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Das neue Dschungelbuch

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Eine Stunde danach brannten die Lampen hell in Kadlus Haus, Schneewasser wurde heiß gemacht, in den Töpfen begann es zu brodeln, und der Schnee tropfte vom Dach, als Amoraq das Mahl für das ganze Dorf bereitete. Das Knäblein in der Felljacke lutschte an einem Streifen nußsüßen fetten Transpecks, und die Jäger füllten sich langsam und sorgsam bis zum Rand mit Robbenfleisch. Kotuko und das Mädchen erzählten ihre Geschichte. Zwischen ihnen saßen die beiden Hunde, und jedesmal, wenn ihre Namen genannt wurden, spitzten sie jäh ein Ohr und sahen höchst beschämt drein. Ein Hund, der einmal toll und wieder gesund geworden, ist, wie der Innuit sagt, vor weiteren Anfällen sicher.

»Also hat uns die Tornaq nicht vergessen«, endete Kotuko seine Erzählung. »Der Sturm blies, das Eis brach, und der Seehund schwamm hinter den Fischen drein, die vor dem Sturme her trieben. Die neuen Seehundlöcher sind nicht zwei Tagesreisen von hier entfernt. Morgen sollen die guten Jäger ausziehen und die Robben holen, die ich spießte – fünfundzwanzig Leiber im Eis vergraben. Wenn wir diese aufgezehrt haben, dann wollen wir alle dem Seehund nachstellen an der Kante des Eises.«

»Was wirst du tun?« wandte sich der Zauberer an Kadlu in dem Ton, in dem er immer den reichsten der Tununirmiuten anredete.

Kadlu blickte auf das Mädchen aus dem Norden und sagte ruhig: »Wir bauen ein Haus.« Dabei wies er auf die Nordwestseite seines Hauses, denn das ist die Seite, wo der verheiratete Sohn oder die verheiratete Tochter wohnt. Das Mädchen schüttelte traurig den dunklen Kopf und kehrte die Innenflächen ihrer Hände nach oben. Eine Fremde war sie, halb verhungert hatte man sie aufgelesen, nichts konnte sie mitbringen in den Haushalt.

Da aber sprang Amoraq auf von der Schlafbank und begann allerlei Gegenstände in den Schoß des Mädchens zu werfen – Steinlampen, eiserne Hautkratzer, Blechkessel, Rehhäute, mit Moschusochsenzähnen verziert, und echte Segeltuchnadeln, wie die Seeleute sie gebrauchen. Das war die reichste Aussteuer, die man jemals an der fernen Grenze des Polarkreises mit in die Ehe gebracht hatte; und das Mädchen aus dem Norden senkte den Kopf bis zur Erde.

»Diese auch«, rief Kotuka lachend und deutete auf die beiden Hunde, die ihre kalten Schnauzen an des Mädchens Gesicht legten.

»Ahem«, machte der Angekok mit bedeutsamem Hüsteln, als ob er allein das alles bedacht hätte. »Sobald Kotuko das Dorf verlassen hatte, ging ich in das Singhaus und sang dort Zauberlieder. Die langen einsamen Nächte hindurch sang ich und beschwor den Geist des Rens. Mein Gesang aber erregte den Sturm, der das Eis aufbrach, und zog die zwei Hunde in Kotukos Nähe, sonst hätte das Eis seine Knochen zermalmt. Weiter sang ich, bis die Seehunde, vom Gesang gelockt, herzogen hinter dem geborstenen Eis. Still lag mein Leib im Quaggi, doch mein Geist schweifte umher auf dem Eise, führte Kotuko und leitete die Hunde. Ich tat alles.«

Jeder hatte sich vollgegessen und war schläfrig, so widersprach ihm keiner. Kraft seines Amtes verhalf sich der Angekok noch zu einem fetten Stück gekochten Fleisches, sank dann zurück und schlief mit den anderen in der warmen, wohlerleuchteten, trandurchdufteten Stube.

Kotuko war ein Meister der Zeichenkunst nach Innuitart, und er ritzte Bilder der überstandenen Abenteuer in ein flaches Stück Narwalhorn, mit einem Loch am Ende. Als er dann mit dem Mädchen nordwärts wanderte, in dem Jahre des wunderbaren offenen Winters, ließ er die Bildergeschichte bei Kadlu zurück; dieser aber verlor sie im Steingeröll am Strande des Netillingsees zu Nikosiring, als sein Hundeschlitten zusammenbrach. Ein Seeinnuit fand das Stück Narwalhorn im nächsten Frühjahr und verkaufte es einem Manne zu Imigen, der Dolmetscher war an Bord eines Walfischfängers in Cumberland-Sund. Dieser wieder überließ es Hans Olsen, der später Quartiermeister wurde auf einem großen Dampfer, mit dem die Touristen zum Nordkap in Norwegen fuhren. Nach Schluß der Touristensaison verkehrte der Dampfer zwischen Australien und London. Unterwegs legte er in Ceylon an, und dort verkaufte Olsen das Narwalhorn an einen singalesischen Goldschmied und erhielt dafür zwei unechte Saphire.

Ich selbst fand das Stück in einem Hause in Colombo unter altem Gerümpel und habe Kotukos Bericht von Anfang bis Ende übertragen.

Angutivun Tina

(Dies ist eine sehr freie Übersetzung des Liedes der Jäger, das sie bei der Heimkehr nach dem Seehundstechen zu singen pflegen. Die Innuits sind unermüdlich in der Wiederholung der Worte und Kehrreime.)

 
Unser Faustschuh starrt vom gefrornen Blut,
Unser Pelz vom Triebschnee weiß;
Doch wir kommen heim mit dem Robben, dem Hund,
Herein von dem Spalt im Eis.
Au jana! Aua! Oha! Haq!
Jagt die Schlittenmeute in Schweiß!
Und wir Männer all', unter Peitschenknall,
Kehren heim von dem Spalt im Eis.
Wir spürten den Robben in seinem Versteck,
Von drunten kratzte er leis;
Wir ritzten das Ziel, wir lauerten still,
Wir wachten beim Spalt im Eis.
Den Speer gezückt, da er atmen kam,
Hinab ein Stoß mit Gewalt!
So packten wir ihn, so schlugen wir ihn
Da draußen im Eisesspalt.
Unser Faustschuh klebt vom gefrornen Blut;
Der Triebschnee trübt uns den Blick,
Doch wir kommen heim, zu den Weibern heim,
Von der Eiseskant' zurück.
Au jana! Aua! Oha! Haq!
Es bellt die Meute im Schweiß.
Die Weiber hören's – die Männer sind da,
Zurück von dem Spalt im Eis!
 

Rothund

 
Jalahi, unsre wilden Rennen
    in weißer, wohliger Nacht!
Weit spüren, scharf äugen,
    schlau schleichen, gut Jagd!
Jalahi, das Wittern der Spur,
    noch frisch im tauigen Naß,
Jalahi, im Satz durch den Nebel,
    die stutzende Beute – faß!
Jalahi, der Gefährten Geheul,
    und der Hirsch, der sich keuchend stellt,
Jalahi, Wagnis und lärmender
    Kampf in der Nacht!
Jalahi, schlaf am Tag
    vor der Höhl' am Feld –
Jalahi, es gilt, in die Schlacht,
    in die Schlacht, Jalahi, o, Jalahi!
 

Nach Zerstörung des Dorfes durch die Dschungel begann für Mogli die schönste Zeit seines Lebens. Er hatte das befriedigte Bewußtsein, eine Schuld gerecht heimgezahlt zu haben; alle in der Dschungel waren gut Freund mit ihm und fürchteten ihn auch ein wenig. Was er tat, sah und vernahm auf seinen Wanderungen von einem Volk zum anderen mit seinen vier Gefährten oder allein, darüber ließen sich noch viele, viele Geschichten erzählen, jede davon vielleicht so lang wie diese. Weder also kann ich euch berichten, wie er dem rasenden Elefanten von Mandla begegnete, wie er die zweiundzwanzig Ochsen tötete, die elf Karren gemünzten Silbers zum Reichsschatz schleppte und die blinkenden Rupien im Staub verstreute; noch wie er in den Morästen des Nordens eine ganze lange Nacht mit Tschakala, dem Krokodil, kämpfte und dabei sein Jagdmesser an den Rückenplatten der Bestie zerbrach, wie er dann ein neues und längeres Messer fand, das an dem Halse eines Mannes hing, den ein wilder Eber gerissen hatte, und wie er den wilden Eber verfolgte und tötete und somit den Preis für das Messer zahlte.

Ich kann auch nicht erzählen, wie er während der großen Hungersnot in die wogenden Wildherden geriet und fast zu Tode gequetscht wurde; wie er Hathi, den Schweigsamen, vor einer Falle mit einem Spieß am Boden bewahrte, und wie er tags darauf selbst in eine geschickt versteckte Leopardenfalle geriet und Hathi die dicken Holzpfähle über ihm in Stücke brach, wie er die wilden Büffelkühe in den Sümpfen melkte, wie – – –

Aber immer nur eine Geschichte auf einmal. Vater und Mutter Wolf starben; Mogli rollte einen mächtigen Felsblock vor den Eingang ihrer Höhle und sang das Totenlied über ihnen. Balu wurde immer älter und steifer; und selbst Baghira, der Nerven von Stahl und Muskeln von Eisen hatte, schien ein wenig langsamer zu werden beim Jagen. Akelas Fell verfärbte sich vom Grau zum milchigen Weiß vor Alter, die Rippen traten hervor, er lief, als wäre er aus Holz geschnitzt, und Mogli schlug für ihn die Beute. Aber die jungen Wölfe, die Kinder des aufgelösten Sionipacks, gediehen und wuchsen heran; und als ihrer etwa vierzig waren, führerlose, flinkfüßige, starkstimmige Fünfjährlinge, riet ihnen Akela, sich zusammenzuschließen, dem Gesetz zu gehorchen und sich einen Führer zu erwählen, wie es dem freien Volk geziemt.

Mogli mischte sich nicht ein in diese Sache; er habe saure Frucht gegessen, sagte er, und kenne den Baum, an dem sie hing. Aber als Phao, Sohn des Phaona (sein Vater war der graue Fährtensucher in den Tagen von Akelas Führung), sich seinen Platz als Führer des Packs nach dem Gesetz erkämpft hatte und als unter den Sternen die alten Rufe und die alten Gesänge wieder ertönten, da kam Mogli zu dem Rätefelsen um lieber Erinnerungen willen. Wenn es ihm beliebte, zu dem Pack zu sprechen, wartete alles, bis er geendet hatte, und er saß neben Akela auf dem Felsen, über Phao. Damals waren noch Tage guter Jagd und guten Schlafes. Kein Fremder wagte, in die Dschungel einzudringen, die Moglis Volk, wie sie das Pack nannten, gehörten; die jungen Wölfe wurden fett und stark, und viele Wolfsjunge brachte man zur Musterung. Immer war Mogli bei solchen Musterungen zugegen, denn er erinnerte sich an die Nacht, da ein schwarzer Panther ein Menschenjunges in das Pack einkaufte; und der langgezogene Ruf: »Schauet, schauet scharf, ihr Wölfe!« ließ sein Herz erbeben in wundersamem Gefühle. Sonst aber schweifte er immer weit umher in der tiefen Dschungel mit den vier Brüdern, eräugte, ertastete, schmeckte und erlebte Neues.

Eines Tages trottete er im Dämmerlicht gemächlich hin über die Hügel, um Akela die Hälfte eines Bockes zu bringen, den er erlegt hatte, und hinter ihm trabten seine vier Wölfe, balgten sich und purzelten übereinander aus lauter Freude am Leben. Da vernahm er plötzlich einen Schrei, wie er ihn seit den bösen Tagen Schir Khans nicht mehr gehört hatte. Es war, was sie in der Dschungel den »Phial« nennen, eine Art grausiges Gekreisch, wie es der Schakal ausstößt, wenn er hinter dem Tiger jagt oder wenn ein großes Reißen im Gange ist. Stellt euch eine Mischung aus Haß, Triumph, Furcht und Verzweiflung vor, durchsetzt von Hohngelächter, so habt ihr ungefähr einen Begriff von dem Phial, der anschwoll und sank, zitterte und schwankte von ferne über den Waingunga her. Die vier Wölfe hielten auf der Stelle an, sträubten das Haar und knurrten. Moglis Hand fuhr nach dem Messer, er stutzte, Blut schoß ihm in den Kopf, und die Brauen zogen sich düster zusammen.

 

»Kein Gestreifter würde es wagen, hier auf Beute zu hetzen«, sagte er.

»Das ist nicht der Schrei des Verfolgers«, rief Graubruder. »Ein großes Töten ist es. Horch!«

Wieder brach es los, halb schluchzend, halb kichernd, als ob der Schakal weiche, menschliche Lippen hätte. Da atmete Mogli tief auf und lief zum Rätefelsen, eilende Wölfe vom Pack auf dem Wege überholend. Phao und Akela saßen zusammen oben auf dem Felsen, und unter ihnen, jeden Nerv gespannt, hockten die anderen. Die Mütter und die Jungen galoppierten den Höhlen und Lagern zu; denn wenn der Phial ertönt, ist es für Schwache nicht Zeit, umherzustreifen.

Nichts hörten sie jetzt als das Rauschen und Gurgeln des Waingunga in der Dunkelheit und das Rascheln des Abendwindes in den Wipfeln der Bäume – da drang plötzlich der Ruf eines Wolfes über den Strom. Kein Wolf vom Pack war es, denn alle lagerten vollzählig um den Felsen. Der Ruf ging über in ein langgezogenes, verzweifeltes Bellen, und »Dole« klang es, »Dole, Dole, Dole!« Man hörte das Schlurfen müder Füße auf dem Felsen, und dann kam ein hagerer, triefender Wolf mit blutigroten Streifen an den Flanken, zerfetzter rechter Vorderpfote und Schaum vor dem Maule in den Kreis gestürzt und sank stöhnend zu Moglis Füßen nieder.

»Gute Jagd! Unter wessen Führung?« fragte Phao feierlich.

»Gute Jagd! Won-tolla bin ich«, war die Antwort. Das hieß, daß er ein Einsiedelwolf war, der mit seiner Wölfin und seinen Jungen im einsamen Lager lebte. Won-tolla bedeutet »Auslieger«, der getrennt lagert von jeglichem Pack. Er keuchte schwer, und man konnte sehen, wie jeder Herzschlag seinen Körper durchschüttelte.

»Was regt sich?« fragte Phao – das ist die Frage der Dschungel, wenn der Phial durch die Wälder gellt.

»Der Dole, der Dole vom Dekkan – Rothund, der Mörder! Von Süden nach Norden zogen sie, sprachen, der Dekkan wäre leer; nun töten sie alles auf ihrem Wege. Vier gehörten zu mir, als dieser Mond neu war, meine Wölfin und drei Junge. Töten lehrte sie die Jungen auf den Wiesengründen, sich verbergen, um den Bock anzuschleichen, wie wir es tun, die auf den Lichtungen leben. Um Mitternacht noch hörte ich sie vollzählig zusammen auf der Fährte. Beim Morgengrauen fand ich sie steif im Gras – vier, freies Volk, vier, als dieser Mond neu war! Da suchte ich mein Blutrecht und stieß auf die Dolen.«

»Wie viele?« fragte Mogli rasch; das Pack knurrte tief in den Kehlen.

»Ich weiß nicht. Drei von ihnen werden nicht mehr morden; zuletzt trieben sie mich wie den Bock, auf drei Beinen hetzten sie mich. Seht her, freies Volk!«

Er streckte den zerfleischten Vorderlauf aus, schwarz war er von geronnenem Blut. Seine Flanken waren aufgerissen durch grausame Bisse, Hautfetzen hingen ihm an der Kehle.

»Friß«, sagte Akela und stand auf von dem Fleisch, das Mogli ihm gebracht hatte. Der Auslieger stürzte sich heißhungrig darüber.

»Kein Verlust soll es für euch sein«, sagte er demütig, als die erste Schärfe seines Hungers gestillt war. »Gebt mir ein wenig Kraft, freies Volk, und ich will mit euch töten! Da dieser Mond neu war, war mein Lager voll – jetzt ist es leer, und die Blutschuld ist noch nicht gezahlt.«

Phao hörte, wie seine Zähne einen Hüftknochen zerknackten, und knurrte beifällig.

»Solche Kiefer werden wir brauchen können«, sagte er. »Waren Junge mit den Dolen?«

»O nein! Rote Jäger alle – ausgewachsene Hunde ihres Packs, schwer und stark, wenn sie auch im Dekkan Eidechsen fressen.«

Die Meldungen Won-tollas besagten, daß die Dolen, die roten Jagdhunde des Dekkans, sich zum Töten aufgemacht hatten; und wohl wußten die Wölfe, daß selbst der Tiger seine frische Beute den Dolen überläßt. Quer durch die Dschungel brechen sie, schlagen nieder, reißen alles in Stücke, was ihnen in den Weg kommt. Wohl sind sie nicht halb so groß und so schlau wie der Wolf, aber sehr stark und zahlreich. Erst beim vollen Hundert bilden die Dolen ein Pack, während vierzig Wölfe schon ein starkes Rudel ausmachen. Auf seinen Wanderungen war Mogli hin und wieder an den grasreichen Rand des Dekkan gelangt und hatte dort die furchtlosen Dolen gesehen, wie sie schliefen, spielten und sich kraulten vor den kleinen Schlupflöchern hinter Büschen und Gesträuch, die ihnen zum Lager dienen. Er verachtete und haßte sie, weil ihr Geruch nicht dem des freien Volkes glich, weil sie nicht in Höhlen lebten und vor allem, weil ihnen zwischen den Zehen Haare wucherten, während er und seine Freunde klarfüßig waren. Von Hathi aber wußte er, wie furchtbar ein Jagdpack von Dolen sein kann; selbst Hathi weicht ihren Reihen aus, und bis sie nicht vertilgt sind oder das Wild knapp wird, streben sie unaufhaltsam weiter.

Auch Akela wußte manches von den Dolen, denn gelassen sagte er zu Mogli: »Besser ist es, im vollen Pack zu sterben als allein und führerlos. Große Jagd wird das sein und – meine letzte. Menschen aber leben lange, und du kleiner Bruder, hast noch viele Tage und Nächte vor dir. Wandere darum nach Norden und verbirg dich dort: wenn einer von uns Wölfen am Leben bleibt, wird er dir Nachricht von dem Kampf bringen, nachdem die Dolen fort sind.

»So, so«, gab Mogli ganz ernsthaft zurück, »ich soll also nach den Morästen des Nordens ziehen, kleine Fische fangen und auf Bäumen schlafen – oder soll ich das Affenvolk um Hilfe anbetteln und Nüsse knacken, während das Pack hier unten kämpft?«

»Auf Leben und Tod geht es«, sagte Akela. »Du bist niemals dem Dolen, dem roten Mörder, begegnet. Der Gestreifte selbst … «

»Auah, auah«, spottete Mogli. »Einen gestreiften Affen habe ich getötet! Höre nun: Ein Wolf war mein Vater, eine Wölfin meine Mutter, und ein alter, grauer Wolf (nicht sehr weise, sondern nur weiß ist er jetzt) war mir Vater und Mutter zugleich. Deshalb sage ich« – er erhob seine Stimme – »und erkläre: wenn die Dolen kommen, mögen sie kommen, aber Mogli und das freie Volk werden in diesem Kampf nur eine Haut sein. Und ich sage: bei dem Bullen, für den mich Baghira einkaufte in den alten Tagen, deren ihr Jungen vom Pack euch nicht mehr entsinnt, ich sage – und die Bäume und der Fluß sollen es vernehmen und gut behalten, wenn ich es vergesse –, ich sage: dieses mein Messer wird ein Zahn sein dem Pack, und ich denke, kein stumpfer! So meine Worte – ich habe gesprochen.«

»Du kennst die Dolen nicht, Mensch mit der Zunge des Wolfes«, rief Won-tolla. »Ich hoffe nichts weiter, als ihnen die Blutschuld zahlen zu können, bevor sie mich in Stücke reißen. Sie rücken nur langsam vor, da sie alles unterwegs morden; aber in zwei Tagen wird wieder ein wenig Kraft in mir sein, und dann gehe ich hin, um die Blutschuld abzutragen. Euch aber, freies Volk, rate ich, zieht nach Norden und begnügt euch eine Zeitlang mit schmaler Kost, bis die Dolen fort sind. Denn kein Fleisch bringt diese Jagd.«

»Hört nur den Auslieger!« höhnte Mogli. »Freies Volk, nach Norden müssen wir wechseln, Eidechsen und Ratten an den Ufern fangen, damit wir nur den Dolen nicht begegnen. Der Dole soll unsere Jagdgründe ausplündern, indes wir uns im Norden verstecken, bis es ihm gefällt, unser Eigentum uns zurückzugeben. Ein Hund ist er nur und der Sohn eines Hundes, rot, gelbbäuchig, lagerlos und haarig zwischen den Zehen. Sechs und acht Junge bringt er auf einmal zur Welt, als wäre er Tschikai, die kleine Springratte. Wahrlich, freies Volk, wir müssen flüchten und bei den Völkern des Nordens um den Abfall von geschlagenem Rindvieh betteln. Ihr kennt doch den Spruch: ›Im Norden das Gewürm, im Süden die Läuse. Wir sind die Dschungel.‹ Wählet nun, o wählet! Große Jagd ist es! Für das Pack, für das volle Pack – für Höhle und Wurf, für Drinnen- und Draußentöten; für die Wölfin, die die Hirschkuh treibt, und für das kleine Junge im Lager. Wir sind dabei! – sind dabei! – sind dabei!«

Das Pack fiel ein mit einem einzigen tiefen, dröhnenden Gebell, das durch die Nacht hin erscholl, als stürzten Bäume nieder: »Alle sind wir dabei – dabei – dabei!«

»Bleibt beim Pack!« befahl Mogli seinen vier Wölfen. »Jeden Zahn brauchen wir. Phao und Akela sollen die Schlacht vorbereiten. Ich gehe, um die Anzahl der Mörderhunde festzustellen.«

»Es ist dein Tod!« rief Won-tolla, sich halb aufrichtend. »Was vermag solch ein Haarloser gegen den Rothund. Der Gestreifte selbst, bedenkt … «

»Ein Auslieger bist du wahrlich!« rief Mogli zurück. »Aber wir werden uns sprechen, wenn die Dolen verreckt sind. Gute Jagd allen!«

Fort stürmte er in das Dunkel hinein, wild erregt, kaum achtend, wohin er den Fuß setzte; und die Folge war, daß er über Kaas große Ringe stolperte und der Länge nach hinfiel. Der Python lag lauernd auf einer Wildfährte am Strom.

»Ksshe!« zischte Kaa aufgebracht. »Ist das Dschungelart, so zu trampeln und zu lärmen und die ganze Nachtjagd zu verderben, noch dazu, wenn das Wild so reichlich wechselt?«

»Entschuldige«, sagte Mogli, sich aufraffend. »Ich suchte dich in der Tat, Flachkopf; aber jedesmal, wenn ich dich treffe, bist du um eines Armes Länge größer und breiter geworden. Keiner ist dir gleich in der Dschungel, weiser, wunderschöner Kaa.«

»Nun, wohin läuft denn die Fährte?« Sanft erklang Kaas Stimme. »Kaum vor einem Monde noch war da ein Mannling mit einem Messer, warf Steine nach meinem Kopf und gab mir schlechte, kleine Baumkatznamen, weil ich schlafend lag in der Lichtung … «

»Ja, und das aufgetriebene Wild in alle Winde verscheuchtest. Mogli aber jagte, und derselbe Flachkopf war zu taub, um den Pfiff zu hören und gab nicht die Wildfährte frei«, antwortete Mogli und ließ sich dann nieder zwischen den buntschillernden Ringen.

»Derselbe Mannling kommt jetzt mit weichem Schmeichelwort zu demselben Flachkopf, erzählt ihm, er sei weise, stark und schön, und selbiger alter Flachkopf glaubt ihm und ringelt einen Platz zurecht – so – für denselben steinewerfenden Mannling, und … liegst du bequem? Könnte Baghira dir so weichen Ruheplatz schaffen?«

Wie gewöhnlich hatte Kaa sich zu einer Art weicher Hängematte für Mogli zusammengeringelt. Der Knabe griff in die Dunkelheit und zog den geschmeidigen, kabelgleichen Hals der Schlange zu sich heran, bis Kaas Kopf auf seiner Schulter ruhte. Dann erzählte er alles, was sich in dieser Nacht in der Dschungel zugetragen hatte.

»Weise mag ich wohl sein«, sagte Kaa, als Mogli zu Ende war, »aber taub bin ich bestimmt, sonst hätte ich den ›Phial‹ vernommen. Kein Wunder, daß die Grasfresser unruhig sind. Wie stark sind wohl die Dolen?«

»Gesehen habe ich sie noch nicht. Heißfüßig kam ich zu dir. Älter bist du als Hathi, aber, o Kaa« – Mogli wand sich förmlich vor Freude –, »große Jagd wird es sein! Nur wenige von uns werden den nächsten Mond erleben.«

»Bist du mit bei dieser Jagd? Bedenke, ein Mensch bist du, und bedenke auch, welches Pack dich einst ausstieß. Möge der Wolf mit dem Hunde fertig werden. Du bist Mensch.«

»Letztjährige Nüsse sind schwarze Erde heuer«, sagte Mogli. »Wahr ist, ich bin ein Mensch; aber es ist in meinem Wanst, daß ich in dieser Nacht gelobte, Wolf zu sein. Fluß und Bäume rief ich an als Zeugen. Zum freien Volk gehöre ich, Kaa, bis die Dolen dahin sind.«

»Freies Volk«, murrte Kaa, »freie Diebe! Eingeknüpft hast du dich in den Todesknoten. Weshalb? – Um der Erinnerung willen an tote Wölfe? Keine gute Jagd ist das!«

»Ich sprach mein Wort. Die Bäume wissen es, der Strom weiß es. Nicht ehe die Dolen verjagt sind, kommt mein Wort zu mir zurück.«

»Ngssch! Das ändert alle Fährten! Ich gedachte dich mitzunehmen nach den Morästen des Nordens; aber das Wort – das Wort selbst eines kleinen, nackten, haarlosen Mannlings – ist das Wort. Nun, ich Kaa, sage … «

»Bedenke wohl, Flachkopf, daß du dich selbst nicht einschlingst in den Todesknoten. Dein Wort brauche ich nicht, denn wohl weiß ich – –«

»Gut denn«, sagte Kaa. »Kein Wort werde ich geben. Aber was ist in deinem Wanst, was du tun willst, wenn die Dolen kommen?«

»Sie müssen den Waingunga hinabschwimmen. Ich dachte, sie in den seichten Wassern mit dem Messer anzugreifen, das Pack hinter mir, und sie so mit Stechen und Stoßen stromabwärts zu treiben oder ihnen den Schlund ein wenig zu kühlen.«

 

»Der Dole läßt sich nicht treiben, und heiß ist sein Schlund«, sagte Kaa. »Weder Mannling noch Wölfling werden übrigbleiben nach dieser Jagd – nur weiße Knochen.«

»Oho! Sterben wir, so sterben wir. Die größte Jagd wird es sein. Aber jung ist mein Wanst, und noch wenig Regenzeiten sah ich, bin weder weise noch stark. Hast du einen besseren Plan, Kaa?«

»Ich habe hundert und aber hundert Regenzeiten gesehen. Breit schon war meine Spur im Sande, ehe noch Hathi die Milchzähne abwarf. Bei dem Ur-Ei – älter bin ich als viele Bäume, gesehen habe ich alles, was in der Dschungel geschah.«

»Dies aber ist neue Jagd«, sagte Mogli. »Nie zuvor kreuzte der Dole unsere Fährte.«

»Was ist – war schon. Was sein wird, ist nicht mehr als ein vergessenes Jahr, das zurückkommt. Liege still, indes ich zähle diese meine Jahre.«

Wohl eine Stunde lag Mogli zwischen den Ringen, während Kaa, den Kopf reglos am Boden, alles überdachte, was er gesehen und gekannt seit dem Tage, da er aus dem Ei gekrochen war. Das Licht in seinen Augen schien zu erlöschen, daß sie nur noch wie matte Opale schimmerten. Dann und wann machte er kurze, steife Stöße mit dem Kopf, nach rechts und links, als jagte er im Traum. Mogli war leicht eingeschlummert, denn wohl wußte er, daß nichts so wichtig war vor dem Jagen als Schlaf, und er vermochte ihn in jeder Stunde bei Tag und bei Nacht zu finden.

Dann fühlte er, wie Kaas Leib unter ihm größer und breiter wurde. Der gewaltige Python blies sich auf und zischte dabei mit einem Geräusch, als ob ein Schwert aus stählerner Scheide führe.

»Die toten Jahreszeiten habe ich alle erschaut«, hub Kaa endlich zu reden an, »die riesigen Bäume, die alten Elefanten und die Felsen, die kahl lagen und scharfkantig, ehe Moos sie bedeckte. Lebst du noch, Mannling?«

»Eben erst ist der Mond untergegangen, ich verstehe nicht –«

»Sss! Kaa bin ich wieder, ich wußte – kurz nur war die Zeit. Zum Strom nun wollen wir gehen, und ich werde dir weisen, was gegen die Dolen getan werden muß.«

Pfeilschnell wandte er sich dem Hauptarm des Waingunga zu und tauchte hinein, etwas oberhalb des Pfuhles, der den Friedensfelsen birgt. Mogli war ihm zur Seite.

»Nein, schwimme nicht. Ich bin rascher. Halte dich fest!«

Mogli klammerte sich mit dem linken Arm um Kaas Nacken, legte den rechten fest an den Leib und streckte die Füße. Dann schwamm Kaa gegen die Strömung, wie nur er es vermochte. Die weißschäumenden Wellen des gestauten Wassers standen gleich einer Halskrause um Moglis Nacken; Beine und Füße wirbelten ihm durcheinander im Strudel unter des Pythons schlagenden Seiten.

Ein bis zwei Meilen oberhalb des Friedensfelsens wird der Waingunga eingeengt durch eine Schlucht von hundert Fuß hohen Marmorfelsen, der Strom stürzt dort donnernd und tosend zwischen dem Steingeklüft dahin. Mogli störte das nicht. Alle Wasser der Welt hätten ihn nicht geängstigt. Er betrachtete sich die Schlucht genau und witterte unbehaglich, denn in der Luft war ein süßsäuerlicher Geruch wie von großen Ameisenhaufen bei starker Hitze. Instinktmäßig duckte er sich ins Wasser, hob nur manchmal den Kopf, um Atem zu holen. Plötzlich legte Kaa sich vor Anker mit einer doppelten Windung des Schwanzes um einen gesunkenen Felsblock in der Tiefe und hielt Mogli fest in der Höhlung eines Ringes, indes das Wasser an ihnen vorbeistrudelte.

»Der Ort des Todes ist hier«, sagte der Knabe. »Warum kamen wir her?«

»Sie schlafen«, erwiderte Kaa. »Hathi weicht vor dem Gestreiften nicht aus. Doch Hathi und der Gestreifte weichen den Dolen. Die Dolen sagen, sie weichen vor nichts. Aber das kleine Volk der Felsen, vor wem weicht das zurück? Künde mir, Meister der Dschungel, wer ist der Meister der Dschungel?«

»Diese hier sind es«, flüsterte Mogli. »Der Ort des Todes ist es. Komm fort.«

»Nein, schau wohl hin, denn jetzt schlafen sie. Es ist heute, wie es war, als ich noch nicht so lang war wie dein Arm.«

Die bröckelnden, verwitterten Wände der Waingungaschlucht sind seit Beginn der Dschungel Wohnort des kleinen Volkes der Felsen – der geschäftigen, wütenden, wilden, schwarzen Bienen Indiens –, und Mogli wußte wohl, daß alle Fährten sich eine halbe Meile vor der Schlucht zur Seite wandten.

Jahrhundertelang hatte das kleine Volk hier gehaust, hatte gebaut und von Spalte zu Spalte geschwärmt und wieder geschwärmt. Der weiße Marmor war fleckig von vertrocknetem Honig, und die Waben saßen überall tief in den dunklen Höhlungen. Weder Mensch noch Tier, weder Feuer noch Wasser hatte sie je gestört. Die Wände der Schlucht waren der ganzen Länge nach wie mit schimmernden schwarzen Samtgardinen behangen; und Moglis Herz sank, als er hinsah, denn es waren die geklumpten Millionen schlafender Bienen. Das Antlitz der Felsen war wie gefleckt mit Klumpen, Girlanden und Auswüchsen, die verrotteten Baumstämmen glichen. Verlassene Waben vergangener Jahre waren es oder neue Siedlungen, die im Schatten der windstillen Schlucht erstanden. Mogli hörte mehrmals das Rauschen und Gleiten honigschwerer Stöcke, die irgendwo umstürzten und in die dunklen Galerien fielen, dann ein dumpfes Dröhnen zahlloser Flügelschläge und träges Tropfen – trip, trip, trip – des verschütteten Honigs, der weiterrann, bis er über irgendeine Felskante ins Freie floß und klebrig auf das Gestrüpp niedertropfte. An der einen Seite des Stroms lag ein kleiner, kaum fünf Fuß breiter Ufersaum, auf dem sich der Abfall ungezählter Jahre turmhoch häufte. Da lagen tote Bienen, Drohnen, vertrocknete Waben, Flügel von schmarotzenden Motten und Käfern, die dem Honig nachgegangen waren – alles moderte da in weichen Lagern von feinstem, schwarzem Staub. Der scharfe Gestank, der davon hochstieg, genügte schon, um alles abzuschrecken, was keine Flügel hatte oder die Bedeutung des kleinen Volkes kannte.

Kaa setzte sich wieder stromaufwärts in Bewegung, bis zu einer Sandbank am Ausgang der Schlucht.

»Hier liegt die Beute dieses Jahres«, sagte er. »Sieh!«

Auf der Bank am Ufer bleichten die Gerippe jungen Rotwilds und Knochen eines Büffels. Mogli konnte erkennen, daß weder Wolf noch Schakal die Knochen des Wilds berührt hatten, die in ihrer natürlichen Lage rein abgeschält waren.

»Diese da sind über den Grenzstrich hinausgegangen«, sagte Mogli leise. »Sie kannten das Gesetz nicht, und das kleine Volk hat sie getötet. Laß uns fort, ehe sie erwachen.«

»Sie erwachen nicht vor Sonnenaufgang«, sagte Kaa. »Nun laß dir erzählen: Vor vielen, vielen Regenzeiten kam ein gehetzter Bock vom Süden hierher. Er kannte die Dschungel nicht, und das Pack war hinter ihm her. Toll vor Angst, sprang er hier von oben herab, das Pack aber rannte blindlings in heißer Wut seiner Fährte nach. Hoch stand die Sonne, überaus zahlreich war das kleine Volk und summte zornig. Auch viele vom Pack versuchten den Sprung in den Waingunga, aber sie waren tot, noch ehe sie auf das Wasser aufschlugen. Die, die nicht sprangen, starben ebenfalls oben in den Felsen. Der Bock aber blieb am Leben.«

»Wie das?«

»Er kam zuerst, lief um sein Leben, sprang hinunter, ehe das kleine Volk es merkte, und schwamm schon im Strom, als sie zum Töten sich sammelten. Das nachhetzende Pack aber erlag ganz der Wut des kleinen Volkes, das durch die Fußtritte des Bockes aufgestört war.«

»Der Bock lebte?« wiederholte Mogli nachdenklich.

»Wenigstens damals starb er nicht, obgleich keiner unten wartete mit starkem Leib, der seinen Sprung abfing und ihn sicher über Wasser hielt, wie ein gewisser alter, fetter, tauber, gelber Flachkopf es für einen Mannling tun würde – jawohl, ob auch alle Dolen des Dekkan hinter ihm her hetzen. Was ist dir im Wanst?«

Kaas Kopf zischelte dicht an Moglis Ohr. Nicht gleich antwortete der Knabe. »Den Tod am Barte zausen heißt das«, sagte er dann. »Aber Kaa, wahrlich bist du der Weiseste in der Dschungel.«