Harzhunde

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„Entschuldigung, würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben?“, hielt Blume sie zurück. „Falls ich noch Fragen habe.“

Sie nickte geistesabwesend und diktierte ihm die Nummer in sein Smartphone. Dann drehte sie sich um und verließ überstürzt den Imbiss. Ihr Abgang hatte etwas von Flucht an sich.

Blume sah ihr grübelnd hinterher. Seine Gedanken hingen an einer ihrer Äußerungen fest. Dreylings Motorrad war verschwunden, aber sein Auto stand unter dem Carport? Wie konnte das sein? Wenn der Mann mit seiner Geliebten hatte untertauchen wollen, wäre er dann nicht mit seinem Wagen gefahren? Diesem protzigen Audi Q7, aus dem er ihn und Sandra Kullmann bei seiner Observation einige Male hatte aussteigen sehen? Unter dem Carport, der zu seiner Penthouse-Wohnung gehörte? Mit dem er zur Hütte im Wald gefahren war, nachdem er seine Geliebte auf einem abgelegenen Parkplatz abgeholt hatte? Und wenn die beiden für ihr Verschwinden Sandra Kullmanns kleinen Mazda MX-5 Roadster benutzt hätten, wäre Dreyling etwa mit seinem Motorrad zu einem geheimen Treffpunkt gefahren, um dann mit ihr gemeinsam die Reise fortzusetzen?

Blume konnte sich nicht vorstellen, dass sie nur mit kleinem Handgepäck gereist waren. Oder gar nichts mitgenommen hatten. Und sei es nur zum nächsten Flughafen. Eine Hals-über-Kopf-Flucht? Nein, das konnte nicht sein. Ihr Abgang wies planerische Züge auf. Allein schon der Zeitpunkt, an dem Sandra Kullmann ihren Ehemann eingeweiht hatte. Dass sie überhaupt noch einmal Kontakt zu ihm aufgenommen hatte! Aber Dreylings Verhalten! Wie passte das? Gehörte sein stillschweigendes Verschwinden zum Plan? Gab es einen Grund, bewusst eine Suchaktion heraufzubeschwören?

Blume brauchte Gewissheit! Zunächst einmal darüber, ob Mareike Jahns Geschichte von dem fehlenden Motorrad stimmte. Er würde auf der Rückfahrt einen Abstecher zu Dreylings Penthouse machen.

8. Kapitel

Die Praxisangestellte hatte nicht gelogen. Dreylings Audi stand unter dem Carport. Von einem Motorrad keine Spur. Blume hatte am Hauseingang geläutet. Nur um sich zu vergewissern, dass sich niemand in der Wohnung aufhielt. Die Gegensprechanlage war stumm geblieben, und er hatte seinen Heimweg fortgesetzt. Klüger war er durch diesen Kurzbesuch nicht geworden. Unterwegs ein Anruf. Von Katja. Er möge doch bitte bei Maria Hübner vorbeifahren. Die wolle ihn dringend sprechen. Es gehe um einen Auftrag. Ein Schafzüchter mache ihr zu schaffen.

Wenn Maria Hübner sagte, es sei dringend, dann war das nicht übertrieben. Nur wenige Tage, nachdem Blume bei Katja ins Geschäft eingestiegen war, hatte er die Wolfsexpertin kennengelernt. Sie war Stammgast im Ponytale Saloon. Eine sympathische, umgängliche Frau. Klein und kräftig, mit einem Gesicht, das keine Schminke benötigte. Dazu die kurzen, immer etwas struwweligen Haare – der attraktive Freiluft-Typ.

Blume hatte sich schnell mit ihr angefreundet. An manchen Abenden hatten sie zusammengesessen, über Gott, die Welt und Wölfe geredet und dabei die Zeit vergessen. Schon lange war er nicht mehr ein derart enges Freundschaftsverhältnis mit jemandem eingegangen. Genau genommen war es das erste Mal gewesen. Von Katja einmal abgesehen. Aber das war eine andere Geschichte. Maria war vor allem eine ehrliche Haut. Die wichtigste Voraussetzung für ihn, sich einem Menschen zu öffnen und ihm Vertrauen zu schenken. Eine Konkurrenz für Katja war sie nicht! Nur eine gemeinsame Freundin.

Als Blume den kleinen Bauernhof erreichte, hatte sich der Himmel komplett zugezogen, und erste Tropfen fielen auf die Windschutzscheibe seines Toyotas. Wenige Meter weiter, bei der Fahrt durch das Tor und über den Hof, schüttete es schon wie aus Kübeln. Von der Sonnenwärme des Vormittags war nichts übrig geblieben. Der angekündigte Wetterumschwung hatte in der letzten halben Stunde mit Macht eingesetzt, und mit dem Regen übernahm der Herbst endgültig die Regie. Maria stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Haustür. Es schien, als habe sie dort auf ihn gewartet.

„Schön, dass du so schnell kommen konntest“, rief sie ihm entgegen. Blume war ausgestiegen und überbrückte im Laufschritt die wenigen Meter zur Tür.

„Katja hat mich informiert. Ich war auf dem Rückweg von Nordhausen und dachte mir, ich schaue sofort bei dir vorbei. Sie sagte, du hast es dringend gemacht.“

„Na ja, ich meinte eher, sobald du Zeit hast“, relativierte Maria.

„Jetzt habe ich Zeit“, sagte Blume. „Wenn es dir recht ist?“

„Aber klar! Komm erst mal rein. Musst dich ja nicht nassregnen lassen. Willst du ’nen Kaffee?“

„Oh ja. Den kann ich gebrauchen.“ Blume schüttelte sich und trat an ihr vorbei ins Haus.

„Du glaubst, dieser Thiele ist der Urheber der Briefe und er hat dir die beiden Reifen zerstochen?“

„Und vorletzte Nacht hat er mein Gemüsebeet verwüstet“, ergänzte Maria. „Er, zusammen mit zwei weiteren Figuren. Ich habe oben auf dem Dachboden in der Scheune gehockt und Wache gehalten. Ich musste ja damit rechnen, dass was passiert. Was sollte ich anderes tun? Leider sind sie abgehauen, bevor ich sie mir vornehmen konnte.“

„Heißt das, du hast sie erkannt?“

„Nein, eben nicht. Das ist es ja! Es war zu dunkel, und das Licht meiner Taschenlampe hat nicht ausgereicht.“

„Du bist trotzdem sicher, dass es der Schafzüchter war?“

„Ja klar! Der und seine Kumpane. Wer denn sonst? Er hat mir ganz offen gedroht!“

„Ich nehme an, du möchtest, dass ich mich um die Sache kümmere“, folgerte Blume.

„Das wollte ich dich fragen, ja. Ich kann mir nicht jede Nacht auf dem Boden um die Ohren schlagen.“ Maria hob die Hände zu einer hilflosen Geste. „Aber ich brauche Beweise gegen ihn. Wenn du mir die lieferst, kann ich ihn zur Rechenschaft ziehen. Du hast die entsprechende Ausrüstung. Du darfst dich gern bei mir einquartieren, wenn es nötig sein sollte.“ Sie sah ihren Freund bittend an. „Hilfst du mir?“

Blume wiegte zögernd den Kopf.

„Ich zahle dir natürlich dein normales Honorar“, fügte sie hinzu. „Daran soll es nicht scheitern. Kein Problem.“

„Über das Geld mach dir mal keinen Kopf“, entgegnete Blume und kratzte sich nachdenklich am Bart. „Na gut“, sagte er einige Augenblicke später und nickte. „Dann brauche ich zunächst mal die Adresse von diesem Thiele ... und der Mann ist sauer auf dich, weil du dich für Wölfe engagierst? Du hast ihm nichts getan, was ihn zu diesen Aktionen treibt?“

„Nein, überhaupt nicht!“, zerstreute Maria energisch jeden Zweifel. „Ich wollte ihm sogar helfen und mir seine gerissenen Schafe ansehen. Das hat er abgelehnt. Hätte ja sein können, dass wildernde Hunde die Übeltäter waren. Dann wären seine Feindbilder zerstört.“

„Du meinst die Wölfe?“

„Die und ich.“

„Schöner Mist“, seufzte Blume. „Okay, dann werde ich mal sehen, ob ich den Herrn überführen kann. Muss ich sonst noch was wissen?“

„Nein, nichts, was mit Thiele und seinen Attacken auf mich zu tun hat. Da ist aber noch eine andere Sache. Das solltest du dir mal ansehen.“ Maria stand auf, ging zu einem alten Sekretär hinüber, zog eine Schublade auf und holte etwas heraus. „Ich wollte nur mal deine Meinung hierzu hören. Hat jetzt nichts mit den Schafen zu tun ... oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht.“ Sie kam zurück an den Tisch und legte Blume einen bunten Stofffetzen vor die Nase. „Das habe ich oben im Hochwald gefunden. Besser gesagt, Chucky hat es entdeckt, als ich mit ihm unterwegs war.“

Blume ergriff den dreieckigen, etwa handflächengroßen, verdreckten Fetzen und betrachtete ihn einen Moment. Das farbenfrohe Muster leuchtete deutlich unter der dünnen Schmutzschicht hervor. Die Ränder waren gezackt und ausgefranst. Abgerissen, stellte er fest, nicht etwa abgeschnitten oder auf andere Weise sauber vom großen Rest getrennt. Der Stoff gehörte vermutlich zu einem Kleidungsstück. Einem Rock, einem Kleid, oder zu einer Hose. Das, was er da in der Hand hielt, schien Leinenstoff zu sein.

„Was hältst du davon?“, fragte Maria lauernd.

„Hm ...“, brummte Blume, dann fügte er zögernd hinzu: „Da hat sich wahrscheinlich jemand durch Dornengestrüpp gezwängt und sich die Kleider zerrissen.“

„Wo ich es gefunden habe, gibt es keine Dornen.“

„An einem Ast hängen geblieben?“

„Möglich. Trotzdem ...“

„Was?“

„Ein Bekannter, Daniel Kranz, ist von einem riesigen Raubtier angefallen worden. Sagt er. Er glaubt ja, es war ein Wolf. Ein ziemliches Stück von meiner Fundstelle entfernt. Aber nicht so weit, dass ein Zusammenhang undenkbar wäre.“

„Ist es so gewesen oder behauptet er es nur? Keine Horrorgeschichte, die er sich ausgedacht hat?“

„Nein, ist wohl wahr. Er hat ein verletztes Bein und humpelt. Warum sollte er mir ein Märchen auftischen?“

„Verstehe.“ Blume nickte. „Und jetzt glaubst du, dieses Monster ist auch hierfür verantwortlich?“

„Ich weiß es nicht. Klingt alles ein wenig seltsam. Es gibt keine Hinweise. Weder auf Wölfe noch auf wildernde Hunde, die sich hier in der Gegend herumtreiben. Was die Wölfe betrifft, hätte ich bei eindeutigen Anzeichen für ihre Anwesenheit längst Wildkameras installiert. Dann wüsste ich jetzt etwas mehr.“

„Du siehst aber schon einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen, oder?“ Blume hob den Stoff an, hielt ihn sich vor die Augen, betrachtete ihn noch einmal eingehend. Das bunte Muster weckte eine Erinnerung in ihm. An ein paar Fotos. Er hatte sie vor gar nicht allzu langer Zeit geschossen. Konnte es sein ...? „Hast du was dagegen, wenn ich den Fetzen fotografieren?“, fragte er. „Ich muss da mal was überprüfen.“

„Nein, mach nur“, antwortete Maria. „Du hast irgendeine Idee, stimmt’s?“

„Mal sehen. Vielleicht“, brummte Blume. Er hatte das Stoffteil wieder auf den Tisch gelegt und lichtete es mit seinem Smartphone ab. Dann stand er auf und verabschiedete sich. „Ich muss los, Maria“, sagte er. „Habe ja jetzt einiges zu tun.“

 

Er ging zur Tür. Sie folgte ihm.

„Wie willst du vorgehen?“

„Was?“ Blume blieb stehen.

„Mit Thiele. Willst du ihm hier auf dem Hof auflauern?“

„Äh ... nein, ich denke, ich werde mich zuerst ein wenig bei deinem Schafzüchter zu Hause umsehen.“

„Du meldest dich, wenn du was herausbekommen hast?“

„Aber sicher doch. Ich informiere die Auftraggeber grundsätzlich über die Ergebnisse meiner Arbeit.“ Blume mühte sich zu einem Grinsen. „Also dann, Maria, mach’s gut.“

Er saß im Büro vor seinem Schreibtisch, lehnte sich im Stuhl nach hinten und streckte die Beine aus. Das Gesicht zur Decke gerichtet, schloss er die Augen. Er spürte, wie die Spannung aus dem Körper wich, die Muskeln erschlafften. Ein Widerspruch zu den Fragen, die sich über den Tag aufgetürmt hatten und jetzt wie Sirup seine Gedanken verklebten. Jeder Versuch einer Antwort erstickte. In seinem Kopf von Entspannung keine Spur.

Gleich nachdem Blume im Ponytale Saloon angekommen war und sich bei Katja zurückgemeldet hatte, war er in seinem Büro verschwunden, hatte den Computer hochgefahren und ganz gezielt ein paar Fotos gesucht. Endlich zahlte es sich aus, dass er sein Recherchematerial nicht sofort nach Abschluss eines Auftrages vernichtete. Wie im Fall Sandra Kullmann. Das auffällige Muster auf dem Stofffetzen war ihm bekannt vorgekommen. Er hatte es schon einmal gesehen. Die ganze Fahrt zurück zum Saloon hatte er darüber nachgedacht. Dann hatte er den Toyota unter dem Carport abgestellt und war sich schon beim Aussteigen seiner Sache sicher gewesen: Sandra Kullmann hatte solche eine schreiend bunte Hose getragen. Vor Dreylings Penthouse-Wohnung, wo sie aus seinem Audi Q7 ausgestiegen war. Er hatte die Szene fotografiert. Nachdem ihm klar war, wonach er suchen musste, hatte es nicht lange gedauert, die Bilder wiederzufinden. Der Abgleich mit dem Foto auf seinem Smartphone hatte ihm Gewissheit gebracht. Die entscheidende Frage aber war geblieben: Was, zum Henker, hatte das alles zu bedeuten? Wie war dieses Stück Stoff da in den Wald geraten? Und wie lange schon hatte es dort gelegen, bevor Maria und ihr Chucky darüber gestolpert waren? Gehörte es wirklich zur Hose von Sandra Kullmann? Wenn, dann musste die Frau dort gewesen sein, nachdem er sie und ihren Liebhaber in der Hütte observiert hatte. An jenem Abend war sie in normalen Jeans herumgelaufen, bevor sie sich von ihrem Lover hatte ausziehen lassen. Und das Foto beim Aussteigen aus dem Audi hatte er tags zuvor geschossen. Da war die Hose unversehrt gewesen. Zumindest war auf dem Bild nichts Gegenteiliges zu erkennen. War sie nach Abschluss seiner Beschattung ein weiteres Mal mit Dreyling für eine heiße Nacht in den Wald gefahren? Wieder in die Hütte? Maria hatte gesagt, sie habe das Stück Stoff im Hochwald gefunden. Er musste sie fragen, wo genau. Und erst hinterher hatten die zwei dann ihre Reise in ein neues Leben angetreten? Aber jetzt wurde Dreyling per Vermisstenanzeige gesucht. Warum? Und nicht zu vergessen die gerissenen Schafe und die angebliche Bisswunde von diesem Daniel Kranz. Maria hatte da einen Zusammenhang hergestellt und angedeutet, das Stoffstück könne ebenfalls etwas damit zu tun haben. Und wenn er jetzt noch Dreylings Audi unter dem Carport dazunahm und das fehlende Motorrad ... Alles ein bisschen viel auf einmal. Verdammt ... verdammt!

Er sprang aus dem Bürostuhl hoch. Raus! Raus und eine rauchen. Ein wenig runterfahren, ehe es in seinem Schädel zum Crash kam. So ging das alles nicht! Er war nicht mehr der junge Mann von früher, der eine Vielzahl Informationen blitzschnell verarbeiten und die richtigen Schlüsse daraus ziehen konnte. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass mit zunehmendem Alter das Gehirn müde wurde und langsamer arbeitete. Er musste es gemächlicher angehen, aufpassen, dass er sich nicht überforderte. Immer schön einen Schritt nach dem anderen ... step by step.

Wenig später tigerte er über den regennassen Platz vor dem Büro, zog nervös an seiner Kippe. Dann, allmählich, verloren seine Schritte an Tempo, er atmete wieder gleichmäßig und ruhig. Der Sirup in seinem Kopf wurde durchlässig, besaß nicht länger diese zähe Konsistenz. Nachdem er sich eine zweite Zigarette angesteckt und sie zur Hälfte geraucht hatte, war er sich über den ersten Schritt, den er gehen musste, im Klaren. Alles andere würde sich zeigen.

„Hallo, Herr Blume!“

Er fuhr erschrocken zusammen, sah sich um. Draußen, an der Zufahrt zum Innenhof stand Clemens Ritter. Der Urlaubsgast aus dem Haus gegenüber. Den hatte er völlig vergessen. Wo kam der auf einmal her? Verfolgte er ihn etwa? Das Misstrauen, das er am Morgen mühsam beiseitegeschoben hatte, war sofort wieder da. Wie ein kleiner Teufel hockte es auf seiner Schulter und flüsterte ihm Warnungen ins Ohr.

„Hallo!“, entgegnete er knapp und hob die Hand zu einem kurzen Gruß. Schnell wandte er sich ab und beeilte sich, zurück in sein Büro zu kommen.

9. Kapitel

Blume begab sich auf den Weg, als die Sonne tief am westlichen Horizont stand. Die Regenfront war abgezogen, der Wetterbericht versprach eine sternenklare Nacht. Morgen sollte es wieder nass werden.

Er hatte nur kurz mit Katja sprechen können und sie über seinen Plan informiert. In einem Rucksack hatte er etwas Proviant dabei – man wusste nie, was einen erwartete, und die Stunden, irgendwo da draußen versteckt, konnten lang werden. Eine olivgrüne, wasserdichte Plane, unter der er in der Dunkelheit im Wald oder im freien Gelände nahezu mit seiner Umgebung verschmolz, lag ebenso im Kofferraum wie seine Kameraausrüstung mit den hoch lichtempfindlichen Teleobjektiven. Ehe er zu dem Schafbauern hinausfuhr und sich einen geeigneten Beobachtungsposten suchte, wollte er aber einen Abstecher zu seinem Ex-Kunden Martin Kullmann machen. Er musste etwas mit dem Mann klären. Ihm nur ein, zwei kurze Fragen stellen.

Kullmann empfing ihn, wie bei seinem letzten Besuch, auf dem Podest vor der Tür zu seiner Villa. Aus Blumes Perspektive, unten am Fuß der Stufen, die zu der Plattform hinaufführten, wirkte der Mann wie ein Landadliger, der den Blick auf seinen Besitztümern ruhen ließ. Jemand, der es gewohnt war zu herrschen und der über alle Niederungen des Lebens erhaben schien. Ein Eindruck, von dem sich Blume nicht täuschen ließ und der sich in dem Moment relativierte, als er die letzte Stufe erklommen hatte und dem Hausherrn auf Augenhöhe gegenüberstand.

„Guten Abend, Herr Blume. Was für eine Überraschung!“, begrüßte Kullmann ihn leutselig. „Was führt Sie zu mir? Ich dachte nicht, dass ich Sie so schnell wiedersehe, nachdem Sie Ihren Job erledigt hatten.“

„Da geht es Ihnen wie mir“, erwiderte Blume, „aber es gibt etwas, das ich geklärt haben möchte, ehe ich diesen Auftrag endgültig abschließen kann.“

„Ach, wirklich?“, entgegnete Kullmann erstaunt. „Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?“ Etwas Lauerndes lag in den Augen des Mannes, stellte Blume fest, mehr als nur höfliche Neugier. Der unerwartete Besuch passte ihm nicht. Er machte keine Anstalten, seinen Gast ins Haus zu bitten.

„Dr. Dreyling wird gesucht. Sie haben vermutlich schon von der Vermisstenanzeige gehört oder gelesen.“

Kullmann lächelte herablassend. „Ach das ... ja, ja, natürlich weiß ich davon. Man hat ja heutzutage kaum eine Möglichkeit, sich gegen die Nachrichtenflut zu wehren.“

„Und, was sagen Sie dazu? Hat es Sie nicht überrascht, dass ausgerechnet der Liebhaber Ihrer Frau vermisst gemeldet wurde?“

„Überrascht? Nein. Ich war eher amüsiert. Ein kleiner Feigling, dieser Seelenklempner. Einer, der sich klammheimlich aus dem Staub macht. Der sich nicht traut, seinen Angehörigen eine Nachricht zu hinterlassen. Sandra hatte wenigstens den Mumm, mir reinen Wein einzuschenken, wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht.“

„Dr. Dreyling ist Single. Er hat keine eigene Familie.“

„Ah ...“ Kullmann zog in gespielter Verwunderung die Augenbrauen hoch. „Wer vermisst ihn dann? Mama und Papa?“

„Zu seinen Eltern hat er kaum Kontakt. Die Anzeige wurde von seinen Kolleginnen aus der Praxis aufgegeben.“

„Seine Kolleginnen? Ach! Tja ... das ist aber auch zu dumm, wenn der Hahn im Korb plötzlich ausgeflogen ist ohne jedes Kikeriki.“ Kullmann kicherte amüsiert in sich hinein. Sekunden später wurde er wieder ernst. „Nur zu Ihrer Information, Herr Blume: Es ist mir herzlich egal, ob dieser Mann von irgendjemandem vermisst wird. Das werden Sie verstehen. Aber ich bin ein anständiger Bürger und helfe der Polizei, wenn ich kann.“

„Helfen? Womit?“

„Ich habe auf dem Revier angerufen und gemeldet, dass dieser Dreyling mit meiner Frau durchgebrannt ist. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich eine Suchaktion sparen können.“

„Warum das?“, wunderte sich Blume.

„Ich möchte, dass unsere Polizei Verbrecher jagt, anstatt meine Steuergelder zu verplempern. Was anderes wäre es nicht gewesen, wenn sie nach einem Mann gesucht hätten, der mit meiner Frau längst außer Landes ist, um mit ihr unter Palmen auf Dolce Vita zu machen.“

„Das ehrt Sie, dass Sie so freimütig zur Aufklärung beitragen“, entgegnete Blume etwas befremdet. „Es ist ja doch eher eine ... hm, eine intime Angelegenheit, wenn einen die Ehefrau betrügt. Peinlich, das anderen gegenüber einzugestehen.“

Kullmann starrte ihn mit kalten Augen an. „Wissen Sie, Herr Blume, ich bin nicht der Mann, der sich heulend wie ein geprügelter Hund hinter dem Ofen verkriecht. Ich sehe den Tatsachen nüchtern ins Auge. Wenn sich nichts daran ändern lässt, akzeptiere ich die Dinge, wie sie sind. Man kann nicht immer gewinnen. Manchmal verliert man eben. So läuft das Spiel. Meine Frau hat mich verlassen, ja. Sie hat mich betrogen, vielleicht auch lächerlich gemacht, ja. Aber das haut mich nicht um. Ich kann jedermann sagen, wie es ist. Ich muss niemandem Lügengeschichten auftischen.“

Blume hatte Kullmann zugehört und war dabei seinem Blick nicht ausgewichen. Große Worte aus dem Munde eines Mannes, den scheinbar nichts aus der Bahn bringen konnte. Und doch – seine Augen sprachen eine andere Sprache. In ihnen loderten Wut und Hass. Kullmann war tief verletzt und gedemütigt worden. Kullmann war es nicht gewohnt zu verlieren. Die Trennung selbst war dabei vermutlich gar nicht das Problem. Aber nicht er hatte den entscheidenden Schritt getan! Seine Frau hatte die Initiative ergriffen und ihn verlassen. Wenn überhaupt, dann hätte es nach seinem Verständnis anders herum sein müssen!

„Das ist mutig“, sagte er, fragte sich aber im selben Moment, welche Beweggründe Kullmann in Wahrheit gehabt haben mochte, die Polizei zu informieren. Er entschied, dem Mann vorerst nichts von dem Stück grell gemusterten Leinenstoff zu erzählen. Stattdessen fragte er: „Wie ist Ihre Frau eigentlich unterwegs?“

„Wie, unterwegs? Was meinen Sie?“

„Welches Verkehrsmittel. Hat sie den Bus genommen? Ein Taxi? Ihr Auto?“

„Ihr Auto natürlich! Was für eine Frage!“ Kullmann schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ihr Auto ist also nicht mehr da?“

„Nein! Warum wollen Sie das wissen? Spielt das eine Rolle?“

„Schon möglich“, antwortete Blume. „Es ist merkwürdig, dass die zwei in dem kleinen Roadster Ihrer Frau gefahren sein sollen, während der große SUV von Dr. Dreyling unter dessen Carport steht. Überlegen Sie mal, das ganze Gepäck, was sie vermutlich dabeihatten. Ihre Frau hat Sie doch sicher nicht ohne mindestens einen großen Koffer voll Kleidung verlassen.“

„Nein, hat sie nicht! Ihr Kleiderschrank ist leer.“ Kullmann wirkte verunsichert. „Vielleicht hat sie ihr Gepäck mit einem Kurierdienst vorausgeschickt. Zum Flughafen. Es gibt tausend Erklärungen. Verdammt, ich will es gar nicht so genau wissen!“

„Bei Dr. Dreyling in der Wohnung fehlt kein einziges Kleidungsstück“, fuhr Blume ungerührt fort. „Nichts deutet darauf hin, dass er eine längere Reise antreten oder sogar für immer verschwinden wollte. Komisch, finden Sie nicht?“

„Herrgott, was weiß denn ich, was im Kopf dieses Herrn vorgegangen ist, als er das zusammen mit Sandra geplant hat!“, platzte es aus Kullmann heraus. Er war jetzt doch nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. „Was interessiert Sie das überhaupt alles, Herr Blume? Und wieso kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?“

„Ich hatte gehofft, Sie könnten mir ein paar plausible Erklärungen liefern. Immerhin geht es um die Frau, die ich für Sie überwacht habe. Ihre Frau! Wie ich schon sagte, ich kann einen Auftrag erst abschließen, wenn ich Antworten auf alle offenen Fragen habe.“

 

Kullmann schnaubte genervt. „Es sind Ihre offenen Fragen, nicht meine! Für mich ist alles klar“, presste er hervor. „Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht die gewünschten Auskünfte geben konnte. War es das jetzt?“

„Ja, vielen Dank. Und entschuldigen Sie, wenn ich Sie gestört habe. Auf Wiedersehen.“

Kullmann ignorierte die hingehaltene Hand, nickte nur kurz. Damit wandte er sich ab und stapfte ins Haus. Blume ließ er stehen.

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