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8 Begriffstypen versus Regeltypen

Ich will nun versuchen, den Unterschied und Zusammenhang von Begriffstypen und Regeltypen an vier einschlägigen Beispielen zu verdeutlichen. Dazu ist es zunächst notwendig, ein wenig Arbeitsterminologie zu vereinbaren.1Lewis

Die klassische Vorstellung von einem BegriffBegriff ist die des klar umgrenzten, wohldefinierten Begriffs. Eine korrekte Definition eines Begriffs nennt man seine Intension; die Menge der existierenden Gegenstände, die unter den Begriff fallen, ist seine Extension; die Menge aller möglichen (der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen) Gegenstände, die unter den Begriff fallen, wird gemeinhin seine Komprehension genannt. Die IntensionIntension des Begriffs klassifiziert somit seine KomprehensionKomprehension. Zur ExtensionExtension des Begriffs ,Auto‘ gehören alle gegenwärtig existierenden Autos; zu seiner Komprehension gehören alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Autos, einschließlich aller möglichen Autos. Wird der Intension eines Begriffs ein Merkmal hinzugefügt, so nimmt die Komprehension (nicht jedoch notwendigerweise die Extension!) ab, und umgekehrt. Betrachten wir ein Beispiel: Der Begriff ‚gelbes Auto‘ klassifiziert seine Komprehension, d.h. die Menge der möglichen gelben Autos; der Begriff ‚gelbes Auto mit Radio‘ klassifiziert die Menge der möglichen gelben Autos mit Radio. Da es gelbe Autos ohne Radio geben kann, ist die Komprehension des Begriffs ‚gelbes Auto‘ größer als die des Begriffs ‚gelbes Auto mit Radio‘. Da nicht ausgeschlossen ist, dass alle gegenwärtig existierenden gelben Autos über ein Radio verfügen oder dass es gegenwärtig kein einziges gelbes Auto gibt, lässt sich über die Relation der beiden Extensionen nur aussagen, dass die Extension des Begriffs ‚gelbes Auto mit Radio‘ nicht größer sein kann als die des Begriffs ‚gelbes Auto‘; die beiden Extensionen könnten auch identisch sein. Die Aussage „Je größer die Intension, desto kleiner die Extension, und umgekeht“ ist also falsch. Die Aussage „Je größer die Intension, desto kleiner die Komprehension, und umgekehrt“ ist korrekt. Die Merkmale, die allen möglichen Gegenständen, die unter den Begriff fallen (d.h. allen Elementen seiner Komprehension), gemeinsam sind, sind das WesenWesen oder auch die Wesensmerkmale des Begriffs.

Die erste Klasse von Begriffen, die wir betrachten wollen, sind die, die Frege im Auge hatte. Freges Begriffsdefinition (siehe Kapitel 5) repräsentiert die klassische Ansicht: Ein Begriff ist dergestalt, dass von jedem beliebigen Gegenstand eindeutig entscheidbar ist, ob er unter den Begriff fällt oder nicht, d.h. der Begriff ordnet jedem beliebigen Gegenstand einen WahrheitswertWahrheitswert zu. Er ist definiert durch die WesensmerkmaleWesensmerkmale des Begriffs, d.h. durch die gemeinsamen Eigenschaften der Elemente seiner Komprehension. Der Begriff ‚Primzahl‘ ist von dieser Art oder der Begriff ‚Bundesverfassungsrichter‘. Ich will solche Begriffe Fregesche BegriffeFregesche Begriffe nennen. Die meisten Begriffe, die Ausdrücken der natürlichen Sprache entsprechen, sind nicht von dieser Art. Logiker sahen in der Vagheit bisweilen ein Defizit der natürlichen Sprachen. In Wahrheit ist eine gewisse Vagheit notwendig für den alltäglichen GebrauchGebrauch.2 Wenn der Begriff ‚Kreis‘ festgelegt wäre aufgenau diejenigen Figuren, für die gilt, dass jeder Punkt der Figur gleichweit vom Mittelpunkt entfernt ist, hätte noch nie jemand einen Kreis gezeichnet und die meisten vermutlich noch nie einen gesehen. Wenn die Grenze zwischen ‚rot‘ und ‚rosa‘ auf eine exakte Wellenlänge festgelegt wäre, könnten die beiden Wörter rot und rosa nicht mehr ohne weiteres in einem Wollgeschäft verwendet werden. Wenn Wasser definiert wäre als ‚H2O + maximal 2 % Verunreinigung‘, könnte es sein, dass der Rhein am einen Tag Wasser führte und am andern nicht; oder am Oberlauf Wasser führte und am Unterlauf nicht. Natürlich sind Präzisierungen für bestimmte Bereiche notwendig und sinnvoll; im Alltag wären sie jedoch hinderlich. Pinkal spricht in diesem Zusammenhang vom „PräzisierungsverbotPräzisierungsverbot“.3Pinkal

Diese Begriffe wollen wir als nächste betrachten. Es sind die Begriffe mit unscharfen Rändern. Das soll heißen: Es ist den Sprechern einer Sprache prinzipiell nicht möglich, eine scharfe Grenze anzugeben, die trennt, was noch unter den Begriff fällt und was nicht mehr. Die Sprecher haben einen Entscheidungsspielraum, das heißt, solche Begriffe haben eine Unschärfetoleranz. Die Begriffe ‚Wasser‘, ‚krank‘, ‚Haus‘, ‚Motor‘ sind Beispiele dafür. Wo ist die Grenze zwischen einem Haus und einer Baracke? Einern Haus und einem Schuppen? Ist der Kölner Dom ein Haus? Ist das gedrillte Ringgummi eines Spielzeugflugzeugs, der sogenannte Gummimotor, der den Propeller in Rotation versetzt, ein Motor? Es sind keine kontingenten Defizite unseres Wissens, die uns die Antworten unmöglich machen, sondern die Logik solcher Begriffe. Wer seinen Gärtner beauftragt, die Büsche abzuschneiden und die Bäume stehen zu lassen, muss gegebenenfalls ad-hoc-Grenzen ziehen.4 („Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen.“5Wittgenstein)

Die dritte Klasse von Begriffen, die wir betrachten wollen, sind solche mit FamilienähnlichkeitsstrukturFamilienähnlichkeitsstruktur. Die Metapher der Familienähnlichkeit wurde von Wittgenstein geprägt,6 um die Logik von Begriffen zu verdeutlichen, deren KomprehensionKomprehension nicht durch ein gemeinsames Wesensmerkmal bestimmt ist, sondern durch eine Reihe überlappender Merkmale. Die Metapher lässt sich am besten metaphorisch erläutern: Wenn wir sagen, dass sich die fünf Töchter der Familie Schmitt alle ähnlich sehen, so muss das nicht heißen, dass es ein äußeres Merkmal gibt, das ihnen allen zukommt, etwa die gleiche Mundpartie. Es kann heißen, dass die erste die gleichen Augen hat wie die zweite und die vierte; die zweite der dritten in der Form der Nase ähnelt; die fünfte die gleiche Mundpartie hat wie die erste und Haare wie die dritte und vierte. Bei einer solchen Konstellation hätten wir in der Tat den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sehen. „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen.“7 Familienähnlichkeit ist offenbar eine Relation der Ähnlichkeit, die nicht transitiv ist. Für „normale“ ÄhnlichkeitÄhnlichkeit gilt: Wenn A B ähnlich ist, und B C ähnlich ist, dann ist A auch C ähnlich. Für unsere fünf Töchter gilt dies nicht: Die erste ist der zweiten ähnlich dank ihrer Augen; die zweite ähnelt der dritten aufgrund ihrer Nase; aber die erste hat mit der dritten (und die zweite mit der fünften) keine Ähnlichkeit.


Wittgensteins sprachliches Beispiel ist das Wort SpielSpiel. „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘“ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist“.8 Es scheint in der Tat so zu sein: Wenn wir uns Schach, Profifußball, Computerspiele, russisches Roulette, Mikado, Ringelreihen und das Spiel eines Babys anschauen, finden wir kein durchgehendes Wesensmerkmal. Daraus folgt, dass wir die KomprehensionKomprehension des Begriffs ‚Spiel‘ nicht „vorab“ zu klassifizieren imstande sind, denn die KlassifikationKlassifikation ist zum Teil ad hoc. Zur Menge der Spiele gehört, was die Sprachgemeinschaft SpielSpiel nennt. Nichts spräche dagegen, Jagd oder Wettangeln zu den Spielen zu zählen, aber wir tun es nun mal nicht. Anna WierzbickaWierzbicka denkt, „the time has come to re-examine his doctrine of ‚familiy-resemblences‘, which has acquired the status of unchallengeable dogma in much of the current literature on meaningmeaning“.9 Sie findet tatsächlich sieben Merkmale, die allen Tätigkeiten gemeinsam sind, die auf englisch game genannt werden. Das freilich widerlegt Wittgensteins Aussagen über das deutsche Wort Spiel nicht. „Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!“10

Als vierte Klasse will ich diejenigen Begriffe betrachten, denen Prototypenstruktur zugesprochen wird. Eleonor RoschRosch11 hat in einer Reihe von Aufsätzen und empirischen Studien gezeigt, dass Versuchspersonen die Elemente einer KategorieKategorie als unterschiedlich gute Beispiele für diese Kategorie beurteilen. Das Paradebeispiel dieser Theorie ist die Kategorie ‚Vogel‘. Es leuchtet spontan ein: Rotkehlchen und Spatzen sind beispielsweise für mitteleuropäische Versuchspersonen „bessere“ Vertreter für die Kategorie ‚Vogel‘ als Hühner und Gänse, und diese wiederum sind „besser“ als Strauße und Pinguine. Versuchspersonen benötigen beispielsweise eine geringere Reaktionszeit, um die Wahrheit der Aussage „Eine Amsel ist ein Vogel“ zu beurteilen, als die der Aussage „Ein Pinguin ist ein Vogel“.12Lakoff Menschen beurteilen also bestimmte Elemente der ExtensionExtension einiger Begriffe als prototypischer als andere. Dies, nicht mehr und nicht weniger, ist zunächst einmal der empirische Befund der Untersuchungen. Darüber, wie dieses Ergebnis zu interpretieren ist, herrscht Unklarheit.13 Lässt es Rückschlüsse zu auf die Art der Bedeutung, auf die semantische Struktur der betreffenden Ausdrücke, mit denen die Kategorien bezeichnet werden? Lässt es Rückschlüsse zu auf die Art unserer kognitiven Speicherung semantischer Strukturen? Lässt es Rückschlüsse zu auf die Art, wie wir Begriffe lernen? All dies wurde in Erwägung gezogen, und RoschRosch selbst hat ihre Interpretationen mehrfach modifiziert. Die Meinungen reichen von der Ansicht, „that psychological categories have internal structure“,14 bis zu der These, „that […] words have different prototypical structures, i.e., that they have different conceptual centres“.15Geeraerts Das heißt, Prototypentheoretiker sind sich nicht einmal einig darüber, wovon sie überhaupt Prototypikalität auszusagen bereit sind: Sollte PrototypikalitätPrototypikalität von Einheiten der ontologischen Ebene, der epistemologischen Ebeneepistemologische Ebene oder der linguistischen Ebene ausgesagt werden? Wenn man sagt, Rotkehlchen seien prototypischere Vögel als Kolibris, so bewegt man sich auf der ontologischen Ebene; wer Wörtern Prototypenstruktur zuschreibt, bewegt sich auf der linguistischen Ebene, und wer die Ansicht vertritt, dass unsere Konzepte Prototypenstruktur hätten, redet offenbar über die epistemische Ebene. Eine behutsamere Interpretation der Prototypikalitätsurteile der Versuchspersonen gibt George Lakoff. Seine These ist: „Our basic claim will be that prototype effects result from the nature of cognitive models, which can be viewed as ‚theories‘ of some subject matter.“16 Wenn ich dies recht verstehe, heißt das in etwa: Die Leute haben eine bestimmte „Vogel-Theorie“, d.h. ein bestimmtes kognitives Modell des Begriffs ‚Vogel‘, und daraus resultieren die unterschiedlichen Bewertungen dessen, was ein „guter“ und was ein „weniger guter“ Vogel ist. Einer solchen Interpretation gemäß ist somit Prototypikalität keine Eigenschaft von Begriffen, von Wörtern, von Bedeutungen, sondern ein Effekt bestimmter common-sense-Ansichten über Vögel. Es ist ein Effekt stereotyper Ansichten. Den Zusammenhang von Prototypen und Stereotypen deutet Anna Wierzbicka implizit an, indem sie schreibt: „Properties such as flying, feathers, and so on are presented as essential parts of the stereotype, not as necessary features of every bird.“17 Einen Gegenstand, der unser StereotypStereotyp erfüllt, beurteilen wir als prototypisch. Eine solche Redeweise scheint mir vernünftig und hinreichend klar zu sein; darüber hinaus verträgt sie sich mit der zitierten Ansicht von Lakoff: Wir haben eine „Vogel-Theorie“, ein Stereotyp von ‚Vogel‘; daraus folgt, dass wir das Rotkehlchen als prototypischer beurteilen als den Pinguin. Als Prototyp des Vogels beurteilen wir den, der unserem Stereotyp am ehesten entspricht. Dies hat, wie Wierzbicka zurecht feststellt, nichts zu tun mit der Frage, welches die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür sind, einen Gegenstand als Vogel zu klassifizieren; und es lässt nicht den Schluss zu, dass Pinguine, wie die Redeweise vom „weniger guten“ Vogel nahelegt, die IntensionIntension des Begriffs ‚Vogel‘ weniger gut erfüllen als prototypischere Exemplare. Dieser Redeweise gemäß ist ein Stereotyp eine Einheit der epistemischen Ebene, ein Prototyp ist eine Einheit der ontologischen Ebene. Aus der Existenz von Stereotypen und Prototypen folgt das, was Lakoff „Prototypeneffekt“ nennt: Abstufungen der Prototypikalitätsurteile der Versuchspersonen.

 

Die Ergebnisse der Prototypenforschung werden häufig überschätzt.18Posner Daran ist zum einen die kognitivistische Überinterpretation der Ergebnisse schuld, zum zweiten die Tendenz der kognitivistischen SemantikSemantik, kognitive Kategorien mit Semantik gleichzusetzen, und zum dritten eine Tendenz zur Übergeneralisierung des Anwendungsbereichs der Theorie.19Bickerton Wierzbicka hat mit guten Argumenten gezeigt, warum es unangemessen ist, beispielsweise Kollektivbegriffen wie ‚Spielzeug‘, ‚Möbel‘ oder ‚Geschenkartikel‘ Prototypenstruktur zuzuschreiben.20 Es sind bestimmte Eigenschaften des Gegenstands, die einen Vogel zum Vogel machen, aber es sind keine Eigenschaften des Gegenstands, die einen Ball zum Spielzeug oder zum Geschenkartikel machen. Nicht jeder Ball ist ein Spielzeug; manche Bälle sind Sportartikel. Ob ein Ball Spielzeug oder Sportartikel ist, sieht man ihm nicht an. ‚Vogel‘ ist ein taxonomischer Begriff, ‚Spielzeug‘ hingegen ein Kollektivbegriff.21 Die Intension von ‚Spielzeug‘ klassifiziert Dinge nicht nach ihren Merkmalen, sondern nach ihrem Nutzen. Die Welt lässt sich klassifizieren in Vögel und Nicht-Vögel, nicht aber in Spielzeug und Nicht-Spielzeug. Alles, womit Menschen spielen können, kann gegebenenfalls Spielzeug sein. Es macht keinen Sinn, entscheiden zu wollen, ob eine Luftpumpe zur Kategorie der Spielzeuge gehört oder eher zu der der Geschenkartikel.

Ich habe bislang den Ausdruck Versuchspersonen gewählt, um den Ausdruck Sprecher zu vermeiden. Denn wenn ich gesagt hätte, dass es Sprecher sind, die Prototypikalitätsurteile fällen, so hätte dies implizit den Ausgang der Diskussion vorweggenommen, ob die Prototypikalitätsurteile abhängig von der Sprache sind, die die Versuchspersonen sprechen, bzw. von der Sprache, in der die Versuche durchgeführt werden. Die Frage beispielsweise, ob Kopfsalat prototypischerer Salat ist als Wurstsalat und Obstsalat, ließe sich, wie wir gesehen haben, auf katalanisch nicht stellen. Die Frage, ob eine Wassermelone eine typischere Melone ist als eine Honigmelone, ließe sich beispielsweise weder auf katalanisch noch auf spanisch noch auf türkisch stellen.22 Die Frage, ob Staudensellerie typischerer Sellerie ist als Liebstöckel (Maggikraut), ist, auf deutsch gestellt, unsinnig, auf französisch sinnvoll.23 Das zeigt, dass Prototypikalitätstests nicht sprachunabhängig sind. Es muss in der Sprache eine spezifische BegriffshierarchieBegriffshierarchie vorgesehen sein, um die Testfragen formulieren zu können. Sprachen klassifizieren sprachspezifisch. Fenchel, Dill und Anis gehören zur gleichen Pflanzenfamilie, aber im Deutschen gibt es keinen Oberbegriff. In einer Sprache, in der es den Oberbegriff X gibt, ließe sich testen, welche der drei Pflanzen das typischere X ist.

Obwohl Begriffe nicht sprachunabhängig sind, ist es unangemessen, sie einfach mit Bedeutungen gleichzusetzen. Bedeutungen sind GebrauchsregelGebrauchsregeln. Gebrauchsregeln erzeugen die Kategorien, nach denen wir unsere Welt klassifizieren, aber sie sind nicht mit ihnen identisch. Im Zuge des Spracherwerbs werden wir auf eine Sprache und die damit verwobene Lebensform „abgerichtet“,24 wie Wittgenstein sich auszudrücken pflegt. Indem wir den korrekten GebrauchGebrauch der Wörter erwerben, erwerben wir eine bestimmte KlassifikationKlassifikation der Welt. Insofern sich die biologische Ausstattung der Menschen und die Lebensformen gleichen, ist zu erwarten, dass sich auch die Klassifikationen über Kultur- und Sprachgrenzen hinaus gleichen.

Betrachten wir als Beispiel das Wort Kopf und den Begriff ‚Kopf‘. Wenn der Begriff ‚Kopf‘ mit dem Gebrauch des Wortes Kopf koextensiv wäre, sollte gelten: Ein Kopf ist alles und nur das, was Kopf genannt wird. Dass Gebrauch und Begriff unterschiedlicher Betrachtung bedürfen, will ich im Folgenden zeigen. Wir verfügen über einen relativ klaren Begriff ‚Kopf‘. Abgesehen von der vernachlässigbaren Unklarheit, wo der Kopf aufhört und der Hals anfängt (beispielsweise beim Wellensittich), handelt es sich zumindest in bezug auf Wirbeltiere um einen Fregeschen BegriffFregesche Begriffe: Es ist eindeutig, was unter den Begriff fällt und was nicht. Es ist der Körperteil, an dem sich Augen, Nase, Mund (Maul, Schnabel) und Ohren befinden. In bezug auf Schnecken, Würmer, Tintenfische, Langusten etc. wird die Entscheidung deutlich schwieriger. Der prototypische Kopf ist der menschliche. Der Gebrauch des Wortes Kopf hingegen ist differenzierter als der Begriff ‚Kopf‘. Denn der Gebrauch des Wortes Kopf interagiert, bezogen auf Menschen, mit dem Gebrauch der Wörter Gesicht, Mund und Nase. So ist beispielweise der Mund zweifellos ein Teil des Kopfes. Aber ich kann, wenn ich ein Bonbon im Mund habe, dies nicht mit dem Satz beschreiben Ich habe ein Bonbon im Kopf. Mit dem Ausdruck im Kopf beziehen wir uns offenbar nur auf einen Teil dessen, was wir Kopf nennen, nämlich den Schädel. So kann man sagen, man habe Ohren am Kopf, nicht aber, man habe eine Nase am Kopf. Die Nase ist im Gesicht. Man kann sagen, man habe ein Gehirn oder Stroh im Kopf, nicht aber eine Zunge oder Backenzähne. Ein Schlag ins Gesicht ist kein Schlag auf den Kopf, und eine Gesichtsverletzung ist keine Kopfverletzung, obgleich das Gesicht unstrittig die Vorderseite des Kopfes darstellt. Das Wort Kopf wird offenbar einerseits dazu verwendet, den Körperteil oberhalb des Halses zu bezeichen und zu klassifizieren, andererseits, wenn man sich auf Teile des Kopfes bezieht, den Schädelteil des Kopfes zu bezeichen. In dem Satz Er schlug ihm auf den Kopf bezeichnet Kopf offenbar einen Teil des Kopfes; Kopf und Gesicht zusammen ergeben den Kopf. Das klingt nach logischem Widerspruch. Eine Strategie, ihn zu umgehen, könnte darin bestehen zu sagen, Kopf sei zweideutig. Dagegen spricht dreierlei: Erstens die Abwesenheit der Disambiguierungsverpflichtung (siehe Kapitel 7), zweitens die mangelnde Wohlgeformtheit von Sätzen wie Der hintere Teil meines Kopfes ist der Kopf oder Ich habe einen Kopf am Kopf. Bei echten zweideutigen Wörtern sind Sätze dieser Artt nicht bizarr, wie die folgenden drei Beispiele zeigen: In der Bank steht eine Bank. Auf dem Pass liegt ein Pass. Im Schloss liegt ein Schloss. Drittens ist „mangelnde Logik“ in der Sprache weder selten noch störend, wie leicht gezeigt werden kann: Die Länge des Armes bemisst sich von der Schulter bis zur Spitze des Mittelfingers. Ist die Hand somit ein Teil des Arms? Oder enden die Arme an den Handgelenken? Enden die Beine an den Fußknöcheln? Wie dem auch sei, wenn Kopf zweideutig ist, sollten Arm und Bein ebenfalls als zweideutig gelten, und das Reich ambigerAmbiguität Ausdrücke würde bald übervölkert sein. Ich vermute, dass es angemessener ist, sich damit abzufinden, dass die Bedeutungen von Ausdrücken der natürlichen Sprache in einigen Aspekten ad-hoc-Charakter haben. Das Beispiel zeigt: Wir haben einen relativ klaren Begriff ‚Kopf‘, der bezogen auf den Bereich von Weichtieren und Schalentieren (und möglicherweise anderen) unscharfe Ränderunscharfe Ränder bekommt. Aber da, wo der Begriff ‚Kopf‘ am klarsten ist, nämlich bezogen auf Menschen, ist der Gebrauch am verworrensten.

Diese Art der Verwirrung scheint typisch zu sein für sogenannte Meronomien.25CruseRadtke Man kann in der lexikalischen Struktur einer Sprache zwei Typen verzweigender hierarchischer Strukturen unterscheiden: Taxonomien und Meronomien.

Eine TaxonomieTaxonomie strukturiert Klassen in Teilklassen. Ein MeronomieMeronomie strukturiert Gegenstände in Teile. Ein typisches Beispiel (eines Ausschnitts) einer Taxonomie ist:


Ein typisches Beispiel (eines Ausschnitts) einer Meronomie ist:


Meronomien unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht signifikant von Taxonomien.26Cruse Ich will hier nur auf zwei Unterschiede eingehen, die für die oben genannte Verwirrung verantwortlich sind. Die Frage, ob ein Pinguin eine Art Vogel oder ein Hund eine Art Tier ist, lässt sich durch biologische Untersuchungen und die Anwendung der KlassifikationskriterienKlassifikationskriterien entscheiden, wohingegen die Frage, ob man sagen kann, die Hand sei ein Teil des Armes, nicht durch die Untersuchung von Händen und Armen geklärt werden kann. Das ist eine rein sprachliche Frage. Da eine Meronomie keine Hierarchie von Klassen ist, gibt es keine Teilungskriterien in dem Sinne, in dem es Klassifikationskriterien gibt. Zumindest für die Meronomie der Körperteile scheint es typisch zu sein, dass ein und derselbe Ausdruck sowohl zur Bezeichnung eines Ganzen sowie eines seiner Teile verwendet wird, d.h., dass in dem Baumdiagramm ein und derselbe Ausdruck an beiden Knoten einer Kante stehen kann. Wenn wir uns der Terminologie von Cruse bedienen, können wir beispielsweise von dem Wort Kopf sagen, es werde sowohl als HolonymHolonym (als Bezeichnung des Ganzen) als auch als MeronymMeronym (als Bezeichnung eines Teils seines Holonyms) verwendet. Bei Taxonomien ist der Sprecher relativ frei in der Wahl der Ebene.27Radtke Er hat in einem gewissen Rahmen die Freiheit, das Hyperonym (den Ausdruck, der die übergeordnete Klasse bezeichnet) oder das Hyponym (den Ausdruck, der eine Teilklasse des Hyperonyms bezeichnet) zu wählen. Ich kann sagen, Ich habe mir ein Tier gekauft, wenn ich mir einen Goldhamster angeschafft habe. (Wenngleich es befremdlich wäre zu sagen, Ich habe mir Lebenwesen gekauft, wenn ich für den Garten Salatpflanzen gekauft habe.) Bei Meronomien scheint es hingegen so zu sein, dass der Sprecher nicht den Ausdruck, der ein Ganzes bezeichnet, das Holonym, wählen darf, wenn er einen Teil meint: Mein Körper reicht vom Scheitel bis zu Fußsohle; aber ich trage keine Mütze auf dem Körper. Mein Kopf reicht vom Scheitel bis zum Kinn; aber ich habe keine Zähne im Kopf. Mein Arm reicht von der Schulter bis zu den Fingerspitzen; aber ich habe keine Fingernägel am Arm. Daraus folgt, dass ein Ausdruck, der sowohl als Holonym als auch als Meronym verwendet wird, immer im Sinne des Meronyms interpretiert wird, wenn diese Interpretation möglich ist. Das heißt, ein Ausdruck einer Meronomie wird tendenziell immer in der spezifischeren Lesart interpretiert: Er hat eine Wunde am Arm heißt, dass er sie nicht an der Hand hat. Er bekam einen Kuss auf den Kopf impliziert, dass er ihn nicht ins Gesicht bekam. Er trägt eine Tätowierung am Körper impliziert, dass er sie nicht am Arm trägt. Ich will diese sehr vorläufigen Überlegungen hier abbrechen. Detailliertere Untersuchungen zum GebrauchGebrauch von Wörtern meronomischer Hierarchien stehen meines Wissens noch aus. Kehren wir zurück zur Hauptlinie unserer Argumentation.

 

Die Beispiele, die ich angeführt habe, sollten deutlich machen, dass Begriffe einerseits nicht sprachunabhängig sind, andererseits nicht einfach mit Bedeutungen gleichgesetzt werden dürfen. Begriffe bilden sich aus Bedeutungen. Sie sind Einheiten unseres Denkens, die geformt werden durch GebrauchsregelnGebrauchsregel unserer Sprache. „Einer der häufigsten philosophischen Fehler […] besteht in der Annahme, daß alle bedeutungsbestimmenden Regeln von der gleichen Art sein müssen, d.h. daß alle Ausdrücke ihre BedeutungBedeutung auf die gleiche Weise erhalten“,28 stellt HareHare fest. Ich will nun zeigen, dass die vier genannten Typen von Begriffen (Fregesche Begriffe,Fregesche Begriffe, Begriffe mit unscharfen Rändern, Begriffe mit FamilienähnlichkeitsstrukturFamilienähnlichkeitsstruktur und Begriffe mit Prototypenstruktur) von sprachlichen Zeichen erzeugt werden, deren bedeutungsbestimmende Regeln von unterschiedlicher Art sind. Den vier Typen von Begriffen entsprechen vier Typen von Gebrauchsregeln.

Es gibt Wörter, deren Gebrauch wir über explizite Definitionen erlernen und speichern. Eine Primzahl ist eine ganze Zahl, die nur durch die Zahl eins und durch sich selbst teilbar ist. Dies habe ich in der Schule gelernt, und dies ist mein Kriterium der Entscheidung, ob eine Zahl eine Primzahl ist oder nicht. Das Wort Primzahl versuche ich ausschließlich zu verwenden, um auf Zahlen zu referieren oder Zahlen zu charakterisieren, die der Definition entsprechen. Der Begriff ‚Primzahl‘ entspricht einer Gebrauchsregel, bei der auschließlich solche Merkmale, die Wahrheitsbedingungen darstellen, Gebrauchskriterien sind. Solche Gebrauchsregeln erzeugen Fregesche Begriffe.

Den GebrauchGebrauch des Wortes Wasser oder Haus habe ich nicht über eine explizite Definition gelernt. Wasser verwenden wir, um all das zu bezeichnenbezeichnen, was aus der Leitung kommt, was wir trinken, womit wir uns waschen, was in Flüssen, Seen und Meeren fließt oder steht, was vom Himmel regnet etc. Wasser eignet sich zum Baden, Trinken, Waschen, Gießen etc. Das heißt, Kriterium des Gebrauchs des Wortes Wasser sind nicht nur Eigenschaften der so bezeichneten Flüssigkeit, sondern auch deren Nutzung und Erscheinungsweise. Gebrauchsregeln, die die Nutzung des Referenzobjekts als Kriterium des Gebrauchs des betreffenden Wortes beinhalten, erzeugen typischerweise Begriffe mit unscharfen Rändern, da die Geeignetheit eines Gegenstands gemeinhin Toleranzen zulässt. Viele Gebrauchsregeln enthalten sowohl Objektmerkmale als auch ObjektnutzungObjektnutzungen als Gebrauchskriterien. Die Bedeutung des Wortes Haus ist beispielsweise von dieser Art. Ob ein Wolkenkratzer, eine Moschee oder eine Kirche Häuser sind, ist (meines Erachtens) unklar. Dass ein Iglu und eine Jurte keine Häuser sind, ist hingegen klar. Häuser sind, wie Iglus und Jurten, zum Wohnen bestimmt, aber Häuser sind, im Gegensatz zu Iglus und Jurten, standortgebunden und für einen größeren Zeitraum erstellt.

Die Bedeutung eines Wortes wie Vogel erlernen wir weder über eine Definition noch bezeichnen wir damit Tiere, die auf bestimmte Weise genutzt werden (im Gegensatz etwa zu Federvieh, Geflügel oder Wild, deren Gebrauchsregeln Begriffe mit unscharfen Rändern erzeugen). Den Gebrauch des Wortes Vogel haben wir über typische Beispiele gelernt: Vogel nennt man Tiere wie die, die draußen im Garten hüpfen und fliegen, und alle, die diesen in relevanter Weise ähnlich sind.29Bickerton Eine Gebrauchsregel dieser Art erzeugt Begriffe mit Prototypenstruktur. Welches die relevanten Ähnlichkeiten sind, lernen Kinder im Laufe der Zeit hinzu, und einige besonders seltsame Exemplare, wie Pinguine, Kolibris und Emus, lernt man gemeinhin explizit ad hoc zu subsumieren. Das heißt, die Gebrauchsregel von Primzahl ist der von Vogel darin ähnlich, dass in beiden Fällen ObjektmerkmalObjektmerkmale Kriterien des Gebrauchs der Wörter sind. Nur: Über die Gebrauchskriterien des Wortes Primzahl verfügen wir explizit, die von Vogel müssen wir uns induktiv erarbeiten, mit all den damit verbundenen Unsicherheiten der Über- und Untergeneralisierung. Als Bedeutung des Wortes Primzahl lernen wir nicht: 7 ist eine Primzahl, und ebenso alles, was der 7 in relevanter Weise ähnlich ist. Die 7 mag die Primzahl sein, die auf Nachfrage am häufigsten genannt wird, aber sie ist nicht eine protopypische Primzahl in der Weise, wie ein Spatz ein prototypischer Vogel oder ein Fisch der Größe und Form eines Herings ein prototypischer Fisch ist. Wenn die Idee der PrototypikalitätPrototypikalität auf Begriffe angewendet wird, die ihre KomprehensionKomprehension nach Maßgabe von Nutzungseigenschaften klassifizieren (wenn also z.B. ein Hammer ein prototypischeres Werkzeug ist als ein Bleistift), so sollte man sich mindestens darüber im Klaren sein, dass man dann zwei verschiedene Typen von Prototypikalität unterscheiden muss.

Stellen wir uns vor, wir beobachteten bei einem kleinen Volk in der Südsee, wie Männer bungeespringen. Wie könnten wir entscheiden, ob es sich dabei um ein SpielSpiel handelt? Welche Informationen benötigten wir? Wenn sie es aus lauter Freude am freien Fall tun, könnten wir es Spiel nennen; aber es könnte auch ein Sport sein. Und wenn sie von den Zuschauern Geld dafür bekommen? Wenn sie es tun müssen, um heiraten zu können? Wenn jeder das tut, wenn er 40 Jahre alt geworden ist? Wenn es Berufsbungeespringer sind? Wir hätten, so glaube ich, keine Möglichkeit zu entscheiden, ob es sich um ein Spiel handelt oder nicht. Wir könnten uns fragen, ob wir, wenn es dasselbe bei uns gäbe, das Spiel nennen würden. Auch das können wir nicht entscheiden. Wettangeln bezeichnet man meines Wissens nicht als Spiel; Stierkämpfe könnte man meines Erachtens als Spiele bezeichnenbezeichnen. Russisches Roulette ist ein Spiel; ein Duell mit Pistolen ist kein Spiel. Fallschirmspringen ist ein Sport, aber kein Spiel. An der Börse spekulieren aus Freude am Risiko kann man unter Umständen als Spiel betrachten; mit einem festen Ausgangskapital um die Wette spekulieren ist ein Spiel.

Die Gebrauchsregeln des Wortes Spiel sind geleitet von einer Reihe von Prototypen, die wir ad hoc als Spiele zu bezeichnen lernen. Wir lernen als Kinder, dass Mensch-ärgere-dich-nicht ein Spiel ist, dass Fußball ein Spiel ist und dass mit Sand eine Burg bauen ein Spiel ist. Wir können dies lernen, ohne gemeinsame Merkmale überhaupt unterstellen zu müssen. Hinzu kommt, dass wir jedwede Tätigkeit eines Kleinkindes, die nicht der unmittelbaren Lebenserhaltung dient, spielen nennen. Wenn wir mehrere Prototypen ad hoc Spiel nennen, so gelangen wir zu einer Adjunktion von Merkmalen, die leicht rekombinierbar sind, etwa der Art: Eine Tätigkeit nennt man Spiel, wenn sie nur um ihrer selbst willen ausgeübt wird und wenn sie Spaß macht, oder wenn sie zu mehreren nach Regeln ausgeführt wird und einen Sieger hervorbringt, oder wenn eine Risikosituation zu meistern ist, oder wenn sie der Einübung einer Tätigkeit dient usw., sowie alle Tätigkeiten, die diesen in relevanter Weise ähnlich sind. In einer solchen Gebrauchsregel sind und und oder frei variierbar. Eine solche RegelRegel kann auch leicht durch positive wie negative ad-hoc-Regeln ergänzt werden, wie etwa: Tätigkeiten, die religiösen Zwecken dienen, nennt man nicht Spiel. Gebrauchsregeln dieser Art erzeugen Begriffe mit Familienähnlichkeitsstruktur. Es ist zu vermuten, dass es in einer Sprache nicht sehr viele Wörter geben kann, die solch unordentlichen Gebrauchsregeln folgen. Sie setzen, wie alles Unordentliche in einer Sprache, eine relativ hohe FrequenzFrequenz voraus, eine starke interpretationsfördernde kontextuelle Einbindung sowie ein hohes Maß an Akzeptanz und Toleranz seitens der Sprecher. Wenn ich in einer Speisenkarte lese: Salat von warmer Kaninchenleber so würde ich, auch wenn ich dieses Gericht im häuslichen Alltag nicht Salat nennen würde, eine solche Benennung aufgrund der FamilienähnlichkeitsstrukturFamilienähnlichkeitsstruktur (und der Speisenkartenautoren gegenüber erforderlichen Benevolenz) widerstandslos akzeptieren.

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