das Bündel Knoblauch an eine sichere Stelle, setzte sich nieder, schärfte sein Messer an der Fußsohle und summte leise vor sich hin.

Kurz vor Mittag, da die Sonne heiß brannte, vernahm er Pfotengetrappel und witterte den unerträglichen Gestank des Dolenpacks, die rastlos auf Won-tollas Fährte dahintrotteten. Von oben gesehen, scheint der rote Dole nicht halb so groß wie ein Wolf, aber Mogli wußte, wie stark Beine und Kiefer der Dolen sind. Nun sah er den spitzen, rotbraunen Kopf des Führers, der auf der Fährte spurte, und bot ihm »Gute Jagd«.

Das Tier blickte nach oben, und hinter ihm hielten die Packs; Horden auf Horden roter Hunde mit tiefhängenden Ruten, schweren Schultern, schwachen Lenden und blutigen Schnauzen. Die Dolen sind für gewöhnlich ein schweigsames Volk und haben keine Lebensart, selbst nicht in ihrer eigenen Dschungel. Ganze zweihundert mußten sich unter Mogli versammelt haben, und er konnte sehen, wie die Führer hungrig an Won-tollas Spur schnüffelten und versuchten, das Pack vorwärtszutreiben. Aber das durfte nicht sein; denn sonst hätten sie schon im hellen Tageslicht die Lager der Wölfe erreicht, und Mogli gedachte, sie unter seinem Baum bis zum Einbruch der Dämmerung festzuhalten.

»Wer hat euch erlaubt, hier in dieser Dschungel zu jagen?« fragte Mogli.

»Alle Dschungel sind unsere Dschungel«, kam die Antwort, und der Dole, der sie gab, fletschte seine weißen Zähne. Grinsend schaute Mogli hinab und ahmte täuschend das scharfe Tschittertschatter von Tschikai, der Springratte des Dekkan, nach – gab damit zu verstehen, daß die Dolen um nichts höher ständen als eben Tschikai, die Ratte. Das Pack drängte sich um den Baum zusammen, der Führer bellte wütend und nannte Mogli einen Baumaffen. Als Antwort streckte dieser sein nacktes Bein hinunter und bewegte die haarlosen Zehen gerade über dem Kopf des Leithundes. Das war genug und mehr als genug, um das Pack zu blinder Wut aufzureizen. Sie, die Haare haben zwischen den Zehen, lieben durchaus nicht, daran erinnert zu werden. Als der Führer hochsprang und schnappte, zog Mogli blitzschnell den Fuß zurück und sagte dann in höhnischem Ton: »Hund, roter Hund! Kehre heim, geh' nach dem Dekkan und friß Eidechsen dort. Geselle dich zu Tschikai, deinem Bruder, Hund, Hund, roter Hund! Haare hat er zwischen allen Zehen!«

Wieder hielt er ihm seine Zehen entgegen.

»Komme herab, eh wir dich aushungern, haarloser Affe!« bellte wütend das Pack, und das gerade bezweckte Mogli. Er streckte sich auf dem vorspringenden Ast aus, drückte die Wange gegen die Rinde, ließ den rechten Arm frei und hielt den Dolen eine Rede darüber, was er von ihnen dachte und wußte, von ihrer Art, ihren Gewohnheiten, ihren Hündinnen und Jungen. Keine Sprache der Welt ist so giftig und kränkend wie die Sprache der Völker der Dschungel, um Hohn und Verachtung zu zeigen. In der Tat, wie Mogli zu Kaa sagte: viele kleine Stacheln und Dornen saßen ihm unter der Zunge; und langsam, bedachtsam trieb er die Dolen vom Schweigen zum Knurren, vom Knurren zum Heulen und vom Heulen zu heiserer, schäumender Raserei. Sie versuchten den Spott zu erwidern, aber ebensowenig hätte ein Wolfsjunges dem rasenden Kaa zu antworten vermocht.

Während der ganzen Zeit lag Moglis Hand geballt an seiner Seite, zum Zupacken bereit, während die Füße fest den Ast umklammert hielten. Der große rotbraune Führer war schon mehrmals hoch in die Luft gesprungen, aber Mogli wollte keinen unsicheren Griff wagen. Schließlich aber kam der Hund, von seiner Wut bis zum Äußersten getrieben, mit einem gewaltigen Satze sieben oder acht Fuß vom Boden hoch. Im gleichen Augenblick schoß Moglis Hand vor wie der Kopf einer Baumschlange und packte den Dolen im Genick. Unter der doppelten Last bog sich der Ast tief hinunter, schwankte heftig und hätte Mogli fast zu Boden geworfen; aber der Knabe hielt fest, und Zoll um Zoll zerrte er die Bestie hoch, die zuletzt wie ein ertrunkener Schakal über dem Aste hing. Nun faßte Mogli mit der linken Hand das Messer, trennte mit einem Hieb die rote, buschige Rute vom Rumpf und schleuderte dann mit einem Schwung den Dolen hinab auf die Erde. Mehr brauchte es nicht. Jetzt nahm das Pack nicht eher wieder die Fährte Won-tollas auf, bis sie Mogli getötet hatten oder er sie. Von oben sah er, wie sie sich mit zitternden Flanken im Kreise niederließen; das bedeutete, daß sie verharren würden bis zum letzten. So kletterte er auf einen höheren Ast, setzte sich bequem in einer Gabelung zurecht und – schlief ein.

 

Nach drei bis vier Stunden erwachte er und zählte die Packs. Alle waren noch da, schweigend mit gesträubten Haaren und stahlhart glitzernden Augen. Allmählich sank die Sonne. In einer halben Stunde würde das kleine Volk der Felsen mit seinen Arbeiten aufhören – und wie ihr wißt, kämpft der Dole nicht gut im Dämmerlicht.

»So treue Wächter hätte ich kaum gebraucht«, rief er höflich und stand von seinem Aste auf, »aber ich will es euch nicht vergessen. Echte Dolen seid ihr; mich dünkt jedoch, ihr gleicht euch alle zu sehr um ein Haar. Deshalb gebe ich dem großen Eidechsenfresser seinen Schweif nicht zurück. Freut dich das nicht, Rothund?«

»Ich selber reiße den Wanst dir aus«, heulte der Führer und kratzte wütend am Stamm des Baumes.

»Aber bedenke doch, weiße Ratte des Dekkan, viele Würfe kleiner, roter schwanzloser Hunde kommen jetzt zur Welt – ja, ja, mit rohen roten Stümpfen, die schmerzen, wenn der Sand heiß ist. Kehre heim, roter Hund, künde überall, daß ein Affe das tat. Du magst nicht? Nun, folge mir, und – weise wirst du werden.«

Nach Affenart schwang er sich auf den nächsten Baum, von da zum nächsten und wieder zum nächsten; das Pack aber folgte ihm mit erhobenen Schädeln. Ab und zu tat er so, als ob er fiele; dann purzelte das Pack wild durcheinander in der Hast, beim Töten zur Stelle zu sein. Es war ein seltsamer Anblick: der Knabe hoch oben mit dem Messer, das in der sinkenden Sonne zwischen den Zweigen blitzte, und unten das schweigende Pack mit den vom Abendschein rötlich flammenden Rücken, das ihm drängend und stoßend folgte. Als er den letzten Baum erreicht hatte, nahm er den Knoblauch und rieb sich über und über gründlich damit ein. Die Dolen unten heulten wütend. »Du Affe mit der Zunge des Wolfes, glaubst du deinen Geruch zu übertäuben? Uns täuschest du nicht, wir folgen dir bis in den Tod.«

»Da, nimm deinen Schwanz zurück!« rief Mogli und warf ihn rückwärts in Richtung des Waldes. Instinktmäßig jagte das Pack ihm nach. »Und nun folgt mir bis in den Tod!«

Rasch glitt er vom Baumstamm hinab und flog wie der Wind barfuß dahin, dem Bienenfelsen zu, ehe die Dolen es merkten.

Tief heulten sie auf und folgten dann in dem langen, springenden Dauergalopp, der alles Lebendige niederrennt. Mogli wußte, daß ihr Packlauf doch viel langsamer war als der der Wölfe, sonst hätte er wohl kaum gewagt, in voller Sicht zwei Meilen vor ihnen her zu laufen. Sicher waren sie, daß der Knabe ihnen doch schließlich zur Beute wurde; und er war sicher, nach Belieben mit ihnen spielen zu können. Seine einzige Sorge war nur, daß er sie in heißer Wut hinter sich hielt, damit sie nicht etwa zu früh von der Fährte abdrehten. Gleichmäßig, geschickt, elastisch wie eine Sprungfeder lief er dahin, der schwanzlose Führer kaum fünf Meter hinter ihm; und ihm nach tobte das Pack, toll und blind vor Blutgier, wohl eine halbe Meile über das Land ausgebreitet. Mit dem Gehör hielt er stets den gleichen Abstand und sparte die letzte Kraft für den Sprung über den Bienenfelsen.

Das kleine Volk war schon bei erster Dämmerung zur Ruhe gegangen, denn die Jahreszeit der spätblühenden Blumen war vorüber; aber als Moglis erste Tritte auf hohlem Boden hallten, hörte er einen Ton, als ob die ganze Erde unter ihm summte und brummte. Da lief er, wie er noch nie in seinem Leben zuvor gelaufen, stieß mit vorbeieilendem Fuß einen – zwei – drei Steinhaufen um, hinab in die dunklen, süßlich riechenden Spalten, hörte ein Brausen wie das Brausen anwogender Springfluten, sah aus dem Winkel des Auges hinter sich die Luft sich verfinstern, sah unter sich tief den wirbelnden Lauf des Waingunga und einen flachen, diamantgeformten Kopf in dem Wasser. Da sprang er mit aller Kraft vorwärts, sah noch den schwanzlosen Dolen in der Luft nach seiner Schulter schnappen – dann stürzte er, Füße voraus, in die Tiefe und erreichte atemlos und triumphierend den rettenden Strom. Nicht ein Stich war an seinem Körper; der Knoblauchgeruch hatte das kleine Volk gerade für die wenigen Sekunden zurückgehalten, die er brauchte, um über die Felsen hinwegzukommen. Als er hochstieg, umfaßten ihn Kaa's Ringe und stützten ihn. Über den Rand aber der Klippen stürzten schwarze Massen hernieder – große Klumpen schwärmender Bienen, die wie Senkblei fielen; aber ehe ein Klumpen das Wasser berührte, flogen die Bienen auf, und der Körper des Dolen wirbelte stromabwärts. Von oben hörte man wütende, kurze Schreie, die im gewaltigen Brausen erstickten – dem Getöse der Flügel des kleinen Volkes von den Felsen. Viele Dolen waren auch in die Spalten geraten, die zu den unterirdischen Höhlen führten, zappelten, schnappten und erstickten unter den ausfließenden Honigwaben; tot wurden sie dann hochgedrückt von den schwellenden Bienenwogen unter ihnen und schossen an irgendeinem Loch an der Stromseite hervor, um aufklatschend in die schwarzen Schutthaufen zu fallen. Andere Dolen sprangen zu kurz, blieben im Gesträuch an der Felswand hängen und waren bald über und über von Bienen bedeckt. Die Mehrzahl aber, durch Stiche rasend gemacht, stürzte sich in den Fluß und – wie Kaa sagte: ein hungriges Wasser war der Waingunga. Kaa hielt Mogli fest, bis der Knabe wieder zu Atem kam.

»Hier dürfen wir nicht bleiben«, sagte er dann, »wahrlich, die kleinen Völker sind schwer gereizt. Komm!«

Tief schwimmend und untertauchend, so oft er konnte, trieb Mogli stromabwärts, das Messer in der Hand.

»Sachte, sachte!« rief Kaa. » Ein Zahn kann nicht Hunderte töten, es sei denn der Zahn einer Kobra. Viele Dolen stürzten sich rasch ins Wasser, als sie das kleine Volk aufbrausen sahen, und die sind unverletzt.«

»Um so mehr also Arbeit für mein Messer. Hai! Wie die kleinen Völker folgen.« Mogli tauchte unter. Über der ganzen Wasserfläche schwebten Wolken tückisch summender Bienen, die alles stachen, was sie fanden.

»Schweigen hat noch niemals geschadet«, sagte Kaa – kein Stachel konnte durch seine Haut dringen –, »und du hast die ganze lange Nacht zur Jagd. Hör, wie sie heulen!«

Beinahe die Hälfte des Packs hatte die Falle rechtzeitig bemerkt, in die ihre Gefährten fielen. Sie bogen rasch seitwärts ab und stürzten sich ins Wasser, da, wo die Schlucht jäh zum Fluß abfiel. Wutgeschrei, Drohung gegen den Baumaffen, der ihnen diese Schande angetan, mischten sich mit dem Geheul und Gejaul derer, die von dem kleinen Volk gepeinigt wurden. Am Ufer zu bleiben, bedeutete sicheren Tod, das wußte jeder Dole. Das Pack wurde von der Strömung fortgerissen, den tiefen Strudeln des Friedensfelsens zu, doch selbst dorthin folgte ihnen das wütende kleine Volk und zwang sie bei Landungsversuchen wieder ins Wasser. Mogli konnte die Stimme des schwanzlosen Führers vernehmen, der den Dolenvölkern befahl, jeden Wolf in Sioni zu töten. Aber er verlor seine Zeit nicht mit Lauschen.

»Hinter uns mordet einer im Dunkeln«, keuchte ein Dole. »Das Wasser hier ist rot gefärbt.«

Mogli war der Otter gleich vorwärts getaucht und zerrte einen zappelnden Dolen unter Wasser, bevor dieser den Rachen zu öffnen vermochte; dunkle, ölige Kreise zeigten sich auf dem Wasser, als der Körper wieder hochkam und, sich drehend, davontrieb. Die Dolen versuchten umzuwenden, die Strömung jedoch war stärker; das kleine Volk stürzte sich auf ihre Köpfe und Ohren; von fern her aber scholl der Schlachtruf des Sionipacks immer lauter und tiefer mit wachsender Dunkelheit. Wieder tauchte Mogli, wieder sank ein Dole unter und stieg tot nach oben; abermals brach das Klagegeschrei aus im Nachtrab der Dolen – manche rieten heulend zur Landung, andere brüllten dem Führer zu, sie heimwärts zu führen, zum Dekkan, wieder andere drohten Mogli Mord und Tod.

»Zum Kampfe kommen sie mit zwei Wänsten und vielen Stimmen«, bemerkte Kaa spöttisch. »Den Rest mögen deine Brüder dort unten besorgen. Das kleine Volk kehrt heim, um zu schlafen. Weit hetzten sie uns. Nun kehre auch ich um, denn mit keinem Wolf bin ich von einer Haut. Gute Jagd, kleiner Bruder, und denke daran, die Dolen beißen immer tief, nicht hoch.«

Ein Wolf lief am Ufer entlang auf drei Läufen, sprang auf und nieder, legte sich flach auf die Seite, krümmte den Rücken und warf sich hoch in die Luft, als ob er mit seinen Jungen spielte. Der Auslieger war es, Won-tolla, er sprach kein Wort und fuhr fort mit dem grausigen Spiele neben den Dolen. Lange waren diese nun schon im Wasser, schwammen ermüdet, ihr Fell war durchweicht und schwer, ihre buschigen Schwänze tropften wie vollgesogene Schwämme – so müde und matt waren sie, daß auch sie schwiegen und nach dem funkelnden Augenpaar starrten, das sie am Ufer begleitete.

»Das ist keine gute Jagd«, keuchte ein Dole.

»Gute Jagd!« rief Mogli, an der Flanke des Tieres hochsteigend, und rannte ihm das lange Messer zwischen die Schultern, stieß kraftvoll nach, um dem Todesschnappen zu entgehen. »Bist du da, Menschenjunges?« rief Won-tolla über das Wasser hin.

»Frage die Toten, Auslieger!« antwortete Mogli. »Sind etwa keine den Strom herabgekommen? Ich habe diese Hundemäuler mit Dreck gefüllt, habe am hellen Tage meine Possen mit ihnen getrieben, und ihr Führer braucht dringend einen neuen Schweif. Einige aber sind noch für dich übriggeblieben, wohin soll ich sie hetzen?«

»Ich will warten«, sagte Won-tolla. »Die tiefe Nacht kommt, dann sehe ich scharf.«

Näher und näher drang der Schlachtruf der Sioniwölfe. »Für das Pack, für das volle Pack! Wir sind alle dabei!« Um eine weitere Biegung des Stromes trieben die Dolen und stießen nun auf die Sandbänke und Untiefen gegenüber den Höhlen der Sioniwölfe.

Nun erst erkannten sie ihren Fehler. Sie hätten eine halbe Meile stromaufwärts an Land gehen müssen, um die Wölfe auf trockenem Boden zu überrumpeln. Zu spät war das jetzt. Überall am Ufer blinkten flammende Augen, lautlos lag die Dschungel, nur der furchtbare Phialschrei durchschnitt unaufhörlich die Luft seit Sonnenuntergang. Won-tolla schien sie an Land zu locken, und: »Wendet und packt zu!« befahl der Führer den Dolen. Das gesamte Pack drängte sich dem Ufer zu, preschte und sprühte durch seichtes Gewässer, bis die Fläche des Waingunga weißschäumend von Ufer zu Ufer wogte, wie Wellen um den Bug eines Schiffes. Mogli folgte dem Schwarm, stach und tötete. Wie eine breite Woge ergossen sich die Dolen über den Uferrand.

Dann begann der schwere Kampf. Anschwellend, tosend, sich zusammendrängend und wieder auseinanderstrebend, tobte die Schlacht über roten nassen Sand, über und zwischen verschlungenen Baumwurzeln, durch dichtes Gestrüpp und über Grashügel; denn auch jetzt noch kamen auf jeden Wolf zwei Dolen. Aber Wölfe trafen sie, die für das Leben des Packs kämpften. Nicht nur die kurzen, hohen, breitbrüstigen, weißzähnigen Jäger des Rudels waren dabei, sondern auch die bangäugigen Lahinis, die Wölfinnen von den Lagern, fochten mit für den Wurf; hier und da auch ein Jährlingswolf, im ersten wolligen Fell noch, zerrte und schnappte an ihrer Seite. Wie man weiß, packt der Wolf die Kehle an oder schnappt nach der Flanke, während der Dole mit Vorliebe tief unten in den Leib beißt. So waren die Wölfe im Vorteil, solange die Dolen, aus dem Wasser strebend, die Köpfe hochhalten mußten. Auf trockenem Boden aber hatten die Wölfe mehr zu leiden.

Ohne Unterlaß arbeitete Moglis Messer im Wasser wie auf dem Lande. Seine vier Wölfe hatten sich bis zu ihm durchgeschlagen. Graubruder kauerte zwischen den Knien des Knaben und beschützte so seinen Leib; die anderen deckten ihm Rücken und Seiten oder standen über ihm, wenn der Anprall eines heulenden, springenden Dolen, der sich blindlings in die Klinge stürzte, ihn niederwarf. Alles übrige war verwickelter Wirrwarr, ein verbissenes, verhaktes, schwankendes Knäuel, das sich von rechts nach links, von links nach rechts am Ufer schob und sich langsam rund um sich selbst drehte. Hier hob sich ein lebendiger Hügel, wie eine Wasserblase auf dem Strudel, platzte dann und spie vier oder fünf verstümmelte Hunde aus, die sich erneut in den Kampf warfen. Dort wurde ein einzelner Wolf von drei Dolen niedergerungen, schleifte sie aber zähe mit sich, bis er umsank; oder ein Jährlingswolf, bei Beginn des Kampfes getötet, wurde durch den Druck emporgehoben, während die Mutter, irrsinnig vor Wut, sich schnappend überschlug und weitergezerrt wurde. In der Mitte der Ballung stand manchmal ein einzelner Wolf gegen einen einzelnen Dolen: alles vergessend ringsum, umschlichen sie sich giftig, auf den ersten Zubiß lauernd, und wurden dann plötzlich im Wirbel blutiger Kämpfe fortgerissen. Einmal stieß Mogli auf Akela, dem ein Dole an jeder Flanke hing, während er seine fast zahnlosen Kiefer in die Lenden eines dritten eingeschlagen hatte. Mogli sah auch Phao, der die Zähne in die Gurgel eines Dolen verbissen hatte und das sich sträubende Tier zu den Jährlingen hinzerrte, die es abtaten. Der Kampf war jetzt ein wild sich drehender Strudel im Dunkel der Nacht. Schlagen, Stoßen, Stürzen, Geschrei, Gestöhn waren um Mogli, schlurfendes Schleifen vor ihm, über ihm.

 

Mit fortschreitender Nacht nahm die schwindelerregende Kreiselbewegung noch an Geschwindigkeit zu. Aber die Dolen waren ermattet, fürchteten sich, die stärkeren Wölfe anzugreifen, und wagten trotzdem noch nicht zu fliehen. Mogli fühlte das Ende des Kampfes herannahen, begnügte sich deshalb damit, zu schlagen und die Hunde kampfunfähig zu machen. Verwegener wurden die Jährlinge; Zeit blieb jetzt, hin und wieder Atem zu schöpfen und einem Freund etwas zuzurufen. Das Aufblitzen des Messers reichte schon aus, um einen Dolen fortzutreiben.

»Viel Fleisch ist nicht mehr auf den Knochen«, jappte Graubruder. Er blutete aus zwanzig Wunden.

»Aber der Knochen ist noch zu knacken«, sagte Mogli. »Aowawa! So schaffen wir von der Dschungel!« die rote Klinge fuhr wie züngelnde Lohe an der Flanke eines Dolen entlang, dessen Kruppe verdeckt war von einem umklammernden Wolf.

»Meine Beute«, schnaubte der Wolf durch gekrampfte Nüstern. »Laß ihn mir!«

»Ist dein Wanst noch leer, Auslieger?« fragte Mogli. Won-tolla war furchtbar zugerichtet, aber sein Biß hatte den Dolen gelähmt, der sich nicht mehr drehen und ihn erreichen konnte.

»Bei dem Bullen, für den Baghira mich in das Rudel einkaufte«, rief Mogli mit bitterem Lachen, »der Schwanzlose ist es!« Wirklich war es der große rotbraune Führer.

»Weise ist es nicht, Wolfsjunge und Lahinis zu töten«, fuhr Mogli philosophisch fort und wischte sich das Blut aus denAugen, »außer man mordet zugleich auch den Auslieger; und es ist mir im Wanst, daß dieser Won-tolla dich töten wird.«

Ein Dole sprang dem Führer zu Hilfe; aber ehe seine Zähne Won-tollas Flanke erreichten, steckte ihm Moglis Messer in der Kehle. Graubruder erledigte ihn vollends.

»Und so schaffen wir in der Dschungel!« rief Mogli.

Won-tolla sagte kein Wort, sein Leben verrann, aber seine Zähne schlossen sich fester und fester. Der Dole erschauerte, sein Kopf sank. Still lag er; Won-tolla brach über ihm zusammen.

»Ha! die Blutschuld ist gezahlt«, sagte Mogli. »Singe den Sang, Won-tolla.«

»Er jagt nicht mehr«, murmelte Graubruder. »Auch Akela ist seit langem still.«

»Zerknackt ist der Knochen«, donnerte Phao, Sohn des Phaona. »Sie fliehen! Tötet ohne Gnade, ihr Jäger vom freien Volk!«

Dole nach Dole schlich fort von den düsteren, bluttriefenden Gestaden des Stroms, der dichten Dschungel zu, stromaufwärts oder -abwärts, wo immer ein Weg zur Flucht sich fand.

»Die Schuld! Die Schuld!« schrie Mogli. »Zahlet die Schuld! Den Einsiedelwolf mordeten sie! Kein Hund darf entkommen!« An den Strand flog er mit dem Messer in der Hand, um jeden Dolen niederzustechen, der zum Wasser wollte. Da erhob sich unter einem aus Toten geschichteten Berge Akela auf die Vorderläufe und reckte den Kopf. Mogli warf sich neben dem Einsiedelwolf auf die Knie.

»Sagte ich nicht, mein letzter Kampf wäre es«, röchelte Akela. »Große Jagd war es – und du, kleiner Bruder?«

»Ich lebe, ich lebe, viele tötete ich.«

»Ich weiß. Ich sterbe und will – will bei dir sterben, kleiner Bruder.« Mogli hob den schrecklich zerfleischten Kopf auf seine Knie und umschlang den zerrissenen Nacken mit den Armen.

»Weit zurück liegen die alten Tage, da Schir Khan lebte und ein Menschenjunges im Staub sich wälzte.«

»Nein, nein, Wolf bin ich – von einer Haut mit dem freien Volk«, rief Mogli. »Nicht mein Wille ist es, Mensch zu sein.«

»Mensch bist du, kleiner Bruder, Wölfling meiner Haut. Mensch bist du, sonst wäre das Pack vor den Dolen geflohen. Mein Leben verdanke ich dir, und heute hast du das Pack gerettet, wie ich dich einst rettete. Weißt du es noch? Alle Schuld ist getilgt. Gehe zu deinem eigenen Volk. Ich sage es dir noch einmal, Licht meiner Augen, zu Ende ging diese Jagd. Gehe zu deinem Volk.«

»Nein, niemals! Allein will ich jagen in der Dschungel. Ich habe gesprochen.«

»Dem Sommer folgen die Regen, den Regen folgt der Frühling. Kehre heim, ehe man dich treibt.«

»Wer wird mich treiben?«

»Mogli wird Mogli treiben. Kehre heim zu deinem Volk. Gehe zu den Menschen.«

»Wenn Mogli Mogli treibt, dann wird Mogli gehen.«

»Nichts mehr bleibt zu sagen«, sprach Akela. »Kleiner Bruder, kannst du mich auf die Läufe heben? Auch ich war Führer des freien Volkes.«

Sorglich und sanft schob Mogli die toten Körper zur Seite, richtete Akela auf und stützte ihn mit den Armen. Tief sog der Einsiedelwolf Luft in die Lungen, dann sang er das Totenlied, das ein Führer des Packs singen muß, wenn er stirbt. Kräftiger und kräftiger hob sich der Gesang, daß er weithin über den Strom schallte. Und als er an das letzte »Gute Jagd« kam, da schüttelte Akela sich von Mogli frei, sprang in die Luft, fiel zurück auf seine letzte und furchtbarste Beute – und war tot.

Gleichgültig hockte Mogli mit dem Kopf auf den Knien.

Die letzten flüchtigen Dolen wurden von den erbarmungslosen Lahinis eingeholt und niedergerissen. Allmählich erstarben die Schreie; die Wölfe kehrten zurück, hinkend, mit starrenden Wunden, und hielten Heerschau über die Toten. Fünfzehn vom Pack und ein halb Dutzend Lahinis lagen tot am Ufer, von den übrigen war nicht einer ohne Wunden.

Mogli rührte sich nicht, bis der kalte Tag anbrach und Phaos feuchte rote Schnauze sich in seine Hand legte. Da rückte Mogli beiseite, um ihm den hageren Leib Akelas zu zeigen.

»Gute Jagd!« grüßte Phao den toten Akela, als ob dieser noch lebte. Dann rief er über die eigene zerfleischte Schulter hinweg: »Heult, Hunde! Ein Wolf starb diese Nacht!«

Aber von dem gesamten Pack der zweihundert kämpfenden Dolen, den Rothunden vom Dekkan, die prahlten, alle Dschungel wären ihre Dschungel und kein lebendes Wesen könnte ihnen standhalten, kehrte nicht einer heim zum Dekkan, um von dem Kampf zu berichten.