Beautiful Lights

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Frankfurter Stadtgeläut

Zu Silvester wecken wir Francis um Mitternacht. Wir öffnen die Fenster im Wohnzimmer. Im Kaiserdom St. Bartholomäus geht das Geläut los. Dann schließen sich die anderen Kirchen an. Ich liebe das Frankfurter Stadtgeläut. Und schon blitzt das Feuerwerk über Frankfurt in allen Farben auf.

Lisa hakt sich bei mir ein. „Weißt du noch, wie wir klein waren? Da wurde das Feuerwerk noch mit Raketen gezündet.“

„Ja. Und danach war immer die Luft verschmutzt und es stank unglaublich. Ich liebe die Hologramme, die von den Laserkanonen in den Himmel gemalt werden. Die Farben der Hologramme stehen den alten Feuerwerken in nichts nach.“

„Ein glückliches neues Jahr 2041, Lars.“

„Ein glückliches neues Jahr auch dir, Lisa.“

Francis will auf meinen Arm hochgehoben werden. Wir betrachten das Holo-Feuerwerk am Himmel. Fast eine halbe Stunde wird es in den Himmel projiziert. Unser kleiner Junge wird müde.

„Ich bringe ihn ins Bett.“ Ich gehe mit Francis ins Kinderzimmer.

Als ich wiederkomme, überrascht mich Lisa mit einem Sekt. Wir stoßen an. Inzwischen hat sich das Spektakel am Himmel wieder gelegt. „Magst du noch die zweite Suite von ‚Daphnis et Chloé‘ hören?“

„Vielleicht morgen, Lisa. Jetzt bin ich sehr müde. Lass uns auch hinlegen.“ Wir löschen das Licht.

Rückschau

Lieber Lars,

jetzt ist schon wieder eine so lange Zeit vergangen. Ich habe bereits eine Ewigkeit nichts mehr in unser gemeinsames Tagebuch geschrieben. Heute wird es Zeit. Ich muss doch festhalten, dass ich mein Abitur erfolgreich geschafft habe. Meine vier Prüfungsfächer waren Biologie, Chemie, Gemeinschaftskunde und Englisch. Meine Gesamtnote ist ganz ansehnlich. Ich werde mich demnächst um einen Medizinstudienplatz bewerben. Ich hoffe, ich bekomme einen Platz hier in Frankfurt. Aber du hast mir schon gesagt, dass du überall mit mir hinziehen wirst, wenn ich in einer anderen Stadt zum Studium zugelassen werde.

Danke, wie du mir den Rücken freihältst, Lars. Und deine Kochkünste schreiten auch immer weiter voran. Ich könnte mir nicht mehr wünschen. Unser Leben ist perfekt, so wie es ist. Ich will nicht versäumen, dir zu schreiben, wie glücklich ich mit dir bin.

Deine Lisa.

Traum in der Nacht

Ein Blick auf die Uhr. Ich sehe, es ist halb vier morgens. Ich habe so seltsam geträumt. Und alles wirkte so seltsam real.

Ich träumte vom Sternenhimmel. Die vielen Lichter am Firmament sahen wunderschön aus. Doch dann verblasste ein Stern nach dem anderen – bis auf einen Stern, der immer heller und schöner schien. Dieser Stern hüllte mich in ein helles Licht. Und dann sah ich auf einmal einen Mann, der starb und ein kleines Baby, das geboren wurde.

In diesem Traum fühlte ich, dass alles, was ich sah, etwas mit mir zu tun hat. Diese Erkenntnis erschütterte mich so sehr, dass ich davon wach wurde. Halb vier morgens. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liege wach. Nochmal schaue ich auf die Uhr.

Lisa wird wach. „Was ist? Warum bist du so unruhig, Lars?“

„Ich habe so seltsam geträumt.“

„Dreh‘ dich um und schlafe einfach weiter.“

„Es geht nicht. Ich bin blitzwach.“ Ich liege weiter wach. Ich glaube, Lisa ist wieder eingeschlafen.

Eine halbe Stunde später ruft Heidi an. „Lars, dein Papa reagiert nicht. Er ist ganz unruhig. Und wenn ich ihn anspreche, dann reagiert er nicht. Kannst du vorbeikommen?“

Lisa ist vom Call auch wach geworden. „Dein Papa reagiert nicht? Kann ich mal seinen Avatar sehen?“

Ich gebe die Bitte weiter. „Heidi? Kannst du mal Papas Avatar zeigen?“

Heidi greift nach seinem Handgelenk und sendet sein Signal.

„Schau mal, Lars. Stephans linker Arm und sein linkes Bein sind gebeugt. Das ist ein Schlaganfall. Jetzt müssen wir schnell handeln.“

„Sollen wir deinen Vater rufen? Er ist am schnellsten bei Papa.“

„Nein. Die müssen eine Lyse des Blutgerinnsels machen. Da braucht man Medikamente, die mein Vater nicht zuhause hat. Warte. Ich rufe den Notarzt und sage, dass ein akuter Apoplex vorliegt.“ Lisa setzt den Notruf ab.

„Ich rufe uns ein Taxi, das uns zu Papa ans Deutschherrnufer fährt.“ Ich ziehe mich rasch an.

„Nein. Warte, Lars. Ich sehe gerade ein Signal reinkommen. Hier. Sie fahren deinen Papa in die Schifferstraße. Sie fahren ihn ins Diakonissenkrankenhaus. Wir nehmen ein Taxi gleich dorthin.“

„Und Francis? Den können wir nicht allein hierlassen.“

„Du hast Recht, Lars. Ich bleibe erstmal hier. Du fährst alleine vor. Dein Papa ist im Diakonissenkrankenhaus in den besten Händen. Ich rufe meinen Vater dazu. Und dann schaue ich, dass Francis zu meiner Mutter geht. Und ich komme dann nach.“

Mein Taxi trifft bei uns am Sonnenring ein. Ich ziehe schnell eine Hose und ein Shirt an, Strümpfe, Schuhe, Jacke. Schnell. Schnell. Ich renne auf die Straße. Mein Taxi wartet mit eingeschaltetem Scheinwerferlicht. „Zum Diakonissenkrankenhaus bitte“, sage ich dem Bordcomputer hastig. Der Wagen setzt sich in Bewegung. Am Haupteingang in der Schifferstraße steige ich aus.

Lisas Vater trifft mit dem Fahrrad ein. Nicht ordnungsgemäß stellt er das Fahrrad direkt vor dem Haupteingang des Diakonissenkrankenhauses ab. Dem Pförtner vom Krankenhaus ruft er nur kurz zu: „Können sie sich bitte um mein Fahrrad kümmern? Ich muss gleich zur Notaufnahme.“

„Ja, Herr Dr. Wunderlich. Ich kümmere mich“, ruft der Mann von der Pforte zurück.

„Komm, Lars. Ab in die Notaufnahme.“ Bastian zieht mich am linken Arm. Wir laufen schnell. Mein Papa ist bereits im Schockraum. Er reagiert nicht auf uns. Schläft er?

„Hartmut! Gut, dass sie heute Nacht Dienst haben. Geben sie mir bitte eine Spritze Lysinol X. Ich spritze peripher gleich einen Bolus.“ Unterdessen desinfiziert Bastian seine Hände und zieht einen sterilen Kittel über.

Ich bleibe am Rand des Schockraums stehen. Hier ist so viel Bewegung im Raum. Ich will niemandem im Weg stehen.

Der Pfleger zieht eine Ampulle auf und gibt sie Bastian. Im Krankenwagen war Papa bereits ein Zugang in eine Armvene gelegt worden. Bastian spritzt das Mittel. „Und nun hängen wir noch eine Infusion mit Lysinol X an. Und wir machen gleich ein Magnetresonanztomogramm.“

Ein flaches Schild kommt von der Decke des Schockraums herab. Es surrt. Nur wenige Sekunden. Dann erscheint ein Hologramm über Papa. Es zeigt Papas Hirn. „Gefäßstatus“ befiehlt Bastian dem Computer. Das Hologramm schaltet auf Papas Hirngefäße um. „Basilaristhrombose“ stellt Bastian fest. „EKG-Status“ fordert Lisas Vater vom Computer. „Vorhofflimmern“ murmelt er und wendet sich dann dem Pfleger wieder zu: „Eine Ampulle Rhythmostatin. Und danach bitte einen Mikrokatheter.“

„Für die Basilaris?“ Hartmut gibt Bastian schon einmal das Rhythmostatin.

Lisas Vater verabreicht die Spritze mit dem Mittel gegen das Vorhofflimmern. „Ja. Ich sondiere über die rechte Arteria vertebralis.“

„Gut. Ich lagere den Patienten für eine Sondierung der Vertebralis um.“ Hartmut handelt sicher und schnell.

Bastian wendet sich an eine Schwester: „Renate. Bitte holen sie mir die Sonde für die Glasfasernavigation. Ich werde die Sonde tracken und im Hologramm visualisieren, um die Vertebralis sicher zu treffen.“

Die Schwester gibt Lisas Vater eine steril verpackte Spritze. Renate verbindet das Glasfaserkabel der Sonde mit dem Tomographen.

„Tomograph: Online-Visualisierung“ befiehlt Bastian dem Computer. Gleichzeitig desinfiziert er rasch den Hals meines Papas, um danach mit der Spritze zu sondieren. Im Hologramm, das sich über Papa zeigt, sehe ich die Sonde. Und ein hell erleuchtetes Gefäß, das Bastian mit der Sonde sofort trifft. Zusammen mit einem identischen Gefäß von der anderen Seite vereinigen sich die beiden Arterien zu einem gemeinsamen Strang. „Das ist die Basilaris. Und schau, Lars. Hier ist der Thrombus.“

Ich sehe, dass da eine Blockade ist und hinter der Blockade kein Blut fließt.

„Mikrokatheter!“ ruft Bastian. Er schiebt den Katheter über die Sonde bis zur Blockade vor. „Und jetzt noch einen Bolus Lysinol X!“

Bastian spritzt das Medikament. Man sieht, dass sich die Blockade von unten her zunehmend auflöst. Dann fließt wieder Blut. Lisas Vater nickt. Er schaut nach dem Herzschlag. „Der Vorhof arbeitet wieder rein und regelmäßig. Der Thrombus muss aus dem Vorhof gekommen sein, Lars. Jetzt gibt es für uns nur noch eins zu tun…“

„Ja?“

„Wir beten für deinen Papa.“

„Soll Herr Krönlein auf Intensiv?“, fragt Hartmut.

„Ja. Auf. Intensiv. Danke, Hartmut. Danke, Renate. Ihr seid ein Spitzenteam.“

Mein Papa reagiert immer noch nicht. Er liegt ganz still. Sein linker Arm und sein linkes Bein sind immer noch gebeugt. Ob das etwas zu bedeuten hat?

Auf Intensiv

Papa bleibt regungslos. Ich greife nach seiner rechten Hand. Da beginnt Papa, meine Hand zu streicheln. Er merkt, dass ich da bin. Seine Augen sind geschlossen. Ich sage nur ein Wort: „Papa.“ In meinem Kopf geht der Gedanke um: „Bitte, Herr Jesus, hilf meinem Papa.“

Jetzt trifft auch Lisa ein. „Francis ist bei meiner Mutter.“ Sie setzt sich auf die andere Seite des Bettes.

Inzwischen ist es draußen hell geworden. Ich habe mein Gefühl für die Uhrzeit komplett verloren. Ich sehe auf mein Handgelenk. Es ist 8.00 Uhr.

Die Visite kommt. Allen voran Lisas Vater. „Könnt ihr bitte kurz draußen warten?“ Bastian bittet Lisa und mich, das Intensivzimmer zu verlassen.

 

„Was besprechen die da drinnen?“ Ich schaue Lisa an. Lisa zieht ihre Schultern nach oben. Sie weiß es offenbar auch nicht.

Die Visite kommt aus dem Intensivzimmer. „Dein Papa geht jetzt auf Normalstation. Einzelzimmer auf Station C5.“

„Ist Stephan nicht mehr intensivpflichtig?“ Lisa schaut ihrem Vater direkt in die Augen.

„Nein. Nicht mehr.“ Bastian hebt die Augenbrauen. Was bedeutet das?

Die Visite zieht weiter.

„Wartet oben auf C5“, flüstert uns eine Schwester zu.

Am Krankenbett

Ich sehe, dass Papas rechte Hand meine Hand sucht. Ich greife sofort nach seiner Hand. Papas Augen sind immer noch geschlossen.

„Wie merkt Papa, dass ich da bin?“

Lisa setzt sich auf die andere Seite des Krankenbettes. „Er hört uns, Lars. Und er spürt dich.“

Schwester Roswita kommt in Papas Zimmer auf Station C5. „Hier ist es besser als auf Intensiv. Hier könnt ihr jederzeit kommen und gehen.“

„Aber auf Intensiv kann man doch mehr tun, als hier.“ Ich verstehe das alles nicht.

Die Schwester schaltet das Monitoring ab.

„Was hat das alles zu bedeuten?“

„So habt ihr mehr Ruhe füreinander.“ Schwester Roswita schaut mich voller Güte an.

Ich blicke zu Lisa.

„Lars… Es ist alles getan, was Menschen tun können. Magst du bei deinem Papa bleiben? Ich glaube, das wäre sehr gut.“

Ich spüre, dass meine Augen feucht werden: „Wird mein Papa denn jetzt gehen?“

Lisa nickt.

„Ich bleibe hier. Ja.“

Schwester Roswita holt einen bequemen Schlafsessel mit einem Kopfkissen für mich.

Mein Papa streichelt unablässig meine Hand. Ich spüre, wie sehr er mich liebt. Seine Augen bleiben geschlossen.

„Papa…“

Hannah

Es ist der zweite Tag, dass ich an Papas Bett sitze. Heute ist Sonntag. Die Schwestern bringen mir Essen und Trinken.

Mit einem Mal geht die Tür auf. Und herein kommen … Hannah und Heidi. „Hannah!“

Die Station C5 war ja früher einmal ihr Wirkungsort – damals, als sie noch junge Diakonisse war. Lange, bevor sie Johannes geheiratet hat. Ihr Lächeln ist freundlich und mild. „Stephan. Lars. Wir sind da. Hannah. Und Heidi.“ In ihren Händen hält sie ein Buch.

Ich muss weinen. Ich bin ganz überwältigt und glücklich über Hannahs Gegenwart. „Was für ein Buch ist das?“

„Ein Liederbuch, Lars. Wenn du es magst, dann können wir später etwas singen.“

Ich lasse Papas Hand nicht los. Wieder streichelt er meine Hand. Da fühle ich, dass alles gut wird. Die beiden setzen sich zu Papas linker Seite. Heidi hat sich sehr hübsch gemacht.

Hannah salbt Papa mit Öl aus einem kleinen Fläschchen. Sie lächelt mich an: „Das kommt aus Jerusalem.“ Hannah wendet sich Papa wieder zu. „Der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und leite dich in seinem Frieden.“

Wir sitzen lange gemeinsam an Papas Bett. Am Abend gehen die zwei wieder. „Auf Wiedersehen, mein Schatz“, sagt Heidi noch.

Abschied

Mir wird das Abendessen gebracht. Mir fällt beim Entgegennehmen des Tabletts das Messer auf den Boden hinab. Papa zuckt zusammen. „Entschuldige bitte, Papa.“ Ich hebe das Messer vom Boden auf.

Ich esse.

Dann bekomme ich den Impuls, Papa etwas vorzusingen. Ja. Da liegt das Liederbuch. Hannah hat es hier gelassen. Ich blättere im Buch. Ein Lied liegt mir besonders am Herzen.

Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne,

die aufgeht in ihrer Pracht.

Noch verbirgt die Dunkelheit das Licht.

Und noch sehen wir die Sonne nicht.

Doch schon zieht ein neuer Tag herauf.

Und das Licht des Morgens leuchtet auf.

Viele Tränen werden noch geweint.

Und der Mensch ist noch des Menschen Feind.

Doch weil Jesus für die Feinde starb

hoffen wir, weil er uns Hoffnung gab.

Noch verbirgt die Dunkelheit das Licht

und noch sehen wir den Himmel nicht.

Doch die Zeit der Schmerzen wird vergeh'n

und dann werden wir den Vater seh'n.

Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne,

die aufgeht in ihrer Pracht.

Nach der letzten Strophe sehe ich, dass Papa die Augen aufgemacht hat und mich aufmerksam anschaut. Er schaut wie ein kleines Kind, gerade so wie Francis mich als Baby anschaute, wenn ich ihn im Arm hielt und ihm etwas vorsang. Dann sehe ich, dass Papa aufhört zu atmen. Sein Blick bleibt aufmerksam auf mich gerichtet. Da weiß ich, es ist noch Zeit. Ein kleiner Moment. Ich bete. „Ich preise den Namen Jesus Christus über deinem Leben, deinem Sterben und deiner Auferstehung. Amen.“

Und wie ich „Amen“ sage, sehe ich, dass auch Papa „Amen“ sagt. Nur stimmlos. Er hat ja keine Luft mehr in der Lunge. Aber ich sehe, wie seine Lippen sich zu einem „Amen“ formen und er noch einmal schluckt.

Dann sehe ich Papas Augen, wie sie nach dem „Amen“ in die Ferne gehen. Es ist Sonntagabend, der 2. Juni 2041. Es ist 19.15 Uhr.

Ich singe noch dreimal „Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne, die aufgeht in ihrer Pracht“, damit mich Papa noch aus der Ferne hören kann, wenn er jetzt heimgeht. Ich knie mich neben Papas Bett und bitte Gott um Gnade. An Gottes Gnade ist jetzt alles gelegen.

Ich stehe wieder auf. Ich schließe Papa die Augen.

Ich gehe zur diensthabenden Ärztin. „Mein Papa ist gegangen. Sie können nun alles tun, was sie tun müssen.“

Die Ärztin kommt in Papas Zimmer. Sie überzeugt sich davon, dass Papa tot ist. „Wir haben einen schönen Trauerraum. Dort können sie noch einmal Abschied nehmen, wenn wir ihren Vater fertig gemacht haben.“

„Ich habe schon Abschied genommen. Ich werde nicht kommen. Vielleicht Heidi.“ Ich verabschiede mich. Ich fahre zu Lisa.

Lisa umarmt mich sehr liebevoll, als ich nachhause zurückkehre. Es ist gut, dass ich jetzt nicht allein bin. „Schön, dass du für mich da bist, Lisa.“

„Ja, Lars. Das bin ich. Immer. Für immer.“

Trauergottesdienst

Papas letztem Willen entsprechend hält nicht Pastor Hans den Trauergottesdienst. Diese Aufgabe übernimmt unser Pastor Albert. Es war Heidis und mein Wunsch, dass Hannah einen Text liest, den sie für diesen Tag passend findet.

Es ist ein Tag nach meinem neunzehnten Geburtstag. Es ist ein trüber Donnerstagnachmittag auf dem Frankfurter Südfriedhof. Heute Vormittag hat es noch geregnet. Im Moment hält sich das Wetter gerade so. Wir sind drinnen in der Trauerhalle.

So viele Kinder sind da. Sie alle haben Bilder gemalt mit vielen Herzen. Für Papa. Es sind die Kinder aus dem Nachhilfekurs in der Alten Nikolaikirche. Die Nachhilfe hat Papa seit Mamas Tod gegeben. Das sind jetzt etwa sieben Jahre. Als ich die vielen Kinder in der Trauerhalle sehe, die von Papa Abschied nehmen, fange ich an zu weinen. Jetzt ist Papa den Weg gegangen, den schon Mama nahm.

Pastor Albert begrüßt die Trauergemeinde. „Liebe Heidi, lieber Lars, Lisa und Francis, liebe Verwandte und Freunde. Heute nehmen wir Abschied von unserem Bruder und Freund, Stephan Krönlein. Stephan wurde am 2. Dezember 1968 in Landau in der Pfalz geboren. Er ging von uns am vergangenen Sonntag, den 2. Juni 2041…“

Ich kann mich auf die Trauerpredigt nicht konzentrieren. Sie rauscht förmlich an mir vorbei. Ich denke an die vielen Kindergeburtstage, die wir damals noch mit ihm und Mama gefeiert haben. Ich denke daran, dass Papa niemanden hatte, bis er Mama kennenlernte. Und dass mit Mama sein Leben neu begann. Und mit einem Mal denke ich an unser erstes Weihnachten ohne Mama. Wie wir zwei im frischen Schnee über den Eisernen Steg zur Christvesper in der Alten Nikolaikirche gelaufen sind. Und wie Papa bis heute von dem prachtvollen Weihnachtsbaum vor dem Römer geschwärmt hat. Ich sehe Papa vor mir. Und ich erinnere mich an den erwartungsvollen Blick in seinen Augen, als er letzten Sonntag heimging.

Da bemerke ich, dass Hannah nach vorn geht. Sie liest.

Psalm 139 Ein Psalm Davids, vorzusingen.

Herr, du erforschest mich

und kennest mich.

Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;

du verstehst meine Gedanken von ferne.

Ich gehe oder liege, so bist du um mich

und siehst alle meine Wege.

Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,

das du, Herr, nicht alles wüsstest.

Von allen Seiten umgibst du mich

und hältst deine Hand über mir.

Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,

ich kann sie nicht begreifen.

Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,

und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?

Führe ich gen Himmel, so bist du da;

bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

Nähme ich Flügel der Morgenröte und

bliebe am äußersten Meer,

so würde auch dort deine Hand mich führen

und deine Rechte mich halten.

Spräche ich: Finsternis möge mich decken

und Nacht statt Licht um mich sein –,

so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,

und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

Ich sehe, dass auch Hannah jetzt eine Träne im Auge hat. Aber sie lächelt mich, Lisa, Francis und auch Heidi tapfer an.

Pastor Albert spricht noch. Und dann kommen auch schon die Männer vom Friedhof und nehmen Papas Urne. Jetzt geht alles ganz schnell. Wir gehen hinaus zu Mamas Grab. Dort ist bereits Erde für Papas Urne ausgehoben worden. Ich stehe neben mir. Ich bekomme alles mit – wie in einem Traum. Lisa zeigt mir, dass wir jetzt zu dritt an das Grab herantreten. Ich werfe Erde und Blumen in das Grab hinab. Lisa und Francis werfen nur Blüten aus der Schale neben dem Grab. Ich bleibe noch lange stehen. Dann stellen wir uns neben Heidi, die schon am Grab war.

Alle kommen und reichen mir die Hand. Auch die vielen Kinder, über die ich mich besonders freue.

Und dann will ich mit Lisa und Francis nachhause. Ich will mit den beiden jetzt allein sein.

„Lisa?“

„Ja, Lars?“

„Was sind das eigentlich für Flügel der Morgenröte, von denen Psalm 139 spricht?“

„Ich verstehe das so, dass David mit diesen Flügeln fliegen konnte. Weit weg. Fort aus seinem bisherigen Leben. Hinein in einen neuen Tag, hinein in ein neues Abenteuer.“

Wechselbad

Mein lieber Lars,

du hast mir alles erzählt. Du hast mir erzählt, wie du deinen Papa bis zum Schluss tapfer begleitet hast. Und ich muss sagen, du hast alles sehr gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.

Und doch gehst du im Augenblick durch ein Wechselbad der Gefühle. Ich fühle deine Niedergeschlagenheit. Ich spüre, wie sehr du deine Eltern vermisst.

Ich wünsche dir, dass du diese schwere Zeit gut überstehst und dass deine Gedanken dich nicht mehr niederdrücken. Sage mir, wenn ich etwas für dich tun kann. Du tust so unendlich viel für mich. Und mir geht nicht aus dem Kopf, was für ein wundervoller Koch du geworden bist. Im Augenblick bist du gerade beim Einkauf für unser Abendessen. Nun lass mich auch für dich da sein. Lass uns unseren Sommerurlaub planen. Wir können hinreisen, wo auch immer du hinreisen möchtest.

Wie ich gerade so nachdenke, kommt mir der Gedanke, dass du auch noch einmal mit Hannah sprechen könntest. Gespräche mit ihr haben dir immer sehr gutgetan.

Wenn du diesen Tagebucheintrag in unserer Cloud liest, dann sprich mich doch an. Oder melde dich direkt bei Hannah in Heidelberg.

Ich wünsche dir von Herzen, dass du dieses Trauertal hinter dir lässt, Lars.

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