Harzkinder

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2. Kapitel

Hanka erreichte unversehrt ihr Zuhause, was an ein kleines Wunder grenzte. Hätte sie an Gott geglaubt, wäre sie ihm ein Dankeschön schuldig gewesen dafür, dass seine Engel sie auf der Rückfahrt von Elbingerode bis vor ihre Haustür in Königslutter vor einem Unfall bewahrt hatten.

Etwa anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie in den Edeka-Markt zurückgelaufen war, zu ihrem Einkaufswagen, der immer noch dort stand, wo sie ihn hatte stehen lassen. Sie hatte den Wagen zur Kasse geschoben, sich in die Schlange der Kunden eingereiht und vom zähen Strom mitziehen lassen. Wie paralysiert war sie gewesen, der Kopf wie leer gefegt, zu keinem klaren Gedanken fähig. Sie hatte die Frau an der Kasse nach dem Mann mit dem fehlenden Finger gefragt, hatte wissen wollen, ob sie ihn kenne, ihr hastig zu erklären versucht, dass es sich möglicherweise um ihren vermissten Sohn handele. Doch die Kassiererin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, dabei stoisch die Waren über den Scanner gezogen und ihr bei der Herausgabe des Wechselgeldes mit knappen Worten zu verstehen gegeben, dass sie keine Ahnung habe, wer der Mann gewesen sei. Dann hatte sie sich auch schon der nachfolgenden Kundin zugewandt gehabt.

Hanka war in ihr Auto gestiegen und mit ihr der Mann aus dem Markt. Sein Bild war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen, hatte Erinnerungen in ihr wachgerufen, sie in einen Strudel sich widersprechender Gefühle hineingezogen, gepaart mit unangenehmen körperlichen Missempfindungen. Sie hätte irgendwo anhalten und ihre Fahrt unterbrechen müssen, bis Herzrasen, Atemnot und das heftige Zittern abgeklungen gewesen wären. Stattdessen war sie weitergefahren. Streckenweise wie im Blindflug hatte sie einige brenzlige Situationen heraufbeschworen und war jedes Mal nur knapp einer Kollision entgangen.

Umständlich fummelte Hanka den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Je einen prallvollen Einkaufsbeutel in jeder Hand, trat sie in den düsteren Flur und schloss die Tür hinter sich, indem sie ihr mit dem Hacken des rechten Fußes einen Tritt versetzte.

„Rudi ...! Hallo, bist du da?“, rief sie. Eine überflüssige Frage, reine Gewohnheit. Ihr Mann verließ seit einiger Zeit kaum mehr das Haus. Seine Knochenschmerzen ließen es nur noch selten zu, dass er sich allein für längere Zeit aus seinem häuslichen Umfeld entfernte.

Sie stellte die Beutel in der Küche auf dem Tisch ab und ging ins Wohnzimmer. Die Stimmen, die sie bereits leise im Flur vernommen hatte, kamen aus dem Fernseher, gehörten zu den aufgeregt plappernden Personen einer Vorabend-Serie. Rudolf saß in seinem geliebten Fernsehsessel. Einige Haare seines grauen Schopfes ragten wirr über die Rückenlehne hinaus. Mehr war nicht von ihm

zu sehen. Sie ging hinüber, stellte sich seitlich neben den Sessel.

„Ich bin wieder zurück“, sagte sie.

„Hmhm ...“, brummte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Hanka sah sofort, dass es ihm schlecht ging. Sein Gesicht war grau vor Schmerzen, seine ganze Haltung starr und verkrampft. Sein Blick ging ins Leere. Schwer zu sagen, ob er überhaupt wahrnahm, was sich vor seinen Augen abspielte.

„Es hat sich gelohnt heute. Ich bin fast alle meine Gläser losgeworden“, versuchte sie, Rudolf für sich zu interessieren. Seine Antwort war ein mürrisches Grunzen, die Augen hielt er weiter geradeaus gerichtet, ohne jede Reaktion.

„Ich habe Sascha gesehen!“, platzte es aus ihr heraus. Hanka hatte die Neuigkeit für sich behalten, Rudolf nicht damit überfallen wollen angesichts seines Zustandes. Es gelang ihr nicht. „Im Edeka-Markt in Elbingerode!“

Ihr Mann verharrte in seiner starren Haltung. „Ach ...“, presste er nur hervor.

Hanka erkannte das plötzliche nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln. Es hätte ihr eine Warnung sein müssen. Doch sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie musste darüber reden, um den Druck loszuwerden, der sich in ihr aufgestaut hatte. „Diesmal war er es wirklich. Keine Einbildung. Seine Augen. Diese hellen blauen Augen. Und die Hand, weißt du. Der Finger! Der kleine Finger hat gefehlt! Ich habe das zu spät kapiert, habe ihn nicht aufgehalten! Ich ...“

„Sei doch mal ruhig, verdammt!“, unterbrach Rudolf sie schroff. „Ich kann nicht verstehen, was die im Fernseher sagen, wenn du dazwischenquatschst.“

„Hast du nicht verstanden? Ich habe Sascha gesehen! Meinen Sohn!“

In den scheinbar leblosen Körper kam plötzlich Bewegung. Rudolf stemmte seine Hände auf die Sessellehnen, drückte sich hoch und wandte sich Hanka ächzend und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu. „Mal wieder, ja? Hast deinen Sascha mal wieder gesehen?“ Er legte eine verächtliche Betonung auf das Wort „deinen“ und schnaubte wütend. „Du bist ja verrückt! Wie lange willst du mich eigentlich noch mit deinen Halluzinationen nerven, hä? Das ist doch nicht mehr normal!“

Hanka ignorierte seine Worte. Zu oft hatte sie schon hören müssen, dass sie verrückt sei und mit ihren Wahnvorstellungen in die Hände von Psychologen gehöre, nicht nur von Rudolf. In der Vergangenheit hatte sie sehr unter derartigen Bezichtigungen gelitten, hatte sich verkrochen und sich manche Nacht die Augen ausgeheult. Mittlerweile gelang es ihr immer besser, mit den Angriffen und Unterstellungen umzugehen, sie an sich abtropfen zu lassen.

„Glaub es oder nicht! Dieses Mal habe ich mich nicht getäuscht“, beharrte sie. „Eine Mutter spürt es, wenn sie ihrem Sohn gegenübersteht!“

„Ach? Tut sie das?“

„Allerdings! Aber davon hast du natürlich keine Ahnung! Du weißt ja nicht, wie das ist, eigene Kinder zu haben! Sonst würdest du dich mit mir freuen, dass ich Sascha endlich wiedergefunden habe!“

„Oh ja, natürlich! Und was ist mit deinem Ex? Dem Erzeuger deines Bengels? Warum hat der dich sitzenlassen? Der hätte dann ja auch überall nach seinem verschollenen Sohn Ausschau halten und irgendwann halluzinieren müssen! Hat er aber nicht! Er hat im Gegensatz zu dir nämlich akzeptiert, dass der Junge tot ist. Und er ist geflüchtet vor dir. Weil er deine Psychomacke nicht mehr ertragen konnte!“ Rudolf schnappte nach Luft, ließ sich stöhnend in seinen Sessel zurücksinken.

Hanka stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Und du? Warum hast du mich überhaupt geheiratet?“ Ihre Stimme bebte. „Du wusstest von Sascha. Du wusstest, dass ich ihn nie aufgeben werde, solange mir keiner seine Leiche bringt. Wenn ich dir so zuwider bin, warum bist du dann immer noch bei mir?“

„Das frage ich mich auch“, brummte Rudolf erschöpft.

„Ich sage dir, warum“, ging Hanka zum Angriff über, „du bist ein Wrack, brauchst meine Fürsorge mit deinem scheiß Rheuma, kommst alleine nicht mehr klar. Du weißt, dass du langsam zum Krüppel wirst. Darum bist du noch bei mir!“ Sie wollte ihn verletzen, es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Das hatte er verdient.

„Halt den Mund, verdammt!“, fauchte er mit letzter Kraft. „Verschwinde! Ich kann dein blödes Geplärre nicht mehr hören!“

Hanka drehte sich um, stapfte wütend aus dem Wohnzimmer, knallte die Tür mit voller Wucht hinter sich zu. In der Küche blieb sie vor dem Tisch stehen, stützte sich auf der Lehne des Stuhls ab, der ihr am nächsten stand. Sie atmete tief durch, starrte auf die vollen Einkaufstüten. Rudolfs Abfuhr tat weh, bereitete ihr körperliche Schmerzen. Sie zog den Stuhl vom Tisch ab, setzte sich, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann kamen die Tränen. Sie ließ ihnen freien Lauf, wehrte sich nicht dagegen. Unter heftigen Zuckungen ihres gekrümmten Oberkörpers flossen ihr ganzes Leid, die Enttäuschungen, die erlittenen Beleidigungen und Demütigungen aus ihr heraus.

Zehn, fünfzehn Minuten mochten vergangen sein, als ihr Tränenstrom versiegte, sie sich aufrichtete, sich schnäuzte, dann aufstand und sich daran machte, ihre Einkäufe hinter Schranktüren und in Schubläden zu verstauen. Ohne nachzudenken, erledigte sie die gewohnten Handgriffe, ließ damit ein klein wenig Normalität zurückkehren. Sie spürte, wie sich ihr Inneres allmählich beruhigte. Die Wut auf Rudolf legte sich. Es waren die Schmerzen. Nur deshalb war er so ekelhaft zu ihr gewesen, rechtfertigte sie sein Verhalten vor sich selbst. Rudolf war kein Tyrann. Im Grunde seines Herzens war er ein gutmütiger, verständiger Mensch. Wäre es anders gewesen, sie hätte ihn nie geheiratet. Aber als irgendwann die Krankheit anfing, veränderte sich sein Wesen. Ganz allmählich. Dieses elende Rheuma!

Die Bilder aus dem Supermarkt verschafften sich wieder Raum und drängten die Auseinandersetzung mit ihrem Mann in den Hintergrund. Sie musste etwas unternehmen, konnte nicht tatenlos bleiben. Die Begegnung dort am Weinregal einfach vergessen? Unmöglich! Dieses Mal war es etwas anderes. Sie hatte Sascha gesehen! Leibhaftig hatte er vor ihr gestanden, war nicht mehr nur das Phantom gewesen, dem sie nachjagte.

Was immer sie bisher unternommen hatte, ihren Sohn wiederzufinden – und es gab kaum etwas, das sie unversucht gelassen hatte – es war ohne Erfolg geblieben. Nicht den geringsten konkreten Anhaltspunkt hatte es gegeben, dass er noch lebte. Die Zahl derer, die mit ihr geglaubt, geträumt und gebangt hatten, war stetig geschrumpft, bis ihr irgendwann niemand mehr hatte Beistand leisten und Mut machen wollen. Wie oft war sie nahe daran gewesen, aufzugeben, den Stimmen Glauben zu schenken, die ihr einflüstern wollten, dass es keinen Sinn habe, sich an ein Hirngespinst zu klammern. Doch sie war standhaft geblieben, aller Schwarzmalerei und Widerstände zum Trotz. Dafür war sie jetzt belohnt worden. Für ihr unbeirrtes Festhalten an einem Strohhalm.

Er war es gewesen! Sascha, ihr Sohn! Sie spürte eine Gewissheit in sich, die sich durch nichts würde ins Wanken bringen lassen. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen, den Mann aufzuspüren, den sie im Supermarkt noch hatte entwischen lassen. Weil die Überraschung zu groß gewesen war und sie gelähmt hatte.

 

Sie verließ die Küche, ging energischen Schrittes durch den Flur, verließ das Haus. Das Auto musste noch in die Garage gefahren, die leeren Kisten aus dem Laderaum in den Schuppen getragen werden.

Während sie mechanisch die gewohnten Arbeiten erledigte, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Diejenigen, denen sie schon in der Vergangenheit die Türen eingerannt hatte, brauchte sie nicht mehr um Hilfe bitten. Zu vielen war sie auf die Nerven gegangen, ohne dass etwas Zählbares dabei herausgekommen wäre.

Welche Mittel und Wege blieben ihr also? Wieder zur Polizei gehen, die missbilligenden Blicke der Beamten ignorieren, ihre ablehnende Haltung aufbrechen und sie dafür gewinnen, nach dem Mann aus dem Supermarkt zu suchen? Sinnlos! Niemand von denen würde noch einen Finger für sie krumm machen.

Die letzten Kisten waren verstaut, als sie sich plötzlich wieder an ein Gespräch erinnerte, das schon ein paar Jahre zurücklag. Kerstin, ihre Tochter, hatte damals ebenfalls noch daran geglaubt, ihren Bruder Sascha eines Tages lebend wiederzusehen. Sie hatte irgendeinen Privatdetektiv erwähnt, den man möglicherweise mit der Suche nach dem Vermissten beauftragen könne. Ein Vorschlag, den sie, Hanka, jedoch abgelehnt hatte. So ein Privatdetektiv kostete viel Geld – Geld, das sie damals nicht hatte ausgeben wollen.

Heute war es ihr egal. Und wenn sie den letzten Cent in die Suche nach Sascha investieren musste, sie würde es tun.

Es behagte ihr nicht, sich an Kerstin zu wenden. Ganz und gar nicht! Ihre Tochter hatte sich längst denen angeschlossen, die vom Tod ihres Bruders überzeugt waren. Darüber war es seinerzeit zwischen ihnen beiden zum Bruch gekommen und sie hatten nie wieder ein Wort über Sascha verloren. In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis zum Glück ein wenig zu normalisieren begonnen. Da war es vielleicht nicht sonderlich klug, Kerstin wieder mit den alten Geschichten zu konfrontieren. Und doch sah sie keine andere Möglichkeit. Sie musste es wagen!

3. Kapitel

Knapp zehn Minuten mit der S-Bahn hatte Hanka vom Hauptbahnhof gebraucht, um zu der Adresse zu gelangen, die Kerstin ihr nach einer fruchtlosen und anfangs ziemlich lautstarken Diskussion schließlich gegeben hatte.

Hier, in diesem Haus in der Scheidestraße, sollte der Mann seine Detektei betreiben? Aber wo, bitteschön? Sie starrte auf das Schaufenster, das vollgestopft war mit gebrauchten elektrischen Apparaten aller Art, angefangen von Rasierern über diverse Haarföhne, Bügeleisen, Toaster und Handmixer bis hin zu Kofferradios, CD-Spielern und Uralt-PCs. Auch verschiedene Steinzeit-Handys lagen ganz vorn in der Auslage aufgereiht.

„Elektrogeräte aller Art“ stand in großen, geschwungenen Buchstaben auf dem Schild über dem Schaufenster, und etwas kleiner darunter „Reparaturen, An- und Verkauf“. Das Schild, dessen scharfer Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund sich über die Jahre unter einer schmierigen Schicht aus Straßenschmutz verkrochen hatte, sah ebenso heruntergekommen aus wie die gesamte Fassade in ihrem tristen Grau und mit den Graffiti-Kritzeleien. Links, direkt neben der Ladentür endete die Häuserfront. Eine schmale Hofeinfahrt schloss sich an, darauf folgte ein frei stehendes baufälliges Fachwerkhaus. Es war von Buschwerk überwuchert. Ein Bauzaun und Absperrplanken deuteten auf den baldigen Abriss des maroden Gebäudes hin.

Wo bin ich hier nur gelandet?, fragte sich Hanka. Die Gegend machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Irritiert suchend blickte sie den Straßenzug hinunter, an den wenig verlockenden Ladengeschäften entlang, fummelte den Zettel mit der Adresse aus ihrer Tasche, vergewisserte sich noch einmal. Kein Zweifel, die Straße stimmte und die Nummer des Hauses, vor dem sie stand, ebenso. Sie machte ein paar Schritte

zur Seite, sah die nackte Wand am Ende der Hofeinfahrt. Ein Steintritt an der Wand führte zu einer Tür hinauf. Vielleicht dort, dachte sie und ging hinüber. Die Tür war verschlossen. Weder gab es eine Klingel noch eine andere Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Ein Firmenschild, das ihr weiterhalf, war auch nirgends zu sehen.

Zurück an der Straße trat Hanka durch die schmale Glastür in das Elektrogeschäft. Warum noch lange herumsuchen? Sie konnte doch einfach den Ladeninhaber nach der Detektei fragen.

Im Verkaufsraum, einem schmalen Schlauch, roch es muffig. Ein schäbiger Teppichboden über knarrenden Dielen, links Regale bis zur Decke, vollgestopft mit Elek­trogeräten der Art wie sie im Schaufenster standen. Rechts der Tresen, dessen abgegriffene Holzplatte schon bessere Tage gesehen hatte. Darauf eine vorsintflutliche Regis­trierkasse zwischen Elektro-Kleinkram. Die Schubläden an der Wand hinter dem Tresen waren vermutlich voll davon.

Hanka machte einige Schritte in den Raum hinein, schaute sich um, schwankte zwischen Faszination und Ablehnung. Der Laden kam ihr vor wie ein Widerstandsnest gegen die Wegwerfgesellschaft. Hier wurde gesammelt, aufgepäppelt und wieder verkauft, was in der Welt draußen vor der Tür schon nach kurzer Zeit als überholt und unbrauchbar galt und entsorgt wurde. Das Sammelsurium um sie herum weckte plötzlich einen sentimentalen Gedanken an die DDR in ihr. Sie schluckte, wollte keine Erinnerungen zulassen, heftete ihren Blick an eine Spieluhr, die wie ein Fremdkörper zwischen all den anderen Sachen wirkte. Neugierig betrachtete sie das Kleinod, spielte für einen Moment mit dem Gedanken, die Uhr zu kaufen. Sie war nicht teuer. Dann wandte sie sich ab, sah zum Vorhang an der rückwärtigen Wand. Noch immer war niemand aufgetaucht. Gab es nirgendwo eine Klingel? Hatte überhaupt jemand ihr Kommen bemerkt?

„Hallo!“, rief sie, und gleich darauf noch einmal: „Hallo, ist da jemand?“

Nichts passierte. Die Spieluhr zog sie wieder in ihren Bann.

„Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten.“ Hanka fuhr erschrocken herum. Ein Mann tauchte aus einem Raum hinter dem Vorhang auf. „Ich habe gerade eine Platine zusammengelötet. Das konnte ich nicht einfach unterbrechen.“

Er steuerte auf sie zu, deutete auf die Spieluhr. „Ein wirklich schönes Stück, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Ich kann Sie Ihnen gern einmal vorführen.“

„Äh ja ... nein, nein, ich ...“ Hanka räusperte sich. „Ich bin nicht wegen der Spieluhr ... also, ich möchte nichts kaufen oder reparieren lassen.“

„Sondern? Haben Sie etwas zu verkaufen?“

„Das auch nicht. Ich suche einen Privatdetektiv, der hier sein Büro haben soll. Stefan Blume. Wissen Sie, wo ich den finde?“

Der Mann zog ein wenig die Augenbrauen hoch, blickte Hanka aus freundlichen braunen Augen an. Sie ahnte seine Überraschung mehr, als dass sie sich in seinem von einem eisgrauen Vollbart eingerahmten Gesicht bemerkbar machte. Seine Mimik wirkte eigenartig starr.

„Tut mir leid“, sagte er dann, „ich kenne keinen Privatdetektiv namens Stefan Blume.“

„Aber er müsste hier irgendwo sein Büro haben. Sehen Sie, ich habe es mir aufgeschrieben.“ Sie hielt ihm den Zettel mit der Adresse hin. „Vielleicht habe ich mich ja nur in der Hausnummer vertan.“

Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare, die ebenso grau waren wie sein Bart. „Wie ich schon sagte, ein Privatdetektiv Stefan Blume ist mir nicht bekannt.“ Er versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm jedoch nur im Ansatz, verfing sich irgendwo in seinem starren Gesicht. „Wer hat Sie denn auf die Idee gebracht, hier so jemanden finden zu können?“

„Meine Tochter“, entgegnete Hanka. „Sie hat mir die Adresse gegeben. Ich ...“

„Tatsächlich?“, fiel ihr der Mann ins Wort. „Na ja, nichts für ungut. Vielleicht möchten Sie die Spieluhr ja doch ... Ich kann Ihnen auf den Preis noch einen kleinen Nachlass geben. Dann haben Sie den Weg wenigstens nicht ganz umsonst gemacht. Sie kommen nicht aus Hannover, vermute ich.“

„Sieht man mir das an?“ Hanka grinste verlegen, winkte ab. „Lassen Sie mal. Zugegeben, die Uhr ist schön, aber einen weiteren Staubfänger kann ich zu Hause nicht gebrauchen. Vielen Dank.“ Sie ging zur Tür. „Ich verschwinde besser wieder. Entschuldigen Sie die Störung. Auf Wiedersehen.“

„Keine Ursache“, rief der Mann ihr nach.

Auf halbem Weg zur S-Bahn-Haltestelle blieb Hanka stehen. Hatte sie den Weg nach Hannover wirklich umsonst gemacht? Hatte sich Kerstin mit der Adresse vertan? Sie vielleicht sogar bewusst in die Irre geführt? Nein, bei allem, was sie in der Vergangenheit auseinandergetrieben hatte und das bei ihrem Zusammentreffen gestern wieder hochgekommen war, so niederträchtig wäre Kerstin nie gewesen. Vielleicht ermittelte dieser Stefan Blume ja längst nicht mehr. Oder er war umgezogen. Möglicherweise war er auch tot. Seit dem Tag, als Kerstin den Mann das erste Mal ins Spiel gebracht hatte, waren einige Jahre vergangen.

Hanka hatte die Haltestelle erreicht, zögerte jedoch, in die einfahrende S-Bahn einzusteigen. Sie trat vom Bahnsteig zurück, zog ihr Handy aus der Tasche, wählte Kers­tins Nummer. Es war nur ein kurzes Gespräch, dann setzte sie sich auf eine der Bänke an der Haltestelle und wartete. Etwa zehn Minuten dauerte es, bis Kerstin sie zurückrief. Sie solle noch einmal in den Laden gehen, dem Mann erklären, wer sie an ihn vermittelt hatte. Sie solle ihm den Namen ihres Bekannten nennen: Daniel Kettler. Das würde helfen.

Dieses Mal musste sie nicht warten, bis der Mann wieder hinter seinem Vorhang hervortrat.

„Sie?“, rief er verwundert aus. „Haben Sie sich das mit der Spieluhr doch noch mal überlegt?“

„Nein, ich ...“ Sie trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. „Ich bin zurückgekommen wegen Stefan Blume, dem Privatdetektiv.“

Der Mann schnaubte ungehalten. „Hören Sie, ich wiederhole mich ungern, aber ...“

„Ich weiß“, unterbrach Hanka ihn. „Es ist nur so, ich habe meine Tochter angerufen und sie meinte, ich soll Ihnen den Namen Daniel Kettler nennen. Dann würden Sie schon verstehen.“

Der Mann erwiderte nichts. Er starrte sie nur mit seinen braunen Augen an. In seinem Gesicht keine Regung. Es schien, als wolle er Hanka mit seinem Blick durchdringen. Unmöglich, zu erkennen, was sich hinter seiner Stirn abspielte. Sie wurde nervös, spürte, wie sich ihr Hals zuzog.

„Kommen Sie“, sagte der Mann plötzlich und ging ihr voran zum Vorhang. Hanka folgte ihm in den Raum dahinter.

Eine vollgestopfte Werkstatt tat sich vor ihr auf. Mattes Licht aus einer Leuchtstoffröhre unter der Decke erhellte den Raum nur notdürftig. Die Tischlampe auf der Werkbank zu ihrer Rechten ergoss dafür umso helleres Licht über die Arbeitsplatte. Werkzeuge, wohin man sah. Dazu die reparaturbedürftigen Elektrogeräte, teils geöffnet, sodass man ihr Inneres erkennen konnte. Hinten, in einer Ecke des Raumes, zwischen all dem Gerümpel kaum zu sehen, stand ein weiterer Tisch. Darauf steuerte der Mann zu, bediente den Schalter einer Wandlampe und bot ihr an, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Sie nahm Platz, er setzte sich zu ihr.

„Daniel Kettler hat Ihnen also die Adresse verraten?“, fragte er.

„Meiner Tochter. Er ist ein Freund von ihr. Und meine Tochter hat mir den Rat gegeben, Sie um Hilfe zu bitten. Sie sind doch Stefan Blume, der Privatdetektiv?“

Er wiegte leicht den Kopf, sein Lächeln blieb erneut an seiner starren Gesichtsmaske hängen. „Ja, so heiße ich. Aber in erster Linie mache ich das, was Sie hier sehen. Ich repariere, kaufe und verkaufe Elektrogeräte, die sonst als Schrott auf einer Müllhalde gelandet wären. Die andere Sache, na ja, das ist eher ein Hobby von mir, wissen Sie? Nichts, das ich in die Welt hinausposaune. Ab und zu helfe ich mal jemandem, den ich kenne und dem ich vertraue. Wie Daniel Kettler. Und da er mich Ihnen empfohlen hat ... schön, dann erzählen Sie mal.“

Hobbydetektiv? Hanka überkamen plötzlich Zweifel. Für so einen war ihre Sache vermutlich viel zu groß. Daran waren schon die Fachleute von Polizei und diversen Hilfsorganisationen gescheitert. Wenn dieser Stefan Blume nur ab und zu mal einer treulosen Ehefrau oder einem fremdgehenden Ehegatten hinterherspionierte, war das eine Sache. Aber ihren Sascha finden? Egal, es war ohnehin zu spät. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre blamabel.

„Ich suche meinen Sohn“, begann sie. „Er wird vermisst.“

„Ihren Sohn, aha.“ Sie sah die Zweifel in Blumes Augen. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber wie alt sind Sie?“

Hanka nannte ihm ihr Alter.

„Fünfundsechzig. Schön. Und Ihr Sohn?“

„Sascha ist zweiundvierzig.“

 

„Also ein erwachsener Mann im besten Alter. Und er ist verschwunden, wenn ich Sie richtig verstehe. Was sagt denn die Polizei? Vielleicht ist er nur untergetaucht, weil er es so wollte. Oder ist er krank, geistig behindert vielleicht? Ist er verheiratet, hat er Kinder, oder lebt er allein? Wohnt er bei Ihnen zu Hause? Wie genau ist seine familiäre Situation?“

So viele Fragen! Und es gab nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Blume riss überrascht die Augen auf. „Was heißt das, Sie wissen es nicht?“

„Er ist verschwunden, als er vier Jahre alt war.“

„Vier Jahre?“ Der Detektiv beugte sich ruckartig vor, kam ihrem Gesicht ganz nahe. „Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, das verstehe ich jetzt nicht so ganz.“

„Es war am zweiundzwanzigsten August neunzehnhundertachtzig“, begann Hanka. „Ein Freitag. Ich erinnere mich noch genau. Mein damaliger Mann und ich waren mit unseren Kindern in Urlaub, im FDGB-Heim ,Hermann Danz‘ in Friedrichroda. Es war unser vorletzter Urlaubstag. Wir haben eine Wanderung zur Wechmarer Hütte gemacht. Ein Ausflugslokal mitten im Wald ...“ Sie erzählte Blume von Saschas Verschwinden, ließ kein Detail unerwähnt. Sie konnte sich nach beinahe vierzig Jahren an jede Kleinigkeit erinnern. Als wäre es gestern geschehen. „Und vor ein paar Tagen habe ich ihn gesehen! In einem Supermarkt. In Elbingerode, im Harz“, sprang sie unvermittelt in die Gegenwart.

„Moment, Moment.“ Blume hob abwehrend die Hände. „Ich will die ganze Geschichte hören. Schön der Reihe nach. Was ist in den Jahren dazwischen passiert? Was haben Sie unternommen?“

„Oh, das ist eine ganze Menge. Wenn Sie alles hören wollen, dann dauert das.“

„Egal. Ich habe Zeit.“

Hanka sah ihn an. Auch wenn sein Gesicht keine Regung zeigte, so signalisierten zumindest seine Augen, dass er neugierig geworden war. Seine sonore Stimme und sein offensichtliches Interesse beruhigten sie wieder ein wenig, ließen die Anspannung weichen, die sich in den zurückliegenden Minuten in ihr aufgebaut hatte. Sie schilderte dem Detektiv ihren Leidensweg in den Jahren nach Saschas Verschwinden in allen Einzelheiten. Der Detektiv lauschte aufmerksam. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht.

„Und jetzt glauben Sie also, ihn gesehen zu haben“, beendete Blume schließlich ihren Monolog. „Im Harz. Im Edeka-Markt in Elbingerode.“

„Genau. Das sagte ich ja schon.“ Sie schilderte ihm das Zusammentreffen mit Sascha und wie sie ihn wieder aus den Augen verloren hatte.

„Und allein dieser fehlende Finger hat Ihnen ausgereicht, um zu wissen, dass es sich um Ihren Sohn handelt?“

„Vergessen Sie nicht seine Augen! So leuchtend blau habe ich sie noch nie bei jemandem gesehen.“

„Trotzdem, ein bisschen wenig, um sich nach so langer Zeit gewiss zu sein, finden Sie nicht?“

„Hören Sie, ich bin seine Mutter!“, entrüstete sich Hanka.

„Schon gut. Ich verstehe“, beschwichtigte Blume. Dann sagte er nichts mehr, sah sie nur an, schien nachzudenken.

„Was ist jetzt? Helfen Sie mir?“, fragte Hanka nach einigen Augenblicken ungeduldig.

Blume seufzte, drückte sich gegen die Stuhllehne. „Also gut“, entgegnete er gedehnt, „ich werde versuchen, etwas über den Verbleib Ihres Sohnes herauszufinden. Wird nicht ganz leicht, allein mit Ihrer Beschreibung des Mannes aus dem Supermarkt.“

„Hören Sie, am Geld soll es nicht scheitern, falls Sie darauf anspielen.“ Sie dachte an ihr über die Jahre Erspartes. Für ihre Verhältnisse eine mittlerweile beträchtliche Summe. Eigentlich hatte sie das Geld anders verwenden wollen. Aber ihre Pläne waren mit Rudolfs zunehmend schlechter werdendem Gesundheitszustand ohnehin zur Makulatur geworden. Was sollte ihr also noch wichtig sein, außer, dass sie Sascha wieder in die Arme schließen konnte?

Später, als sie wieder in den Zug zurück nach Hause einstieg, hatte sie dem Detektiv einen Vorschuss in bar zurückgelassen und mit ihm weitere Treffen an noch zu bestimmenden Orten vereinbart, um dort über Ermittlungsergebnisse zu reden und, falls nötig, weitere Vorauszahlungen zu übergeben. Jetzt ruhte ihre ganze Hoffnung auf den Fähigkeiten des Mannes, der ihr so undurchdringlich erschienen war und der aus seiner Detektivtätigkeit ein ihr unerklärliches Geheimnis machte.

Kurz nachdem der Zug aus dem Hauptbahnhof gerollt war, schlug Hanka die Tageszeitung auf, die sie sich am Bahnhofskiosk gekauft hatte. Ihr Blick fiel auf eine Nachricht, die sie vor Schreck erstarren ließ:

Dietmar Knoche, der Leiter des Edeka-Marktes in El­bingerode war ermordet worden! Einen Tag, nachdem sie ihre Marmeladen bei ihm abgeliefert hatte und ihr Sascha über den Weg gelaufen war, hatte eine Angestellte seine Leiche gefunden – morgens, in seinem Büro. Knoche sei auf bestialische Weise umgebracht worden. Details zum Tathergang könne die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt nicht preisgeben, hieß es in dem Zeitungsartikel und weiter, es gebe noch keine Erkenntnisse zu Täter und Motiv. Man ermittle in alle Richtungen.