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Das Dschungelbuch

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Das Dschungelbuch
Das Dschungelbuch
Hörbuch
Wird gelesen Lydia Herms
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»So ist es! … ganz recht! … du bist ein kluger Mann!« und alle Graubärte nickten zustimmend.

Da fuhr Mogli dazwischen: »Sind alle eure Geschichten solch Nachteulengeschwätz und Affengerede? Dieser Tiger hinkt, weil er lahm zur Welt kam, daß weiß jeder in der Dschungel. Was für Märchen will euch Buldeo da aufbinden! Von der Seele eines Wucherers zu sprechen in einem Biest, das nicht einmal soviel Mut hat wie ein Schakal, ist kindisches Geschwätz.«

Buldeo war zuerst sprachlos vor Überraschung, und der Gemeindeälteste starrte ihn verständnislos an.

»Oho! Ist das der Dschungelbalg, der nichtsnutzige Wolfssohn?« fuhr Buldeo auf. »Wenn du ihn so genau kennst, den lahmen Tiger, dann bringe doch lieber seine Haut nach Khanhiwara, denn die Regierung hat hundert Rupien auf seinen Tod gesetzt. Oder noch besser, du hältst deinen Mund, wenn alte Männer reden.«

Mogli stand auf. »Den ganzen Abend habe ich hier gelegen und zugehört«, sagte er im Fortgehen. »Und mit Ausnahme von ein oder zwei Malen hat Buldeo nicht ein einziges wahres Wort über die Dschungel gesprochen, die ihm doch dicht vor der Tür ist. Wie kann ich all die anderen Gespenstergeschichten glauben, von Geistern und Göttern und Kobolden, die er mit eigenen Augen gesehen haben will.«

»Höchste Zeit, daß der Junge die Büffel hütet«, meinte der Dorfälteste. Buldeo aber warf Mogli giftige Blicke nach und zog zornschnaubend an seiner Wasserpfeife.

In den meisten indischen Dörfern führen wenige Knaben die Rinder und Büffel am frühen Morgen zur Weide und bringen sie des Abends wieder zurück. Die gleichen Tiere, die den weißen Mann tottrampeln würden, wo er sich zeigte, lassen sich anschreien, schlagen und stoßen von Kindern, die ihnen kaum bis zur Nase reichen. Solange die Knaben bei den Herden bleiben, sind sie in Sicherheit, denn nicht einmal der Tiger wagte es, eine Rindviehherde anzugreifen. Aber wenn sie sich fortbewegen, um Blumen zu suchen oder Eidechsen zu fangen, werden sie manchmal von den wilden Tieren überfallen und in das Dickicht geschleppt.

Am nächsten Morgen ritt Mogli bei Sonnenaufgang stolz durch die Straßen des Dorfes; er saß auf dem Rücken Ramas, des großen Leitstieres. Die schieferblauen Büffel mit ihren langen, rückwärtsgebogenen Hörnern und feurig wilden Augen tauchten aus ihren Verschlägen auf, einer nach dem anderen, und folgten in langer Reihe. Mogli machte es den Jungen von vornherein klar, daß er ihr Herr und Meister sei. Mit einem langen Bambusstock lenkte er die Tiere und befahl Kamya, einem der Hirten, mit den Rindern getrennt zu weiden, während Mogli mit den Büffeln davonzog.

Ein indischer Weideplatz ist oft mit Felsblöcken bestreut, die von dichtem Buschwerk und hohem Gras umgeben sind. Kleine Schluchten kreuzen sich, und die Herden zerstreuen sich und sind verschwunden. Die Büffel ziehen gewöhnlich die kühlen, sumpfigen Stellen vor, wo sie sich oft stundenlang im warmen Schlick suhlen. Mogli trieb sie bis zur Stelle, wo der Waingunga sich aus der Dschungel in die Ebene ergoß. Er glitt von Ramas Rücken und trabte zum Bambusdickicht. »Ah! da bist du endlich!« rief Graubruder, der, seinem Versprechen treu, dort wartete. »Ich habe hier manchen Tag vergebens nach dir ausgeschaut. Du treibst Büffel, was hat das zu bedeuten?«

»Ich bin der Dorfhirt!« sagte Mogli. »Wie steht's mit Schir Khan?«

»Er ist zurückgekommen und hat dir lange aufgelauert. Nun ist er wieder fort, denn das Wild beginnt hier knapp zu werden. Aber er hat die feste Absicht, dich zu töten – sobald er kann.«

»Recht. Sobald er kann«, wiederholte Mogli trocken. »Solange er fort ist, laß einen meiner vier Brüder hier auf dem Felsen sitzen oder tue es selber, damit ich euch sehen kann, wenn ich vom Dorfe herkomme. Sobald er aber zurückgekehrt ist, warte auf mich bei dem Dhâkbaume in der Mitte der Ebene. Ich möchte dem Lahmen nicht gerade in den Rachen laufen.«

Darauf suchte sich Mogli einen schattigen Platz und legte sich schlafen, während um ihn die Herde friedlich graste.

Herden hüten ist in Indien die bequemste Beschäftigung von der Welt. Die Rinder kauen und zermalmen mit lautem Geräusche die saftigen Pflanzen; sie bewegen sich langsam mit schleppendem Gang, oder sie legen sich hin und schlagen mit den Schwänzen nach Fliegen. Das schmackhafte Futter wächst bis zu ihren Nasen herauf, und sie brauchen sich nicht danach zu bücken. Ab und zu brüllen die Kühe sich in ihrer Sprache ein paar Worte zu oder stoßen ein zufriedenes Grunzen aus. Die Büffel geben nur selten einen Laut von sich; sie watscheln im Entenmarsche zu den Morästen, einer hinter dem anderen, und wühlen sich tief in den Schlamm, bis nur die glänzenden Nasen und gläsernen Augen hervorlugen. Und dort bleiben sie in dem weichwarmen Bette wie Holzklötze liegen. Die Sonne strahlt auf die Felsen herab, bis die heiße Luft auf den Steinen tanzt, und die Hirtenkinder hören den Ruf eines Geiers – immer nur eines einzigen – hoch oben im Äther, so hoch, daß man ihn kaum sehen kann. Die Kinder wissen, was dieser schwarze Punkt in der blauen Unendlichkeit zu bedeuten hat: falls sie, von der Schlange gebissen, sterben würden – oder eins der Tiere umkäme –, so schösse dieser eine Geier pfeilschnell herab, und der nächste Geier, viele Meilen entfernt, würde folgen, und dann der nächste und wieder der nächste, und der noch warme Körper wäre bald von einem Dutzend dieser Geier, die wie durch Zauber aus dem Nichts herbeifliegen, zerhackt und zerrissen.

Die Kinder liegen sorglos im langen Grase, schlafen oder träumen mit offenem Auge, oder sie flechten aus trockenen Halmen kleine Körbe, in die sie Grashüpfer setzen, fangen ein paar Grillen oder lassen sie miteinander kämpfen, oder sie reihen rote und blaue Dschungelnüsse auf eine Schnur und machen daraus Halsketten. Manchmal auch sehen sie mit großen Augen einer Eidechse zu, die sich auf dem heißen Felsen wärmt, oder sie belauschen eine Schlange, die auf ihrem Jagdzug durch das Dickicht gleitet. Und wenn sie das alles getan haben, singen sie lange, lange Lieder mit seltsamen Trillern am Ende, und der eine Tag scheint ihnen länger als vielen ihr ganzes Leben. Manchmal formen sie auch aus dem Lehm ein Schloß mit Menschen, Pferden und Büffeln und stecken den Menschen Stäbe in die Hände, damit sie Könige darstellen. Und wenn Schlangen und Eidechsen sich verkrochen haben und die steifgewordenen Lehmfiguren in der Hitze zerfallen sind, kommt endlich der Abend herbei. Die Kinder lassen ihren hellen Ruf ertönen, und die Büffel erheben sich mit einem plötzlichen Ruck aus ihrem schlammigen Bette und machen dabei ein Geräusch wie Kanonen, aus deren Rohr eine blinde Ladung herausplatzt. Einer nach dem andern entsteigt triefend dem Schlamme, und sie alle ziehen in langer Reihe über die Ebene in der Richtung der schimmernden Dorflichter.

Tag für Tag führte Mogli die Herde zu ihrem Weideplatze, und stets sah er Graubruder als treue Schildwache auf seinem Posten sitzen. Schir Khan war somit noch nicht zurückgekommen, und Mogli lauschte im Grase all dem wunderlichen Summen und Schwirren und träumte von den vergangenen Tagen in der Dschungel.

Da, eines Morgens war Graubruder nicht an seinem Platze. Mogli lachte und führte seine Büffel zur Schlucht bei dem Dhâkbaum, der über und über mit goldroten Blüten bedeckt war. Und richtig! Dort saß Graubruder mit glühenden Augen und borstig gesträubtem Fell.

»Er hat sich einen Monat lang versteckt gehalten, um dich irrezuführen«, sagte der Wolf. »Vergangene Nacht kreuzte der Tiger in unser Revier, mit Tabaqui auf seiner Fährte, um dich aufzuspüren.«

Mogli runzelte die Stirne. »Schir Khan fürchte ich nicht, aber Tabaqui ist schlau und verschlagen.«

»Mach dir keine Sorgen!« sagte Graubruder, die Lefzen leckend. »Ich traf den Burschen heut morgen in der Dämmerung. Jetzt vertraut er seine ganze Weisheit der Dschungel an – das heißt, soviel die Geier davon übrigließen. Aber er hat mir alles erzählt, bevor ich ihm das Genick zerbiß. Schir Khan beabsichtigt, dir heute abend am Dorftore aufzulauern – dir allein. Er hat sich jetzt oben in der Schlucht des ausgetrockneten Waingungaarms versteckt und meint, daß ihn niemand gesehen habe.«

»Hat er sich vollgefressen, oder ist er heute noch nicht auf Fang aus gewesen?« fragte Mogli hastig, denn die Antwort bedeutete für ihn Leben oder Tod.

»In der Morgendämmerung riß er ein Schwein und hat es mit Haut und Haaren verschlungen, dann hat er sich vollgesoffen. Du weißt, Schir Khan bringt es nicht über sich, zu fasten, selbst nicht, wenn er auf Rache auszieht.«

»Ah! Der Narr, der! Vollgefressen hat er sich und vollgesoffen, und bildet sich ein, daß ich warten werde, bis er sich ausgeschlafen hat! Sag, wo hat er sich verkrochen? Wären wir nur unser zehn, jetzt wäre die Gelegenheit, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Meine Büffel greifen nicht an, ohne ihn vorher zu wittern, und ich verstehe nicht ihre Sprache! Können wir ihm in den Rücken kommen, so daß die Büffel seine Fährte wittern?«

»Davor hat er sich geschützt!« sagte Graubruder. »Er ist den Waingungafluß hinabgeschwommen, um seine Fährte zu verwischen.«

»Das hat ihm Tabaqui geraten. Er selbst würde niemals daran gedacht haben.« Mogli stand mit dem Finger im Munde und dachte nach: »Die große Waingungaschlucht mündet in die Ebene, kaum eine Meile von hier. Ich kann die Herde durch die Dschungel heimführen bis zum Eingang der Schlucht und dann von oben mit ihr niederbrausen. Aber er würde durch den unteren Ausgang entfliehen. Ich muß ihm den Weg versperren. Graubruder, könntest du mir die Herde teilen?«

»Ich allein wohl kaum, aber ich habe mir einen weisen Helfer mitgebracht.«

Graubruder trabte davon und verschwand in einer Höhle. Gleich darauf tauchte ein großer, grauer Kopf auf, den Mogli wohl kannte, und durch die heiße Luft zitterte der schaurigste Schrei der Dschungel – das Klagegeheul eines hungrigen Wolfes auf der Mittagsjagd.

 

»Akela! Akela!« jubelte Mogli. »Ich hätte mir denken können, du würdest mich nicht vergessen. Große Jagd steht uns bevor. Teile mir die Herde, Akela! Treibe die Kühe mit den Kälbern zusammen und trenne sie von den Büffeln.«

Die beiden Wölfe liefen, wie Schäferhunde im schottischen Hochland, hin und her zwischen die schnaubende, keilende Herde, bis sie in zwei Haufen getrennt war. Der eine bestand aus den Kühen, die ihre Kälber brüllend umringten, jeden Augenblick bereit, sich mit gesenkten Hörnern auf einen der Wölfe zu stürzen. Im andern drängten sich die Stiere; sie stampften die Erde und keuchten und rollten ihre großen Augen – sie boten einen gewaltigen Anblick, waren aber weit weniger gefährlich als die Kühe, da sie keine Kälber zu schützen hatten. Sechs Männer hätten nicht vermocht, die Herde so gleichmäßig zu teilen.

»Was nun?« keuchte Akela. »Sie suchen wieder zueinander zu kommen.«

Mogli sprang auf Ramas Rücken.

»Vorwärts mit den Stieren! Treibe sie nach links, Akela. Graubruder, halte du die Kühe zusammen, und wenn wir fort sind, jage sie zum unteren Ausgang der Schlucht!«

»Wie weit?« schnappte Graubruder, dem der Schaum vor dem Mund stand.

»Bis die Seitenwände so hoch sind, daß Schir Khan nicht über sie hinweg kann. Dort lasse sie nicht vom Flecke, bis wir von oben herabkommen.«

Und fort stürmten die Stiere zur Linken unter Akelas Gebell. Graubruder trabte an der vorderen Reihe der Kühe entlang; als sie sich auf ihn stürzen wollten, wich er geschickt rechts zur Seite und lenkte so seine Verfolger in die Richtung des unteren Endes der Schlucht, indes Akelas Jagdschrei von links herüberdrang.

»Recht so! Noch einmal angehen, Akela, dann kommen die Tiere in Schwung. Aber Vorsicht, nicht zu nahe, sonst spießen sie dich auf die Hörner. Heiaho! Das ist bessere Jagd, als Böcke treiben! Was die Kerle laufen können – hast du das gewußt, Akela?«

»Ich – ich – ich habe sie gejagt zu meiner Zeit«, keuchte Akela im hochaufwirbelnden Staub. »Soll ich sie jetzt in die Dschungel hetzen?«

»Ja, abdrehen. Schnell, nur zu! Mein Rama ist schon ganz toll. Ach, könnte ich ihm nur sagen, was ich heute von ihm will.«

Die Büffel wandten sich nun zur Rechten und brachen wie ein Gewitter in das hohe Dickicht ein. Die anderen Hütejungen, die in der Nähe bei den Rinderherden lagen, stürzten nach dem Dorfe zurück und berichteten, der böse Geist sei in die Büffel gefahren und habe sie in alle Windrichtungen verstreut.

Moglis Plan war einfach genug. Er wollte in großem Bogen das obere Ende der Schlucht gewinnen und dann mit den Bullen gegen Schir Khan herunterstürmen, während die Kühe den unteren Ausgang versperrten. Denn er wußte, daß der Tiger mit vollem Bauch weder kämpfen noch die steilen Wände der Felsschlucht hinaufklettern konnte.

Mogli beschwichtigte nun mit Zurufen die dahinstürmenden Büffel, während Akela zurückgefallen war und nur mit leisem Lautgeben die Nachzügler antrieb. Sie schlugen einen weit ausholenden Kreis, um nicht zu nahe an die Schlucht heranzukommen und Schir Kahn ein Warnungszeichen zu geben.

Zuletzt sammelte Mogli die wild erregte Herde am oberen Eingang zur Schlucht auf einem grasigen Hang, von dem es steil hinunter zur Schlucht ging. Von hier konnte man über die Baumkronen weit in die Ebene sehen. Moglis Blicke glitten musternd an den Felsen entlang, und mit Freuden sah er, daß die Wände senkrecht anstiegen, ohne mit ihren grünen und buntfarbigen Schlinggewächsen irgendeinen Halt zum Aufklettern zu bieten.

»Laß sie jetzt verschnaufen, Akela!« rief Mogli dem Wolfe zu. »Sie haben seine Witterung noch nicht in der Nase. Laß sie zu sich kommen! Ich muß Schir Khan meinen Besuch anmelden. Heiho! Wir haben ihn in der Falle!«

Und dann legte er die Hände an den Mund und gellte hinab in die Schlucht. Das Echo sprang von Fels zu Fels – hohl und laut wie in einem Tunnel.

Nach langer Zeit tönte aus der Tiefe das schläfrige Murren eines vollgefressenen Tigers, der sich nur ungerne in seiner Ruhe stören läßt.

»Wer ruft?« murrte Schir Khan gereizt, und ein prächtiger Pfau flog mit erschrockenem Geschrei aus dem Gebüsch.

»Mogli hat gerufen. Heiho! du Herdendieb, ich hole dich zum Ratsfelsen der Wölfe! Heiho! Hinunter jetzt, Akela – treib sie hinunter! Vorwärts, Rama, vorwärts!«

Die Herde schreckte einen Augenblick am Rande der Schlucht zurück, aber Akela ließ seinen Jagdruf aus voller Kehle ertönen, und hinab ging's mit weitem Sprunge, Sand und Steine spritzten auf. Nachdem die rasende Jagd in die Tiefe einmal begonnen, gab es kein Halten mehr – die hinteren Büffel drängten nach vorn, und vorwärts stürmte es, vorwärts wie der reißende Bergstrom, der seine Dämme durchbrochen hat. Plötzlich witterte Rama Schir Khan und brüllte wütend auf.

»Haha!« lachte Mogli auf Ramas Rücken. »Nun weißt du, was es gibt! Horrido!« Und weiter brauste die Herde mit dem Gewirr schwarzer Hörner, wutgeröteter Augen und schaumbedeckter Nüstern gleich einer Sturzflut die Schlucht hinab. Die schwächeren Tiere wurden vom Drucke aufgehoben und dann seitwärts in das Dickicht gedrängt.

Schir Kahn hörte den Donner der anstürmenden Hufe; er wußte wohl, daß kein Tier in der weiten Dschungel dem Angriff einer wütenden Büffelherde zu widerstehen vermag. Er raffte sich auf und eilte, so schnell es ihm sein voller Bauch erlaubte, die Schlucht hinab. Ängstlich spähte er rechts und links, um einen Ausweg zu finden; aber die Wände der Schlucht stiegen beinahe senkrecht auf und starrten ihm mitleidslos entgegen. Da hielt er an, denn sein Mahl lag ihm schwer im Wanste, ihm war nicht zum Kämpfen zumute. Näher und näher brauste der Donner; jetzt stürmte die Herde mit lautem Aufklatschen durch die Wasserpfütze, die Schir Khan eben verlassen hatte, mit einem Gebrüll, daß die Felsen bebten. Und nun kam die Antwort unten von den Kühen und blökenden Kälbern. Da ahnte Schir Khan sein Geschick. Er wußte, daß es auch im schlimmsten Falle besser sei, den Kampf mit den Büffeln zu wagen als mit den Kühen, wenn sie Kälber haben. Mit blutunterlaufenen Augen warf er noch einen Blick zu den steilen Wänden auf, dann drehte er sich, um sich den Büffeln zu stellen. Krachend brach die Herde wie ein Gewitter über ihn herein – dunkel wurde es, Stampfen, Stoßen und Brüllen. Rama strauchelte, kam wieder hoch, trat auf etwas Weiches, Schwindendes und stürmte weiter. Dann stießen die beiden Herden am Ausgang der Schlucht zusammen. Welch ein Anprall! Die vordersten Reihen türmten sich auf, wie eine Woge an der Klippe, Büffel und Kühe ritten aufeinander zu dreien und vieren – die Erde stöhnte, und hinab wogte die Herde in die Ebene, während der Fels unter ihrem Stampfen in Staub zerbröckelte.

Mogli nahm den rechten Augenblick wahr: er sprang von Ramas Rücken und schlug mit dem Bambusstab nach rechts und links, um die Herde zu ordnen.

»Schnell, Akela! Treibe sie auseinander! Schnell! Oder sie spießen sich gegenseitig! Fort mit ihnen, Akela! Hai, Rama! Hai! Hai! Hai! meine Kinder! Ruhe! Ruhe! Es ist ja alles vorbei!«

Akela und Graubruder trabten auf und ab und schnappten nach den Beinen der Büffel. Noch einmal machte die Herde Miene, zurückzukehren und die Schlucht hinaufzustürmen; Mogli vermochte jedoch, seinen Rama nach einer andern Richtung abzulenken, und endlich folgte die Herde brüllend dem Leittier.

Schir Khan brauchte sich nicht mehr zu sorgen. Er war tot, und schon stießen die Geier zu Tal.

»Brüder – so starb ein Hund!« sagte Mogli, nach dem Messer greifend, das er immer bei sich trug, seitdem er bei den Menschen weilte. »Wallah! Sein Fell wird sich auf dem Ratsfelsen prächtig ausnehmen! Und jetzt schnell ans Werk!«

Ein Knabe, unter Menschen aufgewachsen, würde niemals imstande gewesen sein, allein einen zehn Fuß langen Tiger zu häuten; doch Mogli wußte, wie einem Tiere der Pelz angepaßt ist und wie man ihn abnehmen kann. Trotzdem war es harte Arbeit; Mogli schnitt und zerrte und stöhnte wohl eine Stunde lang, während die Wölfe mit ausgestreckten Zungen dalagen oder am Fell zerrten, wenn Mogli es befahl.

Plötzlich fühlte Mogli den Druck einer Hand auf der Schulter, und aufblickend sah er Buldeo mit seiner alten Donnerbüchse. Die Kinder hatten im Dorfe die Nachricht von der wilden Flucht der Herde verbreitet, und Buldeo hatte sich unverzüglich aufgemacht, um Mogli zu strafen, weil er nicht auf die Herde achtgegeben hatte. Bei seinem Nahen hatten sich die Wölfe schnell in Deckung verzogen.

»Was soll denn der Unsinn? Bildest du dir etwa ein, du könntest einen Tiger häuten? Wo haben ihn denn die Büffel getötet? Sieh da, der lahme Tiger ist's, auf den die Regierung einen Preis von hundert Rupien ausgesetzt hat. Nun, wir werden diesmal ein Auge zudrücken. Ich will dir sogar verzeihen, daß du die Herde hast fortrennen lassen. Vielleicht gebe ich dir eine Rupie von der Belohnung, wenn ich das Fell nach Kanhiwara gebracht habe.«

Er griff in die Tasche und holte Stahl und Feuersteine hervor, um den Schnurrbart des Tigers abzusengen. Indische Jäger unterlassen selten, diese Vorsicht zu gebrauchen, denn nur so können sie sich davor schützen, daß die Seele des Tigers sie verfolgt.

»Hm!« meinte Mogli und fuhr fort, das Fell einer Vordertatze aufzuschlitzen. »Du willst also die Haut des lahmen Langri nach Kanhiwara bringen und mir vielleicht gnädigst eine Rupie von dem Preise abgeben? Das ist freundlich von dir, mein lieber guter Buldeo, aber siehst du, ich habe mir nun einmal vorgenommen, das Fell zu meinen eigenen Zwecken zu verwenden … Fort, alter Scheibenschießer, weg mit dem Feuer!«

»Du wagst es, so zu dem Hauptjäger des Dorfes zu sprechen? ›Scheibenschießer‹! Dein dummes Glück und der Unverstand der Büffel haben dir zu dieser Beute verholfen. Der Tiger hatte sich vollgefressen, sonst wäre er jetzt zwanzig Meilen weit von hier. Du kannst ihn nicht einmal richtig häuten, Lümmel, und mir sagst du, ich darf ihm den Bart nicht sengen?! Keinen Anna von der Belohnung erhältst du, vielmehr eine gehörige Tracht Prügel. Mach', daß du fortkommst!«

»Bei dem Bullen, für den Baghira mich in das Rudel einkaufte, soll ich hier sitzen und die Zeit mit einem alten Affen verschwätzen?!« rief Mogli. »Akela! Vorwärts! Diese Nachteule belästigt mich mit ihrem Gekreisch!«

Buldeo, der eben noch über den Tiger gebeugt stand, fand sich plötzlich zu seinem Entsetzen auf dem steinigen Boden liegen, und über ihm stand ein großer, grauer Wolf. Mogli fuhr gelassen im Abhäuten des Tieres fort, als befände er sich ganz allein im weiten Indien.

»Recht – jawohl – du hast völlig recht, Buldeo«, schnarrte er zwischen den Zähnen. »Nicht einen einzigen Anna wirst du mir als Belohnung geben. Ein alter Streit war zwischen mir und dem Tiger auszufechten – ich aber siegte.«

Wir müssen es Buldeo lassen – wäre er zehn Jahre jünger gewesen, so hätte er einen Kampf mit Akela gewagt, wenn er in den Wäldern auf ihn getroffen wäre. Aber ein Wolf, der den Befehlen eines Knaben gehorchte – eines Knaben, der mit menschenfressenden Tigern in Fehde lag, solch ein Wesen war kein gewöhnlicher Wolf. Zauberei war im Spiel, Hexerei schlimmster Art, und Buldeo hoffte kaum mehr, daß ihn sein Amulett am Halse dagegen schützen werde. Still lag er, ganz regungslos, und erwartete jeden Augenblick, daß sich Mogli in einen Tiger verwandeln werde.

»Maharadsch! Großer König!« hauchte er mit heiserer Stimme.

»Ja?« sagte Mogli, ohne den Kopf zu drehen.

»Ich bin ein alter Mann. Wie konnte ich ahnen, daß du die Gestalt eines Hirtenknaben angenommen hast und etwas ganz anderes bist. Willst du mir nicht erlauben, aufzustehen und fortzugehen, großer Fürst, oder wirst du deinen Sklaven befehlen, mich in Stücke zu reißen?«

»Gehe in Frieden. Ein anderes Mal aber hüte dich, meine Fährte zu kreuzen! Laß ihn frei, Akela!«

Buldeo sprang auf, holte tief Atem und humpelte dann fort, so schnell er konnte. Er blickte verstohlen zurück, um zu sehen, ob Mogli nicht irgendeine furchtbare Gestalt angenommen habe. Als er endlich schweißtriefend beim Dorfe anlangte, erzählte er zitternd und keuchend eine greuliche Geschichte von Zauberei und Teufelskunst, so daß das rundliche Gesicht des fetten Priesters sich in entsetztem Staunen in die Länge zog.

Unterdessen fuhr Mogli emsig mit seiner Arbeit fort; er hackte und schnitt und zog, und als endlich das blutige Fell vor ihm ausgestreckt lag, war die Dämmerung über das Tal hereingebrochen.

»Wir müssen die Haut verstecken! Es ist Zeit, die Büffel heimzutreiben. Hilf mir, Akela!«

Die unruhig harrende Herde sammelte sich schnell im nebelgrauen Dämmerlichte. Als sie in die Nähe des Dorfes kamen, sah Mogli Fackeln leuchten, hörte die Glocken des Tempels läuten und das Getute der Muschelhörner; das halbe Dorf schien am Eingang versammelt.

 

»Sie warten auf mich, weil ich Schir Khan getötet habe«, dachte Mogli.

Da sauste ein Hagel von Steinen auf ihn ein; es pfiff und schwirrte ihm um die Ohren, und die Menge schrie: »Zauberer! Wolfsbrut! Fort! Dschungelteufel! Fort von hier, oder der Priester wird dich in einen Wolf verwandeln! Schieß, Buldeo, gib Feuer!«

Päng! die Büchse krachte, und getroffen brüllte ein junger Büffel.

»Neue Zauberei!« schrie es. »Er kann die Kugeln lenken! Buldeo, das war dein eigener Stier!«

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Mogli ganz verwirrt, als der Steinregen immer dichter auf ihn herniedersauste.

»Deine Menschenbrüder sind auch nicht viel anders als das Wolfspack!« meinte Akela und setzte sich gelassen nieder. »Es ist in meinem Kopf, daß sie dich ausstoßen, wenn diese Geschosse etwas zu bedeuten haben.«

»Unsauberer Geist! Wolfsjunges! Hebe dich hinweg!« rief der Priester und schwang einen Zweig der heiligen Tulsipflanze.

»Ausgestoßen? Wiederum ausgestoßen! Das eine Mal, weil ich ein Mensch war, und diesmal, weil ich ein Wolf bin!« sagte Mogli dumpf. »Komm, Akela, laß uns gehen.«

Traurig wandte er den Rücken. Da stürzte eine Frau aus der Menge und drängte sich durch die Herde. »Oh, mein Sohn, mein Sohn!« rief sie. »Sie sagen, du wärest ein Zauberer, der sich in ein wildes Tier verwandeln kann. Ich glaube es nicht, aber du – du mußt fortgehen, sonst werden sie dich töten. Buldeo sagt, du seist ein böser Geist, aber ich weiß es besser, ich weiß, du hast meines kleinen Nathu Tod gerächt!«

»Zurück, Messua!« rief der Haufe. »Zurück! Oder wir steinigen dich!«

Mogli lachte – es war ein kurzes, böses Lachen, denn ein Stein hatte ihn am Mund getroffen. »Geh zurück, Messua! Das ist eine von den Mondscheingeschichten, die sie sich des Abends unter dem großen Baume erzählen. Ja! Ich habe deinen Sohn gerächt. Lebe wohl … laufe schnell … denn die Steine fliegen immer dichter, und ich werde ihnen die Büffel nachhetzen … Fort!… ich bin kein Zauberer … ich bleibe dein Sohn … Lebe wohl!«

»Noch einmal, Akela«, schrie er, »heim mit der Herde! Hai! Hai!«

Die Büffel scharrten vor Ungeduld, in ihre Ställe zu kommen. Kaum ertönte Akelas heiseres Geheul, als sie wie ein Sturmwind durch das Tor ins Dorf brausten, während die erschrockene Menge schreiend auseinanderstob.

»Zählt sie nur genau!« rief Mogli höhnisch. »Zählt, ob sie auch alle da sind! Vielleicht habe ich einen von ihnen verschlungen oder in eine Schlange verwandelt! Ich scheide mich von euch, ihr Menschenkinder, und dankt Messua, daß ich nicht mit meinen Wölfen herbeikomme und euch durch die Straßen hetze!«

Er wandte sich und schritt mit Akela davon. Als er zu den glänzenden Sternen aufsah, fühlte er sich frei und glücklich. »Ah! Nun brauche ich nicht mehr in ihren Fallen zu schlafen, Akela! Komm, wir wollen Schir Khans Fell holen und uns fortmachen. Nein, wir wollen ihnen kein Leid antun, denn Messua war gut zu mir!«

Als der Mond über den Hügeln aufstieg und die Ebene mit milchigem Licht übergoß, sahen die Dorfbewohner mit Entsetzen, wie Mogli mit zwei Wölfen an seiner Seite und mit einem Bündel auf dem Kopfe in langem Wolfstrab dahinzog, mit dem gleichmäßigen Trott, der lange Meilen wie Feuer verschlingt. Da schlugen sie mit aller Macht gegen die Tempelglocken und bliesen ihre Muschelhörner lauter denn je. Messua weinte, und Buldeo schilderte dem versammelten Volke seine Erlebnisse in so glühenden Farben, daß er es selbst glaubte, als er zum Schluß beschrieb, wie Akela sich auf seinen Hinterbeinen aufrichtete und in der Sprache der Menschen zu ihm redete.

Schon ging der Mond unter, als Mogli mit den beiden Wölfen zu dem Ratsfelsen gezogen kam, vorbei an der alten Höhle von Mutter Wolf.

»Sie haben mich aus dem Menschenrudel verstoßen, Mutter!« rief Mogli. »Aber ich komme mit Schir Khans Fell, um mein Wort einzulösen!«

Mutter Wolf schob sich steifbeinig mit ihren Jungen aus der Höhle, und beim Anblicke des blutigen Felles glühten ihre Augen auf.

»Ich hab's gewußt! Als er hier mit eingezwängtem Kopfe in unsere Höhle hineinbrüllte, da hab' ich's ihm prophezeit! Der große Jäger ist meinem kleinen Frosche zur Beute gefallen. Das hast du brav gemacht, mein Sohn!«

»Wohlgetan, kleiner Bruder!« schnurrte eine tiefe Stimme im Dickicht. »Verlassen fühlten wir uns in der Dschungel ohne dich«, und Baghira trat eilig durch die Büsche an Moglis Seite.

Zusammen erstiegen sie den Ratsfelsen, und Mogli spreitete das Fell Schir Khans auf dem flachen Steine aus, auf dem Akela zu liegen pflegte, und befestigte es mit vier Bambusstäben, und Akela legte sich darauf und ließ ganz wie früher, als er noch Leiter des Rudels war, seinen langgezogenen Ruf erschallen: »Äuget, ihr Wölfe, äuget scharf!« Aber die Versammlung war nicht dieselbe wie ehedem.

Seit Akelas Sturz hatten die Wölfe ohne Führer gelebt, sie jagten und kämpften ganz nach eigenem Gutdünken. Jetzt aber antworteten sie auf den Ruf nach alter Gewohnheit, doch ihre Stimmen klangen matt und heiser. Viele waren in Fallen geraten und von den scharfen Eisen lahm geschlagen worden; andere waren krank geschossen oder von böser Räude geplagt, denn sie hatten, wie der Schakal, verdorbenes Fleisch gefressen. Viele aber fehlten! Es war eine traurige, lahme Versammlung mit blutenden Wunden und triefenden Augen, und dennoch schlichen alle, die noch am Leben waren, zum Ratsfelsen herbei und eräugten Schir Khans Fell mit den baumelnden Pranken, die im Nachtwind wehten.

»Schaut her, ihr Wölfe!« rief Mogli. »Habe ich mein Wort gehalten?«

»Ja! Ja!« jaulten die Wölfe; und einer, dem der Pelz arg zerzaust war, heulte mit klagender Stimme: »Sei wieder unser Führer, Akela! Und du, Menschenjunges, führe auch du uns wieder, denn wir sind es satt, ohne Gesetz zu leben, und vielleicht können wir wieder das freie Volk werden, das wir einst waren!«

»Nie und nimmer wieder!« brummte Baghira. »Wenn ihr euch vollgefressen habt, wird die Tollheit wieder über euch kommen! Nicht umsonst nannte man euch das freie Volk! Ihr habt nun die Freiheit, nach der ihr gestrebt. Schlingt jetzt die Freiheit, ihr Wölfe!«

»Menschen und Wölfe haben mich verstoßen. Allein will ich jetzt in der Dschungel jagen!« rief Mogli; aber seine Stimme klang traurig.

»Wir, wir jagen mit dir«, riefen die vier Wolfsjungen.

Fort zog Mogli nun am gleichen Tage und jagte allein in der Dschungel mit den vier Jungen von Mutter Wolf. Aber er blieb nicht immer einsam, denn nach Jahren kehrte er wieder heim zu den Menschen und nahm sich ein Weib. Doch dies ist eine andere Geschichte.