Sonne satt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

4

In den Flieger aus Berlin dringt über Funchal ein Azurblau, wie selten im deutschen März. Hohl klingt das Applaudieren dennoch aus den Reihen der dreihundert und mehr Sitze, wo tief geatmet wird nach windiger Landung. Auf der Rollbahn holpern die Räder, und ebenso die Blicke der Fluggäste auf die vor den Berghöhen glitzernden Atlantikwellen, fast ohne jedes Lächeln.

Flink nesteln Hände an den Sitzgurten, obgleich der Flieger noch nicht steht und die Lautsprecher schnorren: „... bis die endgültige Position erreicht ist.“ Wie gehörlos recken sich die Ersten nach den Handgepäckkästen. Doch einige Luftraumerfahrene träumen Madeira entgegen, bleiben sitzen, passiv wie Leo.

Leo beobachtet diese wenigen Wissenden, die keine Sekunden kennen. Erstkommende strukturieren den perfekten Urlaub voraus in der Idee, das Beste aus allem mitzunehmen. Leo läuft nichts weg. Auf sie wartet ein vorbestelltes Motorrad.

Nach einer halben Stunde stemmt Leo ihre roten Stiefeletten auf einen Jeepanhänger, und rollt das Geländerad von der Rampe. Ihre sehnigen Hände greifen zu, prüfen die Technik rundum. Auch den Tank, vor den besorgten Blicken einer sie musternden jungen Einheimischen. Von ihr nimmt sie die Kontrollpapiere an, stopft die in ein Innenfach der rot paspelierten Lederjacke, zurrt den Reißverschluss hoch. Leo schwingt ein Lederhosenbein über den Sitz, und schon trippeln die hohen Absätze der Jeepfahrerin auf einer Stelle. Zu ihr weitet Leo ihre reisemüden braunen Augen.

„Ich weiß, wo die Insel des ewigen Frühlings grün ist. Und Senhora Maria hat ein Auge auf diese hutzelige Touristin, die Maschine bleibt heile! Meine Überreste entsorgt niemand.“ Eine Hand klatscht die junge Frau an den Mund, Leo legt den ihren in ironische Falten, und ergänzt: „Ich kenne das Gerede über den Lebensmüden, abgesprungenen vom Cabo Girao, fünfhundert Meter tiefer an den Klippen zerschellt. Ihre Kandidaten erreichen mit Pestiziden im Wein kein so endgültiges Resultat.“

Leo zieht den Auspuff knatternd durch, und setzt ihren Helm an die weißgrauen Strähnen, die alsbald hinter ihr flattern.

Die junge Frau bekreuzigt sich, klappt rasch die Rampe ein, und die Jeeptür hinter sich zu. Sie sieht dem kleiner werdenden Punkt nach, er verschwindet im ersten Tunnel.

Vor der Gärtnerei schaltet Leo neben Margaritas erdverkrustetem Moped den Motor ab. Ein rostiges Ausstellungsregal sehend, mit Blumentöpfen bestückt, bemerkt Leo dahinter im Glas die Sprünge und Rahmen mit Pappen ausgefüllt. Den Boss vermutet sie in der Mittagssonne und lauen Luft dösen, lieber, als sein Gewächshaus zu reparieren. Kein Vergleich mit den an allen hektischen Tagen einen Schlips tragenden Berliner Bankern.

Margarita eilt in wiegendem Gang heran, ihre grüne Schürze in den Jeansbund krumpelnd. An den Wangen ziehen feine Falten ihre Frühjahrsbräune in ein frohes Grinsen.

„Ola, Berliner Weiße!“, ruft sie schon, ihre Hände strecken erdige Haut vor, sodass Leo kommentiert: „Hallo, Landei!“ Sie zieht den Helm ab, reckt dann beide Arme zur Begrüßung, und ulkt fröhlich: „Dein Stutenfohlen funktioniert noch?“

Margarita nickt über der prächtigen Leihmaschine, Leo hält es nicht mit ihrer Denkart.

„Bergaufwärts könnte ich zwar Blumen pflücken, aber für die WG sind drei Schadstoffschleudern genug. Sei willkommen, liebe Freundin, nur leider ist meine Mittagspause um und mir stehen, im Vergleich zu dir, vor Eile die Haare zu Berge.“

„Wie das? Gehen Madeiras Uhren doch wie im Rest der Welt?“

„Nur sonst nicht, uns piekt der Auftrag zum Blumenfest, und der Chef lässt auch die grundlegenden Schäden bearbeiten. Kurz ist er fort, bin knapp erlöst.“ Durch ihr kinnlang braunes Haar streichend, fragt Margarita dann: „Magst du sehen, wie weit wir sind? Drei zusätzliche Arbeiter ernten an den Terrassen unten Paradiesvogelblumen, die Anfang März im Temperatursturz eines zweistündigen Hagelsturms brachen. Der Boss beaufsichtigte die quasselnden Kerle, ihn respektieren sie, so lange er ihnen den Rücken nicht zudreht. Mir ein Gräuel, aber nun muss ich hin.“

„Dein Meister liegt nicht im Streicheln seines Egos hinter dem ramponierten Gewächshaus?“ Leo schlägt eine Parallele, und sprudelt hervor: „Freilich wirkt es nicht so zerstört wie Chile vom verheerenden Erdbeben und dem Tsunami am 27. Februar. Diese Warnung ging an Australien, Hawaii und Japan, und flatterte in unsere Bank. Zu aller Aufatmen kam die befürchtete Höhe nicht an. Die Saison der Tornados ab April in USA lässt mit Weiterem rechnen. Hier schiebe ich dergleichen weg, ebenso alle in rote Zahlen gehende Immobilienfonds.“

Ins Azurblau, in den Strahlenkranz des Feuerballs blinzelt Leo. Ihre weißen Vorderzähne blitzen im Mund über ihrem spitzen Kinn, an das sich im Senken weißgrau ihr Haar wellt.

„Ihr steht alle am Schlauch - ich bin weg vom Krötenkrampf! Die Sonne scheint satt, komm schon, seil dich mit mir ab!“

Grinsend zuppelt Margarita an Leos Jackenverschluss, wobei sie die dunklen Ränder kurzer Fingernägel präsentiert.

„Ich wage es nicht. Heute streichelt der Meister keinen und am wenigsten sich selber. Aber zwinkert er, dann vibriert auch etwas Erotik für mich.“

„Ah? Entsichert er seine Managermaske? Und regt sich was?“

„Noch ist der Gärtnermeister eine fette Raupe, schlüpft er zahm, rank und schlank, dann vielleicht. Bis dahin fälteln sich meine Hände wohl noch mehr auf.“

Leo stampft mit den Stiefeletten an den Boden.

„Ach, dein altersgenügsames Gefüge bioelektrischer Schläge! Aber gut, ein Hund verhunzt nur deinen Teppich, nicht das ganze Leben, erinnere die Filme aus den Sechzigern!“

Leo sieht Margaritas Blick von sich ab, in sich kehren, und ihre Hände betasten, von denen sie Erdstaub abreibt.

„Vorrang hat, etwas zum Leben zu haben. Hast du die großen Plastikblüten hoch oben an den Straßen im Vorbeifahren gesehen, den Festschmuck? Die Gebilde, die meinen Namen ehren?“

„Die verbraten die knappen EU-Gelder, die Portugals Kassen fehlen. Der Armutsstand wird Madeira immer zugeordnet, aber der gibt euch einen bezahlbaren Standort, verglichen mit dem teuren Deutschland. Na, Schwamm drüber.“

„Oh, das ist dein handfestes Pokerwissen. Gelder fehlen den Blumenbauern, für die Überseeimporte, zum Schmuck der Wagen im Blumentorso. Madeira erhielt EU-Zuschüsse für die dem Tourismus nutzenden Tunnel. So kommen Gelder ins Land.“

„Die locken die Leute nach Funchal in die Hast, was für ein Urlaub! Ich freue mich auf euren prächtigen Quintagarten. Jedes Mal, insbesondere nach den Monaten, in denen hier Spinnen ihre Gewebe ausbreiten, fühle ich mich mit wahrer Naturverbundenheit beschenkt. Ich spüre schon die duftreiche Abendfeuchte ins Hemd dringen. Eine so köstliche Erfahrung, wie die Himmelsfarben auf die Sinne. Sogar die Nebel morgens, steigen sie ins Nirgendwo, derweil ich ganz gelassen meine Aktivitä plane. Ach, schön!“

Margarita tritt vor Augen der Wetterschaden im Februar, von Anton nicht beseitigt, der motiviert ihn beileibe nicht.

„Ja, genieße nur das Schöne“, haucht sie, zurückhaltend im Ton. „Das Gästezimmer neben Lians Atelier erwartet dich.“

„Auch Pat und Patachon, lang und kurz, breit wie hoch?“

„Ja! Maiks Gewinnerpokal ist die leere Schüssel, aber Anton frisst besinnlicher. Usa und Lian kochen heute. Jetzt aber muss ich hier den Kollegen einheizen.“ Sich abwendend, umrundet bald Margarita das Glashaus und ruft zurück: „Ate logo, bis später.“

Leo befährt die Terrasse der Quinta und hupt, nichts rührt sich. Ihre angelieferte Tasche steht auf der Krüppelholzbank.

Vor dem Atelier am Kies bestreuten Vorplatz haltend, freut Leo sich an den Töpferwerken hinter der blanken Glasfront über dem halben Meter Bruchsteinmauer aus dunklem Basalt. Am Eingang reckt eine Kiwi am Spalier ihre Ranken über einem Holztrog mit skurrilen Wurzeln. Sechs Meter ferner liegt das Gästezimmer und davor die Glastür, aufgehend zu Vorplatz und Garten.

Erwartungsvoll wendet Leo sich dem vermeintlich prächtigen Garten zu, der Anblick öffnet ihr ungläubig den Mund. Sich aus der Lederjacke pellend und den Helm vom Kopf nehmend, sieht sie hinüber. Der Saum von gepflanzten Stauden - prachtvoll hüfthoch waren sie gewesen - zur Schneise gelichtet. Nichts wogt wie in der Erinnerung in nachmittäglicher Brise vor der unteren Mauer! Am Rauputz haftet auf der Länge eines Busses dunkle Matscherde, von Oberflächenwasser ausgewaschen, durchmengt von den Blättern entwurzelter Stauden. In breiten Rillen wurden Beete zerstört, ein winziges Stück erst krönt früher Salat.

Das Desaster tief beatmend, schnappt Leo gute Luft in sich, gesättigt von Düften derjenigen Büsche, die der braunen Masse wie Mahnmale standhielten. In einer von Maracujas berankten und aufgeschossenen Datura zwitschern winzige gelbe Vögel, denn der Wind weht süßer als anderswo von den Höhen herab. Das besteht, weiterhin tröstlich für ein Gefühl von Heimkommen. Das frische Grün der Fruchtbäume würde bald die sommerdunkle Farbe tragen, üppiger als an deutschen Bäumen.

Daheim steht ein Avocadobaum eingekübelt im Glashaus, nicht majestätisch sechs Meter hoch wie der dem Lorbeerbaum verwandte linkerhand. An den Enden der Zweige wachsen schon in den grünen Blütenständen winzige Knollen. Eine herbstliche Ernte dieser an langen Stielen hängenden violettbraunen Birnen erlebte Leo mit. Bestäubt von Insekten, die den Nektar der Rispen schätzen, und erwärmt von der Sonne wie heute, wächst ein guter Ertrag heran.

Nun versöhnt, legt Leo in den Unterstand auch das Chaos der Ankunftswahrnehmungen, und Jacke und Helm. Voraus zur Wohnküche geht sie, und öffnet die Sprossentür. Dabei, Leo weiß es genau, spiegeln sich die Lichtreflexe von der Tür an der Lederhose und betonen ihr Lächeln zu den eifrig Beschäftigen hinüber.

 

Eine darunter beugt soeben die Knie in schwarzer Pluderhose am offenen Backofen. Ein leckerer Dunst, von Fenchel, Knoblauch und Sellerie wallt heraus, auch an den weißen Bluse von Usa.

Leo geht in drei Schritten zu ihr, küsst ihr die Wange. Usa zieht lächelnd das Backblech heraus, stellt es am Tisch, an dem Lian noch hantiert, an den Korkuntersatz.

„Ola, du Liebe! Extra für dich gibt es Gemüseauflauf. Auf den Punkt, brodelt der Käse“, grüßt sie nur mit Worten Leo, die ihr folgt und dem Abstechen großer Quadrate zusieht. Krümel von den Händen reibend, nimmt Usa Platz und wedelt sich mit einem Blusenzipfel Kühlung zu. Und dies begleitet Lians feine Stimme.

„Mein Willkommen für dich, Leo! Ich dekoriere schnell noch die letzten im Hanggarten gepflückten Hibiskuskelche vor unsere sieben, nein sechs, aufgedeckten Wassergläser.“

Lian führt es aus, steckt eine gelbe Blüte hinter ein Ohr im halblangen graublonden Haar. Die belebt ihr schwarzes Tshirt und ihre wie ein nahender Sommertag leuchtenden blauen Augen.

Dann erst umarmt Lian warmherzig Leo.

Da die Kichernden nicht voneinander lassen, giggert Maik:

„Höchst betörender Besuch rückt für uns alle an!“

Er steht barfuß in roter Jeans und karierten Kurzarmhemd an der Arbeitsfläche. Einen Sauerteig walkt er für neue Brote.

Anton hört Maik plaudern, und beendet das Aufdecken zweier Schalen Wildkräuter und der überdimensionalen Salatschüssel in noch trüberer Laune. Keinen Deut ändert daran das würzige Aroma der Kräuter, die sich entfalten. Er winkt Leo zu dem Platz bei seinem, an den er sich setzt und mit tiefer Stimme raunt:

„Maik übt. Demnächst besucht ihn eine alte Freundin. Seit unser Domizil fertig ist, erinnert er sich, mit Frauen anders zu verkehren, das war zuvor unnötig.“

„So kurz angebunden, Anton? Auch ich bin dir eine Freundin, wenngleich nur zu Margarita in dicker alter Freundschaft.“

Leo mustert des Stämmigen weißes Knitterhemd, erfasst seine Stimmung. Die drückt sie bleiern an ihren Stuhl.

Maik nähert sich ihr und seinem Stammplatz in der Nische am Geschirrschrank, neigt sich zu Leos nun ernsthaftem Gesicht.

„Du kommst zum ersten WG-Jahrestag, grandios! Küss mich!“

„Aber lass die Teigfinger von meinem Hemd.“

Leo reibt ihre Wange auf Maiks Stoppeln. So entledigt ihres mulmigen Empfindens, steigt sie auf seine Heiterkeit ein, wiegt Maiks Arme sachte und innig in ihren Händen.

Bald nach seinem Händewaschen plumpst Maik an seinen Platz. Grinsend faltet er vor sich seine Hände, und lauscht Leo.

„Ja, übe! Ein Flirt kann so leicht gelingen wie Teigwalken. Du hast prächtige Anlagen, ausbaufähig in jedem Alter. Flirten könnte in eurer WG allerdings eine disharmonische Gratwanderung mit sich bringen, und die wäre keine wünschenswerte Lage. Gerne mehr dazu unter vier Augen.“

Sich umwendend betrachtet Leo die Kerben in Antons Gesicht, sein Reiben am linken Ohr. Den Überfall ungeordneter Gedanken. Sie öffnet die ihren einer Ahnung von seinem Desaster.

„Na, na, Freundschaft und Mögen sind immer bekömmlich, und helfen über manches störende Äußere hinweg, Anton.“

Anton hört heraus, sie meint den Gemüsegarten, dem er sich nicht widme. Kein Elan. Diese Zerstörung birgt mehr als er sich zumuten mag. Ein uraltes Grab, um das er in Kreisen schleicht.

Rasch senkt er die reibende Hand, zu Usa linsend. Auch ihr Gemüt baumelt am Rückzugsfaden. Zu engagiert, überreicht sie ihm seinen gefüllten Teller. Anton holt gedanklich aus für den Hinweis an Usa, zumindest sie dürfe sich verstanden fühlen.

„Ah ja. Offene Worte über gehätschelte Gewohnheiten geraten uns nicht mehr in den falschen Hals. Heute bereden wir nichts Konfliktreiches, bekömmlich soll das Vorgesetzte sein.“

Lian entzündet noch Leuchter an Sideboard und Tisch, bevor sie Antons Wink bekaut hat, und sich vor ihr Essen setzen kann.

Geruhsam, wenn auch mit gemischten Ambitionen, genießen die Versammelten Leos Wind von außerhalb ihrer Welt als Zugabe im Tagesanlass. Stunden verstreichen, dann duften die gebackenen Brote ihr süßliches Aroma in den Rauch brennender Kerzen.

5

Im Halbkreis ihrer halbhohen Korbsessel vor dem Kamin sitzend, streckt die Gruppe gemeinschaftlich ihre Füße zur Wärme. Wohlig satt, kommt nur knapp ein Gespräch in Gang.

Abends um acht Uhr knattert Margaritas Moped draußen auf.

„Dein Happen steht im Ofen, Salat am Tisch“, meint Leo, als Margarita unterm leisen Hauch eines „Hallo“ eintritt. „Du Arme, siehst ja ganz und gar ruhebedürftig aus.“

Maik deutet für sie ans Klemmbrett nahe dem Fenster.

„Es kam ein Brief für dich an. Einmal kein elektronischer.“

Erwartung schwebt durch den Raum, Margarita reagiert nicht, füllt zügig ihren Teller, setzt sich an den Tisch.

Ihre Abkehr irritiert Usa, sie windet sich im Sessel.

Der knarzt und wohl auch sie selber, rügt es Anton bei sich und bemerkt, zeitgleich dem Geräusch, noch nicht von Usa gehört zu haben, was Vera zu Hotelgast Carel wisse. Komme Vera vom Nachtdienst, schläft Usa und auch er, erwägt er. Und, den Kerl der Schublade ‚Liegenlassen erledigt’ aufzudrücken. Schon spürt er darin deren Zettel zittern wie ein Nest junger Ratten; ein werdendes Grausen in seiner miesen Tageslaune, die erfuhr keine Besserung durch seinen gütlich gefüllten Magen. Er lugt unter seinen Wimpern zu Usa, und wähnt den Moment einer Frage höchst unpassend: Von ihrem Kopf ausgehend, tastet ein lichtes Bündel Farbfäden in etwa zu ihm hin. Ein Rausch, unabwendbar, erfasst ihn weich im Bauch, obschon das silbrige Bündel nun gänzlich unsichtbar wird. Es entschwindet, war nur ein Schemen. Befangen in Erregung, sagt Anton innerlich dennoch lautlos: „Oh, schade! Aber wahrnehmen kann ich derlei Schönes also doch noch!“

In Gänze gestört wird Antons winzige Freude, verbraucht und abgelenkt. Usa steht auf, trägt herbei ein meterbreit mit Stoff bedecktes Bambusrohr, hängt es an einer Schlaufe an einen Ecke am Geschirrschrank. Sie lässt ihre Hand daran und erhält sofort jegliche stille Achtung im Raum.

„Ihr Lieben, anfangs nannte Leo die Leichtigkeit im Flirt. Was ich euch zeige, passt hervorragend. Schon lange vor diesem Abend begann ich in ebenso langen Nächten dies.“ Einen erregten Moment wartet Usa ab, entrollt ihr Werk auf erdfarbenem Leinen, öffnet anbietend ihre Hand. „Schaut das Patchwork an, den einen Schwarm farbenfroher Schmetterlinge. Unzählige Flügel flattern in den verschiedensten Neigungen.“

Sprachlose Überraschung antwortet ihr aus allen vier weiten Augenpaaren, als sie kurz in die Runde am Kamin lugt.

„Du hast es drauf, großartig geworden!“, kommt es zärtlich von Maik. „Eine zweite Kreative wurde uns geboren!“

„Bedeuten dir Schmetterlinge etwas Besonderes?“, will vom Tisch Margarita wissen. Das Gespräch über ihrem Gärtnermeister erinnernd, winkt sie Leo mit ihrer Gabel.

Nachdenklich nickt Usa. Ihr Lächeln streift Anton.

„Robusten Wesen mit Gebrauchsspuren, wie uns, verkünden sie ihre gewisse Magie im wimpernzarten Zickzackkurs. Einem Wahren auf der Spur, der Nahrung der Zukunft, von unbekannter Paarung. Wie ihr seht, haben einige Schmetterlinge zerzauste Flügel, sie wurden von gierigen Eidechsen angefressen.“

„Verwandle die Schmetterlinge in Faltenfalter, analog uns“, schlägt Leo vor, reckt sich, tippt vor ihren Hals. „In meinem Bauch regten sich vor Jahren Schmetterlinge! Hingegen drapiert sich faltige Haut zusehends an. Trotzdem fliegen wir von Blüte zu Blüte und wünschen uns, auch mit der Alterung noch als schön anerkannt zu werden, was Maik?“

Ihr zwinkernd, gibt Maik seiner Stimme einen rüden Klang.

„Den Sex junger verliebter Paare will ich nicht nachmachen, der war damals auch nicht wert, mich darauf zu reduzieren.“

„Maik! Diese Flamme geht nicht aus! Zwar war ich noch nie auf der jährlichen Berliner Erotikmesse, aber hörte von Fotos auf Kalendern für jene mit Sehnsucht nach der Erotik kommender Jahre. Nach der Freude der Berührung, die vielleicht sogar die Seele der Partnerin berührt, um in den noch neuen körperlichen Bedingungen die Liebe neu kennen zu lernen. Die alte Identität, die einer nur potenten Kraft, ersetzt die aufs Allerfeinste.“

Leben flirrt über die Runde. Die Korbsessel erknarren. Mit einem Einwand schafft Usa sich Gehör.

„Leo, vor Jahren begegnete mir die Hawaiianische Heilkunst, und vieles im Yoga. Kundalini steigt doch immer auf, wenn auch im Alter langsamer zu den Schwachstellen, um Daniederliegendes anzuheben, wenn der Input an Lebenserfahrung zu bindend war.“

Usa hält Leos Blick fest, und senkt ihre Tonlage.

„Das funktioniert wie ein Zugriff neuzeitlicher Schwingung und leitet aus alten Zellen Ballast aus. Mir bestätigt es sich derzeit, meinen Stil entwickelt zu haben, und darin erfährt das Wissen um uralte Heilkünste keine Entwertung. Ich wünsche mir für die vor mir liegenden Jahre, mir sollte an jeder Wegesecke etwas erotisch aufgeladene Kreativität in Reinkultur winken.“

Anton reckt sich, sein Hals knittert vor Druck.

„Leo, unerwünschte Auslöser, Impulse gegen Stagnation, gib anderswo!“

„Na!“, faucht Leo, fletscht weiß die Zähne, Riffumschiffung vergessend. Schon wippt eine ihrer roten Stiefelspitzen, will Anton stechen. „Ich Kröte tappte in eines deiner Fettnäpfchen!“

Usa stemmt die Hände an die Pluderhose, und reckt ihr Kinn.

„Anton, schau, wage den Blick in deine Zukunft, in der gar nichts Unerwünschtes steckt.“ Sie schraubt ihre Stimme tiefer. „Du wirst anfangs überrascht sein, was dir aufleuchtet, darauf kommt es an. Die Phase der Falten abverlangt eine Strategie zum Glücklichsein, von alten Sicherheiten abzulassen, von falscher Orientierung. Weil die letzten Körner in der Sanduhr rieseln!“

Um Anton eine Denkpause zu verschaffen, reckt sich Lian und ruft, beinahe außer sich:

„Frei falscher Sicherheit? Du meinst wohl nur den Klang der Luft, den Schmetterlingsschwingen hören lassen!, was Härchen am Arm bei einer leichten Brise antworten! Ich weiß um die Magie der Liebe. Es gibt sie neben allem, was Evolutionsforscher uns versuchen zu beweisen.“

„Lian, du kommentierst vom kreativem Winkel aus“, knurrt in die Stille hinein am Esstisch Margarita. „Ich eile mit Weile, vormals hieß es, Zeit ist Geld. Deshalb hatte ich es eilig mit der Liebe in der Ehe, an deren Niedergang ich älter wurde. Der Kurs ändert sich, aber wissen will ich, wo er hinführt.“

„Ja!“, bestätigt Anton, obschon er Margaritas Brummen kaum verstand. „Du und ich bezahlen für emotionale Erpressung nicht mehr mit Herzblut.“

Anton zornig anfunkelnd, blafft Usa: „Suchst du danach, wie es nicht zu sein hat, hältst du dich an den alten Vorstellungen fest. Anderssein impliziert, Eigenliebe erschafft Glücksräume!“

„Ja ja!“, funkt Anton zurück. „Du weißt, wie das geht.“

„Jetzt reicht es!“, wirft Maik ein, „du wirst verletzlich, mach Schluss damit, nimm das Gift raus, Anton, auch du, Usa!“

Maik rappelt sich hoch, stochert die Kaminglut mit ruppigen Armbewegungen auf, legt ein Scheit vom Stapel daneben hinein. Noch dahin sehend, stößt er aus:

„Entgegen Streiten wäre vorteilhafter, ihr würdet euch mal wieder liebevoll necken, und euch aushalten!“

Usa kraust die Brauen. Anderes beschwörend wispert Lian:

„Liebe Usa, du weißt um den Zauber des Erfolges aus deiner Quelle. Lass Anton gegen den Strom seiner Integration schwimmen und danach fällt ihm seine Vernetzung leichter, und wohlmöglich wird er gestärkt und in sich verständnisvoller.“

Das Knistern der Kaminflammen übertönend, ruft Leo streng:

„Wo ich herkomme und hin zurückkehre, da ertrage ich andere Gemeinheiten wie ihr. Anton wird irgendwann klar werden, warum er bockt. Mich ödet das vor mir liegende genauso an, wie Anton oder Margarita das ihrige. Ich halte mich ab jetzt hier still!“

Anton gelingt es, seine ihm durch Leos Kritik klargewordene Stagnation zu überwinden. Aber nicht allen Missmut, vorgelagert in dunkelster Tiefe. Der drängt zu Leo.

„Ich höre Dominanzanspruch! Dir gebe ich kein ABO zum Tanz nach deiner Pfeife.“

Sprungbereit fortzulaufen, rutscht Leo an ihre Sesselkante, nah geht ihr der Vorwurf. Nur piepsen kann sie.

 

„Anton, du hast ein mieses bipolares Beziehungsmodel! Nicht zum ersten Mal rührst du herum in dem Topf!“

„Leo, sei wieder gut!“, unterbricht Lian, da sie ahnt, was sie anhören soll. „Du siehst das und bist ganz richtig, und so lieben wir dich. Sicher willst du nur anregen. Anton begreift das völlig falsch als Autoritätsanspruch, weil ihm sein Packen Vorkommnisse im Leben das seine im Jetzt erschwert.“

Nun setzt Anton zu Widerspruch an, umfasst die Armlehnen am Sessels hart. Doch, schon im Wenden zum Schrank, knurrt Usa:

„Hör auf, zügle dich, Anton!“

Bemüht, betrachtet sie ihr Werk. Weich wird ihr Blick von den nächtlichen Durchgängen in zukunftsweisende Ideen, seit sie die Schmetterlinge fand und mit ihnen flog wie ein zufriedenes, fröhliches Kind. Tief ausatmend, wendet Usa sich in der Runde hingefletzter Grauhaariger einfühlsam an Antons dunkle Augen.

„Dein Missverständnis beende. Absorbiere nicht deine faden Kaugummis irgendwelcher Bewertungen unter der Schuhsohle.“

Leo prustet los, absolvierte längst einen ähnlichen Abgang.

„Mit diesem bunten Berliner Stempel lebe ich so gut wie ein Paradiesvogel nur könnte.“

„Kannst du dir auch vorstellen, Anton eine PC-Nachhilfe zu geben? Vermutlich profitiert er mental von deiner Routine, und findet danach hinaus zur Katastrophe im Garten.“

„Ups!“, ruft Anton. „Usa, ich neige mein Haupt in den Staub vor deinen Schuhen, du gebietest über hohen Starrsinn und doch schaukelt dein Pferdchen.“ Für Leo fügt er an, ebenso zynisch:

„Arm wäre ich ohne dich. Flirten wir also am PC. Fein!“

„Und freundlich, längs eurer Rollen.“ Usa lächelt gelassen.

„Murkse Leo nicht ab für ihren kreativen Reichtum, oder ihre uralten Fangarme. Sie wählt das Richtige für ihre Sicherheit.“

„Bei Sicherheit fällt mir das im Sportstudio mit Gewichten trainierende junge Gemüse ein, das weiß nichts von Arthrose im Ellbogen.“ Leo hört am Gestöhne in der Runde am Kamin, was sie angerichtet hat. Sie schwenkt auf ein anderes Gebiet um. „Diese Pannen an uns, besiegt demnächst die Stammzellenzüchtung!“

„Ein Ansatz von allgemeinem Interesse, doch der verpufft!“, blafft Maik Leo an. „Jeder schiebt das Altern in Würde von sich ab, keiner freut sich auf den Rollator. Zuversicht, prima Laune und Weitermachen sind die besten Pillen, meine ich, und frage mich schon, wie Schmetterlinge enden! Kurzlebigkeit und Falten nur, sind die uns gemein? Trockene Runzeln kommen sowieso, die sind das selige Ende an der Sprossenleiter zum Himmel.“

„Du und deine Endgedanken zur alten Fassade“, rügt ihn Lian ernsthaft, bedenklich an der Nase reibend. „Lass ab vom Kummer. Ich verstehe, zum Zweck ihrer Nachkommen tickt auch die Uhr der Schmetterlinge und läuft ab im Paarungsflug, nachdem sie ihren Nektar tranken. Wir trinken unser Lebenselixier noch eine ganze Weile! In mir existiert keine Zeit in meiner Seele Funken. Wie ewig frisch, altern die nicht, werden niemals alt sein.“

Lian hebt ihre Hand von der Nase, dreht den Kopf zum Tisch. Zu Margarita, deren krasse Miene sie ignoriert und ihr winkt.

„Dir töpfere ich, analog Usas Schmetterlinge, einen Stempel für deine Duftseifen. Findest du Zeit, dein Hobby zu pflegen?“

„Zeigt sich ein Luftloch, gehe ich mit dir einig.“

„Ups! Das war knapp.“

Antons Augenbrauen zucken theatralisch hoch auf die Stirn. Seine Stimme färbt er gelassen ein und bedeutungsschwer, weil Maiks Haar zwar wirr steht, doch nicht vom Raufen. Es passierte akut auch nichts mehr. Doch das zuvor Geschehene schmort noch.

„Im Sonnenschein schwärmen Falter, und ähneln uns, auch wir mögen für die vorerst letzte Etappe Wärme. Angenehm wäre dabei auch nachbarschaftliche Gegenliebe - die fehlt im Paradies. Die

hiesigen Bananenfalter imitieren zur Abschreckung ihrer Feinde Raubtieraugen an den Flügeln. Ansonsten fällt mir nur ein, euch um Ideen zu bitten, wegen der Rotzlümmel in der Nachbarschaft!“

Der Versuch war es wert, wegen dem Nest scharrender Ratten. Ungenügend antwortet das Schweigen unbewegter Körper. Die Bitte erwürgt das schöne Weiche ihrer gealterten Gesichter. In Anton springt ein Getriebe an in Richtung der Nachfrage, so brauchbar wie ein leiser Motor. Abfahren vermag er nicht, soeben passiert mehr. Leo atmet tiefer, deutet heftig zum Wandbild.

„Dies Flattern hält uns unsere zwickenden Sechziger präsent und das zelebrieren wir am Beginn des neuen gemeinsamen Jahres. Usas Patchwork stellt es als ein Spiel auf: Siege für Wünsche.“

Vor ihrem Bildwerk wedeln Usas Arme nun auf- und abwärts in raschen Zickzacklinien vor den Schmetterlingen, zeichnen, malen Symbole davor. Andächtig wird ihr Treiben beobachtet.

Lian deutet Usas Wippschwünge als Sternbild, dem sie einen Auftrag zuteilt, es bündelt in einer Grafik. Und erinnert, sie sah solch ein Siegel schon auf uralten Amuletten.

Eine Interpretation zum salomonischen Siegel erinnert Lian. Ein sphärischer Geist küsse symbolisch wach, wecke Kraft. Weise knüpfen zudem ein Mantra hinein, das in das Feld eines Wunsches ziele, die Last vor der Erfüllung abwerfe. Im Detail genau wird ein Herzenswunsch dem Alltag überantwortet, der harre nicht aus in der Leere, sondern in Dankbarkeit, es erreicht zu wissen.

Schon ribbelt Lian geistig am vorigen Jahr, an ihrer Kette aus Tonkügelchen, die sie zur WG spannte, nach einem Besuch der im Umbau befindlichen Quinta. Viele Ideen regte die Idylle der subtropischen Gartenlandschaft an. Inspirationen für Monumente keimten endlich wieder, erneuerten den Glaube an ihre Berufung.

„Ihr Lieben!“, nimmt Lian das Gespräch wieder auf, als Usas Arme hängen. „Unsere temporär flexible Interessengemeinschaft gab mir ein Versteck vor den kalten Sphären am Festland, eine Zuflucht für meine Künste, und das Synonym meines Namens. Mit geschärften Sinnen kann ich mich auf- und abwärts schlängeln, wie meine Hände an Tonklumpen. Das wird mir, stets beglückend, auch möglich sein, lehnt der Gehstock daneben. Und treiben die Rotzlümmel mit uns noch mehr Schabernack.“

Lians blauer Blick streift über Maik, der mit Leos Stiefeln zärtlich barfüßiges Streicheln tauscht, und hin zu Anton, noch magnetisiert von Usa. Über Antons Schoß greift sie hinweg auf Usas Sessel, rückt daran, und fragt, warmherzig klingend:

„Hast du Wohlbefinden gewedelt und mutig weitergesponnen?“

Usa setzt sich, ihr Sessel knarrt unter ihrem Gewicht.

„Gesundheit, und langen Atem mit den Nachbarn und für einen neuen Job, um darin zu siegen. Mein Werk gefällt dir also?“

Leos wache Miene bemerkt Lian, und hebt an, in Empathie mit Usa, um ihren vorherigen Schlusspunkt auszuführen: „Mein Humor war weg, als ich mit dem Gesicht voran im Dreck der Schulden meiner Galerie lag, in der Scheingeborgenheit der Geldwelt.“

Kurz huscht ihr Blick auf Anton, ihn lernte sie damals als Reisepartner über eine Kontaktbörse kennen.

„Ich fand Freunde, das war mein Sieg und deshalb verstehe ich jeden Wunsch nach guten Job- und, ja, anderen Aussichten.“ Ihre Stimme senkt sie. „Bitte, wechseln wir das Thema. Anton, erzähle etwas Neues vom Glück deiner rollenden Räder.“

Anton lächelt, beginnt bedächtig.

„Mit dem neuen Reifen fährt der Jeep wieder prima. Mir war nach der Nägelattacke wichtig, Fernando zu treffen. Er glaubt nicht, nur Böses wäre uns bestimmt. Ich traf ihn beim Stall im Berg. Sein Schwager schlachtete ein Schwein, Fernando mag gerne Kotelett.“ Zu Maik grinst er, der höchst interessiert lauscht.

„Schnaps gab es, der gehöre dazu wie heißes Wasser, meinte der Schwager, und sang mir vor, was er in der Lehre lernte: Bis das Schwein hat den Haken rein, muss getrunken sein. Und Fernando

kannte den Wursterspruch deutscher Hausschlachter. Kommt raus, was reinkommt, komme er da rein, wo er nie wieder raus komme.“

Maiks Sessel knarrt auf, und er in dem Part alten Lebens.

„Hm, leckere Grützwurst mit Graupen, und Mettwurst.“

Anton nickt bestätigend, räuspert sich dann.