Harzhunde

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6. Kapitel

Katja hatte längst das Haus verlassen. Blume fand in ihrer Küche einen reich gedeckten Frühstückstisch vor. Wie so oft morgens. Im Gegensatz zu ihm war sie Frühaufsteherin, und heute kam hinzu, dass sie ein paar Lieferanten aufsuchen musste, um Verträge neu zu verhandeln. Das war eine der Aufgaben, die sie mit Widerwillen erledigte und sich deshalb möglichst schnell vom Hals schaffte. Waren die neuen Abschlüsse in trockenen Tüchern, konnte sie in aller Ruhe zurückfahren, rechtzeitig den Saloon öffnen und sich frei von anderem Ballast ihren Gästen widmen. Sie hasste es, unliebsame Arbeiten auf die lange Bank zu schieben und sich in Gedanken damit herumzuquälen.

Blume schlurfte schlafmützig zum Küchentisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er öffnete die Thermoskanne, die Katja ihm griffbereit neben die Tasse gestellt hatte. Der kräftige Duft des heißen Kaffees zog ihm in die Nase und weckte seine Lebensgeister. Er goss sich ein, trank die erste Tasse schwarz. Ohne Milch, ohne Zucker, ohne etwas dazu zu essen. Das brachte seinen Kreislauf in Schwung. Im Anschluss an den Wachmacher widmete er sich dann den Toastscheiben und den diversen Gaumenfreuden auf dem Tisch.

Kauend startete er kurz darauf sein Tablet. Vor einem halben Jahr hatte er sich den taschenbuchgroßen, flachen Touchscreen-PC angeschafft und schnell Gefallen daran gefunden. Das Gerät stand einem ausgewachsenen Computer in nichts nach – im Gegenteil, so ein Tablet ließ sich wesentlich flexibler einsetzen, leicht überall mit hinnehmen und war dazu recht bequem zu handhaben. Sein Smartphone mit der mickrigen Bildschirmtastatur trieb ihn dagegen regelmäßig in den Wahnsinn, wenn er es mit seinen breiten Fingern bediente.

Blume nutzte die Flexibilität des Tablets nur selten. Eigentlich eine Fehlinvestition. Die meiste Zeit stand es auf dem kleinen Schreibtisch oben in seinem Wohnzimmer. Dafür brachte er es oft morgens mit an den Frühstückstisch, um sich nebenbei einen schnellen Überblick über das allgemeine Nachrichtengeschehen zu verschaffen. Die Tageszeitung lag zwar weiterhin in der Küche bereit, blieb aber von ihm unberührt, seit er aus einer Laune heraus die digitale Ausgabe abonniert hatte. Katja war nicht sonderlich begeistert. Dieser „Beziehungskiller“, wie sie den kleinen PC abfällig nannte, habe dazu geführt, dass sie sich beim gemeinsamen Frühstück kaum noch miteinander unterhielten. Manchmal fragte Blume sich, ob da ein bisschen Eifersucht mitschwang, wenn sie sich aufregte. Dabei war nicht das Tablet schuld an ihrer spärlichen Kommunikation. Blume war ein Morgenmuffel, der die Zähne kaum auseinanderbekam, kurz nachdem er aufgestanden war. Und das wusste Katja. Vielleicht fehlte ihr der regelmäßige Streit um die Tageszeitung, in die jeder von ihnen als Erster einen Blick hatte werfen wollen.

Nachdem Blume die aktuellen Ereignisse aus aller Welt überflogen und unter gelegentlichem Kopfschütteln festgestellt hatte, dass die globale Zerstörungslust ungehindert neue Blüten trieb, wechselte er zu den regionalen Nachrichten. Eine Vermisstenanzeige zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er ließ die Kaffeetasse, die er zum Mund führte, wieder sinken und starrte auf das zur Anzeige gehörende Foto und den Namen: Dr. Karsten Dreyling, Psychotherapeut. Seit einer Woche vermisst! Der Mann, zu dem er noch vor Kurzem eine Handvoll Informationen gesammelt und den er zuletzt mit Sandra Kullmann in ihrem Liebesnest fotografiert hatte.

Dreyling wurde vermisst? Wieso? Und von wem? Seinen Recherchen zufolge war der Mann unverheiratet, seine Eltern lebten im Emsland, und der Kontakt zu seinem Bruder war eher sporadisch. Sandra Kullmann hatte ihren Gatten in ihre Liebesbeziehung und ihre Pläne eingeweiht. Der wusste, dass sie mit dem Geliebten das Weite gesucht hatte. Und Dreyling? War der etwa klammheimlich von der Bildfläche verschwunden? Hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne einem Menschen seine Absichten mitzuteilen oder wenigstens anzudeuten? Er gehörte einer Praxisgemeinschaft an. Jemand musste doch irgendetwas gewusst haben! Und von wem stammte die Vermisstenanzeige? Wer hatte sie aufgegeben? Die Polizei war es nicht. Das alles schien ausgesprochen merkwürdig.

Blume leerte seine Tasse und schenkte sich nach. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und zunächst in Dreylings Praxis nachzufragen. Sicher konnte man ihm dort Auskunft geben. Gut, es brauchte ihn nicht zu interessieren, was mit dem Therapeuten geschehen war. Aber diese Vermisstenanzeige stand in Zusammenhang mit seinem Überwachungsauftrag. Er hatte seine Arbeit getan, der Auftrag war erledigt, das Ergebnis war eindeutig gewesen. Ebenso eindeutig wie die Absicht der beiden Liebenden, sich aus ihrem alten Leben zu verabschieden. Kullmann hatte keinen Zweifel daran gelassen. Und jetzt diese Anzeige! Sie warf Fragen auf. Darauf wollte er Antworten haben. Auf eine komische Art fühlte er sich verantwortlich.

Er beendete sein Frühstück, räumte den Tisch ab und stellte das schmutzige Geschirr in den Spüler. Die erste Zigarette des Tages würde er sich draußen anstecken, auf der Bank vor der Haustür. Blume hatte es trotz einiger Versuche nicht geschafft, sich das Rauchen abzugewöhnen. Allein sein Zigarettenkonsum war etwas zurückgegangen, da Katja peinlich darauf achtete, dass das Rauchverbot eingehalten wurde, mit dem sie ihre Ferienhäuser belegt hatte. So blieben ihm nur wenige Nischen für seine Sucht. Dazu gehörte die Bank, auf der er sich bei entsprechendem Wetter die paar Minuten Ruhe gönnte, ehe er hinunter zum Saloon und in sein Büro ging.

In Gedanken an den vermissten Dr. Dreyling versunken, hockte Blume nach vorn gebeugt auf der Bank und starrte auf die Zigarette in seiner Hand, von deren glühender Spitze ein dünner Rauchfaden aufstieg. Die Person, die sich ihm näherte, bemerkte er nicht.

„Guten Morgen! Na, schon munter?“

Blume fuhr erschrocken hoch, blickte zur Seite. Neben ihm stand Clemens Ritter, der vermeintliche Feriengast, und strahlte ihn an.

„Herrliches Wetter heute, nicht wahr?“

„Hm ...“, knurrte Blume und musterte den Mann abweisend.

„Ah ... so eine kleine Wanderung durch den Harz am frühen Morgen ist doch das Schönste, was man sich vorstellen kann“, fuhr Clemens Ritter unbeirrt fort. „Diese Kühle, der Tau auf Gräsern und Blättern, der würzige Duft! Und wenn dann die Sonne über den Baumwipfeln aufgeht ... herrlich! Einfach nur schön! Darf ich?“ Ohne die Antwort abzuwarten, setzte sich der Mann zu ihm auf die Bank. „Mein Name ist Ritter. Clemens Ritter.“ Er streckte ihm seine Hand hin, doch Blume ignorierte sie. Stattdessen beugte er sich wieder nach unten, drückte die Kippe auf den Pflastersteinen aus und warf den Stummel in den kleinen Aschebehälter neben der Bank.

„Und Sie? Wie ist Ihr Name?“, fragte Ritter unbeeindruckt.

„Stefan Blume“, presste er hervor.

„Auch Feriengast?“

„Nein. Ich mache keine Ferien. Ich bin hier zu Hause. Habe oben eine Mietwohnung.“ Er deutete mit dem Daumen zum Dachgeschoss über sich. Was sollte das Gerede? Der Mann hatte doch garantiert schon das Klingelbrett mit seinem Namen darauf entdeckt.

„Ah, ja? Dann arbeiten Sie wohl in der Gegend. Rentner sind sie nicht, wenn ich Sie so ansehe. Oder doch?“

Blume drehte sich vollends zu Clemens Ritter hin, sah ihm direkt ins Gesicht, versuchte, in dessen Augen zu lesen, die Neugier zu deuten. Was wollte der Mann von ihm? War seine Fragerei nur das belanglose Quatschen eines gelangweilten Urlaubers?

„Nein, Herr ... Ritter. Rentner bin ich nicht. Da haben Sie recht. Ich arbeite unten im Saloon. Im Büro. Mache die Buchhaltung für Frau Ortlepp.“

Ritter zog die Augenbrauen hoch. „Oh, Sie sind Buchhalter. Abwechslungsreiche Arbeit, kann ich mir vorstellen.“

Abwechslungsreich? Wollte der Mann ihn verscheißern? Was Langweiligeres gab es nicht! Und das wusste dieser Clemens Ritter garantiert!

„Bankkaufmann.“

„Was?“

„Ich bin gelernter Bankkaufmann“, wiederholte Blume. „Kein Buchhalter.“

„Ah, verstehe.“

„Und Sie? Was machen Sie beruflich?“ Blume ahnte, dass er den Mann nicht so schnell loswerden würde. Da konnte er ebenfalls ein wenig nachbohren.

„Augenoptiker. In Duisburg. Wenn Sie mal eine Brille haben müssen ...“ Er lachte auf.

„... dann wende ich mich an Sie, na klar“, vollendete Blume den Satz und fuhr fort: „Sie sind allein hier? Was ist mit Ihrer Familie? Brauchten Sie von der auch mal Urlaub?“ Ein Schuss ins Blaue.

„Ich bin verwitwet“, entgegnete Ritter. „Meine Frau ist vor zwei Jahren verstorben. Leukämie. Und mein Sohn ist erwachsen. Hat seine eigene Familie.“

„Oh, das tut mir leid“, antwortete Blume. „Das mit Ihrer Frau, meine ich.“

Ritter nickte. Stieß einen tiefen Seufzer aus. Etwas zu theatralisch, fand Blume. Er traute dem Mann nicht. Stimmte es, was er ihm erzählte? Oder war es nur eine gut gestrickte Legende?

Mein Gott, hör auf mit deinem verdammten Misstrauen!, wies er sich innerlich zurecht. Es waren Katjas Worte und ihre Stimme in seinem Kopf. Was ist denn so verdächtig an dem, was er dir erzählt? Blume hätte es nicht sagen können. Nur ein Gefühl.

„Manchmal meint es das Schicksal nicht gut mit einem“, nahm Clemens Ritter nach einer kleinen Pause das Gespräch wieder auf und betrachtete dabei Blumes Gesicht. „Sie scheinen auch schon einiges hinter sich zu haben“, stellte er fest.

„Was meinen Sie?“, fragte Blume und fuhr sich dabei unbewusst mit den Fingern durch den grauen Vollbart.

„Ihr ... na ja, Ihre Mimik wirkt so ... starr. Das ist doch sicher kein Geburtsfehler.“ Als er merkte, dass Blume tief einatmete, entschuldigte er sich hastig. „Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“

 

„Nein, nein, schon gut“, wehrte Blume ab. „Ich hatte einen schweren Unfall“, log er. „Es war auf einer Urlaubsreise. Tja, der Verkehr und die Sicherheit im Ausland ... Mein Gesicht war ein einziger zerfetzter Klumpen aus Fleisch und Knochen. Ein Wunder, dass die mich damals überhaupt wieder so hinbekommen haben.“

Ritter nickte. „Ja, was die Gesichtschirurgie leistet, ist schon erstaunlich. Wer so etwas durchmacht wie Sie, wird kaum verstehen, dass sich Menschen ohne Not kosmetischen Operationen unterziehen, oder? Sollte doch jeder froh sein, wenn er mit heiler Haut durchs Leben kommt, was denken Sie?“

Blume zuckte innerlich zusammen. Hatte er da eben etwas zwischen den Zeilen gehört? Waren die Fragen des Mannes eine Falle? Er musste auf der Hut sein. Seine eigenen Worte mit Bedacht wählen. „Da kann ich Ihnen nicht widersprechen“, entgegnete er lapidar und versuchte ein Grinsen, was ihm vermutlich misslang. Wie immer. Er stand von der Bank auf. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Ritter, aber es wird Zeit, dass ich ins Büro komme. Bevor meine Chefin mich vermisst.“

Ritter erhob sich ebenfalls. „Aber ich bitte Sie!“, sagte er. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie von der Arbeit abgehalten habe. Das war nicht meine Absicht. Trotzdem, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern. Also dann, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Wieder reichte er Blume die Hand. Dieses Mal griff er zu, schüttelte sie.

Clemens Ritter drehte sich um und steuerte ohne einen Blick zurück mit energischen Schritten auf das Haus gegenüber zu. Blume sah ihm einen Moment hinterher. Dann wandte er sich ab und ging hinunter zum Saloon.

Was bist du bloß für ein neurotischer Idiot, beschimpfte er sich stumm und forcierte wütend sein Tempo. Katja hatte recht – wenn er nicht aufpasste, rutschte er wieder in seine alten Muster. Das wäre der Anfang vom Ende seines neuen, friedlichen Lebens. Dieser Clemens Ritter war ein normaler Urlaubsgast. Jemand, der Kontakt suchte, Ablenkung, um nicht andauernd an seine tote Frau denken zu müssen. Ein einsamer Mensch, dem etwas Zerstreuung guttat. Nichts an Ritters Verhalten war verdächtig. Gar nichts! Es gab keinen Grund, ihm mit Misstrauen zu begegnen.

7. Kapitel

Gegen elf Uhr trat Blume durch die Eingangstür des Stadthauses in der Bochumer Straße in Nordhausen. Das mehrgeschossige, westlich der nahen Innenstadt gelegene Eckgebäude gehörte zu den Ensembles, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut worden waren. Auf das Ende der DDR und die Wiedervereinigung war eine Renovierungswelle gefolgt, der die Stadt und das Haus, in das Blume hineingegangen war, ihr heutiges schmuckes Gesicht verdankten.

Die Psychotherapeutische Gemeinschaftspraxis Drey­ling, Thunert und Bach dehnte sich fast über das gesamte zweite Obergeschoss aus, direkt unter dem Dach mit seinen knapp einem Dutzend Gauben. Trotz des Fahrstuhls, der einen behindertengerechten Zugang zu den Etagen ermöglichte, entschloss sich Blume, die Treppe zu nehmen. Oben angekommen, stand er nach ein paar Metern über den Flur vor der verschlossenen Praxistür. Erst auf sein Läuten hin wurde ihm von einer etwa fünfzigjährigen eleganten Dame geöffnet.

Der Raum, in den er eintrat, war groß und hell. Blume hätte ihn für ein Wohnzimmer gehalten, wäre nicht der Empfangstresen in der Mitte gewesen. Weicher Teppichboden dämpfte die Schritte, große Kunstdrucke an den Wänden zogen seinen Blick auf sich, und verschiedene hohe, über das Zimmer verteilt stehende Grünpflanzen erzeugten ein angenehmes Raumklima. Viele weitere dekorative Wohnaccessoires vermittelten eine Wohlfühlatmosphäre, die konventionellen Arztpraxen fehlte. Von den vier Türen, die links und rechts in die Wände eingelassen waren, schien keine in ein abgeschlossenes Wartezimmer zu führen. Es gab nur eine Nische, die, abgetrennt durch einen kleinen Raumteiler, als Wartebereich diente. Mehr schien nicht nötig zu sein. In einem der drei Sessel, die dort standen, blätterte ein junger Mann in einer Illustrierten.

Blume folgte der eleganten Dame zum Tresen in der Mitte des Raumes. Am Fenster dahinter saß eine Frau vor einem Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen. Sie wandte ihr Gesicht vom Bildschirm ab, schaute kurz zu Blume hin und lächelte ihm zu – eine hübsche Erscheinung, schlank, die glatten, brünetten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war jung, um die zwanzig Jahre jünger als ihre Kollegin, schätzte er. Und sie wirkte wesentlich freundlicher auf ihn.

„Bitte schön, was kann ich für Sie tun?“, fragte ihn die elegante Dame. Ihre ersten Worte seit der knappen Begrüßung an der Tür. Sie sah ihn über den Tresen hinweg auffordernd an.

„Ich hätte gern Dr. Dreyling gesprochen“, bat Blume sie.

„In welcher Angelegenheit? Haben Sie einen Termin?“

„Nein, ich bin ein Freund von Herrn Dreyling. Wir hatten uns hier in Nordhausen verabredet. Vor einer Stunde wollten wir uns treffen. Er ist nicht gekommen. Da dachte ich ...“

„Ihr Name?“ Die elegante Dame betrachtete ihn mit unverhohlenem Misstrauen.

„Parschau. Richard Parschau.“ Den falschen Namen hatte er sich auf dem kurzen Weg von der Tür zum Tresen einfallen lassen. Eine instinktive Entscheidung. Seinen Ausweis wollte die Frau jetzt hoffentlich nicht sehen.

„Dr. Dreyling ist heute leider nicht im Haus. Bedaure.“

„Dann stimmt es, was ich gelesen habe? Er wird vermisst? Seit wann denn? Was ist passiert?“

Die Reaktion der Dame war ausgesprochen kühl. „Tut mir leid, dazu werde ich Ihnen keine Auskunft geben“, antwortete sie schroff.

„Hören Sie, Frau ...“, er entdeckte das kleine Schild auf dem Tresen, „... Frau Gundlach, ich bin sein Freund! Sie werden mir doch wohl sagen können, was los ist!“ Er verlieh seiner Stimme einen empörten Klang. „Er ist sonst immer pünktlich. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber er ist nicht an sein Telefon gegangen. Und dann diese Anzeige ... Ich mache mir Sorgen, verstehen Sie das?“

Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich die junge Frau von ihrem Computer erhob und sich um den Tresen herum wand. Sie huschte dicht hinter ihm entlang, gab ihm im Vorbeigehen einen leichten Stoß. Irritiert drehte er sich zu ihr um.

„Sie haben da was verloren“, murmelte sie, deutete mit ihrem Blick nach unten und ging weiter.

Blume sah zu Boden. Neben seinen Füßen lag ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Der gehörte ihm nicht. Trotzdem hob er ihn auf, faltete ihn auseinander und überflog den Text darauf. Dann steckte er das Stück Papier schnell in seine Hosentasche. Die junge Frau war hinter einer der Türen verschwunden.

Blume wandte sich wieder der Dame namens Gundlach zu, die mit einem Räuspern seine Aufmerksamkeit einforderte.

„Wenn Sie sich Sorgen um Ihren Freund machen, müssen Sie sich an die Polizei wenden“, erklärte sie ihm energisch.

„Aber er wird doch nicht einfach so verschwunden sein! Hat er denn nichts gesagt? Kein Wort?“

„Noch einmal, ich werde Ihnen keine Auskunft geben“, wiederholte Frau Gundlach mit versteinertem Gesicht. „Falls Sie keine weiteren Fragen haben ...“

Blume begriff, dass er bei ihr auf Granit biss. Er nahm es gelassen. Vor wenigen Augenblicken hatte sich ihm eine andere Informationsquelle aufgetan – wenn er den Text auf dem Zettel richtig deutete. „Nein, vielen Dank“, sagte er und wandte sich dem Ausgang zu. Nach ein paar Schritten hielt er inne, drehte sich wieder um. „Doch, eine letzte Frage habe ich: Frau Sandra Kullmann? Sie ist Karstens Patientin, richtig?“

Die Augen der Dame am Tresen weiteten sich vor Überraschung. Oder vor Schreck. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann hatte sie sich unter Kontrolle und war so abweisend wie zuvor. „Auf Wiedersehen“, zischte sie und legte eine Hand auf den Hörer des Telefons neben sich. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie jemanden herbeirufen würde, der Blume ohne viele Worte aus der Praxis warf, sollte er nicht endlich den Rückzug antreten.

Sekunden später schloss er die Praxistür hinter sich. Wieder unten auf dem Bürgersteig, zog er das Stück Papier aus der Tasche, das die junge Praxisangestellte hatte auf den Boden fallen lassen. „Der Burgermeister, links die Straße runter. Zwei Minuten zu Fuß, Treffen um halb eins“, las er noch einmal. Ein paar schnell hingekritzelte Worte, aber mit eindeutiger Botschaft: Die Frau wollte ihn sprechen. Er brauchte seine Fantasie nicht zu bemühen, um zu wissen, worüber.

Blume folgte den Anweisungen auf dem Zettel und ging ohne Eile in die beschriebene Richtung. Nicht lange, dann tauchte links vor ihm ein kleines tristes Gebäude mit grauen Dachplatten auf. Von hinten wirkte es eher wie das Bauwerk eines Energieunternehmens, ein Transformatorhaus oder etwas in der Art. Genauso hätte es eine öffentliche Toilette sein können. Nur das Schild an der Rückwand des Gebäudes wies auf die wahre Nutzung hin. In dicken Lettern stand dort der Name des Imbisses. Blume war fast an dem Haus vorbei. Jetzt erkannte er den überdachten Eingangsbereich mit der Glastür und dem großen Schaufenster daneben. „Der Burgermeister“, las er auch hier. Der Schriftzug stand auf dem weißen Giebeldreieck direkt unter dem Dach. Kein einladend wirkender Ort, zu dem ihn die junge Frau bestellt hatte. Er sah auf seine Armbanduhr. Etwa eine Stunde blieb ihm, bis sie eintraf. Unschlüssig schaute er sich um. Es gab nichts in unmittelbarer Nähe, das einen kurzen Besuch gelohnt hätte. Daher steuerte er auf die Tür des Imbisses zu und trat ein. Er fand einen freien Tisch direkt am Schaufenster. Einige Augenblicke beobachtete er das Paar am Nachbartisch. Ordentliche Portionen, die da auf ihren Tellern lagen. Die Hamburger sahen appetitlich aus, hielten aber auf den ersten Blick keinem Vergleich mit den Burgern stand, die Katja in ihrem Saloon servierte. Egal, es war Mittagszeit, er hatte Hunger, und etwas Besseres würde er in der Zeit bis zu seinem Rendezvous nicht finden. Die Bedienung trat an seinen Tisch, er bestellte einen Großburger mit Pommes frites und Cola.

Die Praxisangestellte war pünktlich. Ohne sich lange umzusehen, kam sie auf seinen Tisch zu und setzte sich ihm gegenüber. Ihr Gesicht war gerötet, was sicher nicht daran lag, dass sie sich auf dem Weg hierher übermäßig angestrengt hatte. Vielmehr schien sie vor Aufregung und Mitteilungsdrang zu platzen!

„Sie wollen wissen, was mit Karsten ... Dr. Dreyling passiert ist?“, kam sie sofort zur Sache.

„Ja. Das würde ich tatsächlich gern“, antwortete Blume. „Ihre Kollegin war nicht sehr auskunftsfreudig.“

„Hach! Unser Praxisdrachen! Wenn die wüsste, dass ich mich hier mit Ihnen treffe, hätte ich heute noch meine Kündigung auf dem Tisch.“

„Ist sie so schlimm?“

„Sie ist schrecklich! Und Sie? Sie sind doch nicht der Freund von Karsten ... von Dr. Dreyling. Sie sind von der Presse, oder?“

„Wieso glauben Sie, dass ich nicht sein Freund bin?“

„Ich ... na ja, dann hätte er mit mir, also mit uns, ganz sicher mal über Sie gesprochen. Einen Richard Parschau hat er aber nie erwähnt.“

„Hätte er das? Ihnen von mir erzählt? Sie haben ein derart persönliches Verhältnis in Ihrer Praxis?“

„Nein, das nicht. Aber man unterhält sich ja ab und zu mal über Privates“, versuchte sie, zu erklären. „Also ... was ist jetzt? Sind Sie von der Presse oder nicht?“

Blume zuckte mit der Schulter. „Na ja, ich bin zumindest genauso neugierig.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Und Sie? Sie haben mir noch nicht mal Ihren Namen gesagt.“

„Oh, ’tschuldigung. Ich heiße Mareike Jahn.“

„Schön, Frau Jahn. Dann erzählen Sie mal. Was wollten Sie loswerden? Es geht um Dr. Dreyling und diese Vermisstenanzeige, stimmt’s?“

Sie nickte eifrig. „Die Anzeige haben Frau Thunert und Frau Bach aufgegeben. Das sind die beiden Psychologinnen, mit denen Karsten ... Herr Dreyling die Praxis führt. Es ist ja seine Praxis, und Frau Thunert und Frau Bach sind bei ihm angestellt. Aber das ist jetzt egal.“

„Es war kein Angehöriger?“, vergewisserte sich Blume.

„Nein. Er hat ja keine Verwandten. Jedenfalls keine, mit denen er ständig Kontakt hat.“

„Eigene Familie? Frau und Kinder?“ Blume hätte nicht fragen müssen. Er kannte Dreylings familiäre Situation. Er wollte es dennoch von der Angestellten hören. Vielleicht gab es etwas, das er im Zuge seiner Recherche übersehen hatte.

„Nein, hat er nicht. Nur seine Eltern und einen Bruder. Aber die leben nicht hier, und er hört kaum von ihnen. Jedenfalls, als er vor einer Woche nicht in der Praxis erschienen ist, haben wir uns schon sehr gewundert. Er ist weggeblieben, einfach so. Hat sich nicht gemeldet und uns gesagt, was los ist. Er hätte ja krank sein können oder durch etwas anderes verhindert. So ein Verhalten kennen wir gar nicht von ihm. Wir haben dann bei ihm angerufen. Ohne Erfolg. Zwei Tage später gab es noch immer kein Lebenszeichen. Da bin ich zu ihm nach Hause gefahren, um nachzusehen. Er hat ja in seinem Behandlungszimmer einen Ersatzschlüssel für die Wohnung liegen.“

 

„Ersatzschlüssel?“, wunderte sich Blume. „Wieso das?“

Mareike Jahn lächelte verlegen. „Ach, wissen Sie, Karsten ... Herr Dreyling ...“

„Bleiben Sie ruhig bei Karsten“, unterbrach Blume sie. „Dann müssen Sie sich nicht ständig korrigieren.“

„Ja. Also, Karsten ist manchmal etwas schusselig. Verlegt gern mal seine Sachen. Außerdem hat er ... er ist ...“ Sie druckste herum. Die richtigen Worte kamen ihr nicht so leicht über die Lippen. „Na ja, Karsten hat es nicht so mit der Treue. Er hatte eben öfter mal eine neue Partnerin, die dann meist einen Haustürschlüssel von ihm bekommen hat. Er war da immer ziemlich schnell bei der Sache, auch wenn es nur etwas mehr als ein One-Night-Stand war. Wenn er die Beziehungen wieder beendet hatte, war manchmal nicht nur die Frau, sondern auch der Schlüssel weg. In Liebesdingen war Karsten echt chaotisch, das kann ich Ihnen sagen! Und bevor er dann vor seiner Wohnungstür stand und nicht reinkam ...“

„Verstehe. Und das hat sich geändert?“

„Hm ... er ist zuletzt etwas ruhiger geworden, denke ich.“

„Ich nehme an, Sie sprechen aus eigener Erfahrung“, setzte Blume einen gezielten Stich. „Sie waren mit ihm liiert, habe ich recht? Deshalb nennen Sie ihn beim Vornamen. Es ist nicht so, dass Sie in der Praxis einen lockeren Umgangston pflegen.“

Mareike Jahn lief rot an. Volltreffer, stellte er genüsslich fest.

„Ja, ich war mit Karsten zusammen“, stammelte sie, um sofort zu versichern: „Aber das ist eine ganze Weile her! Ich bin längst drüber weg. Glauben Sie bloß nicht, dass ich eifersüchtig bin und nur hier sitze, um ihn schlechtzumachen.“

„Keine Bange, das glaube ich nicht“, beruhigte Blume sie. „Was ist mit dem Schlüssel zu seiner Wohnung? Haben Sie Ihr Exemplar etwa noch?“

„Nein! Den hat er zurückbekommen! Ich habe den Ersatzschlüssel aus seinem Behandlungszimmer genommen. Das wissen alle in der Praxis.“

„Und? Ist Ihnen bei Dr. Dreyling zu Hause etwas aufgefallen? War etwas merkwürdig? Anders als sonst? Ich nehme an, Sie kennen seine Wohnverhältnisse aus Ihrer gemeinsamen Zeit.“

Sie überlegte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Alles war wie immer bei ihm, wenn er die Wohnung morgens verlässt. Aufgeräumt. Sauber. In der Küche, ja, da lag das dreckige Besteck vom Frühstück herum. Seine Tasse, der Teller und die Müslischale. Völlig normal. Eigentlich. Er räumt jeden Abend vor dem Schlafengehen alles, was er tagsüber benutzt hat, in den Spüler und stellt ihn an. Nimmt es morgens wieder raus. Aber als ich in der Wohnung war, lag das Geschirr da schon länger. Nicht erst einen Tag. Die Essensreste am Teller und in der Schale waren angetrocknet.“

„Und im Bad? Sein Rasierzeug, Zahnbürste, Deo, Shampoo, alles da?“, hakte Blume nach. „In seinem Kleiderschrank, fehlte da was?“

„So genau habe ich nicht hingesehen, aber ...“ Sie spielte ein paar Sekunden mit ihren Haaren, wickelte eine Strähne um ihren Finger, überlegte. „Ich glaube, da fehlte nichts.“

„Es sah also nicht so aus, dass er verreist war.“

Mareike Jahn lachte auf. „Nein! Ganz bestimmt nicht! Sein Auto stand ja noch unter dem Carport. Nur sein Motorrad war weg. Wenn er hätte verreisen wollen, hätte er das Auto genommen. Das Bike, das ist mehr so ein Angeberding. Der leidenschaftliche Motorradfahrer ist er nicht.“

„Und nachdem Sie aus seiner Wohnung zurück waren, haben Ihre Chefinnen die Polizei informiert?“

„Ja. Wir wussten uns keinen anderen Rat. Das Ganze sah ihm so gar nicht ähnlich.“

„Und warum sitzen Sie dann jetzt hier und erzählen mir das alles? Wenn sich schon die Polizei darum kümmert?“

„Pah! Was tun die denn? Die halten schön die Füße still. Warten erst mal ab. Hoffen vermutlich, dass irgendjemand Karsten sieht und sich bei ihnen meldet. Oder dass er von allein wieder auftaucht.“

„Der Polizei ist bekannt, dass er mit dem Motorrad unterwegs ist?“

„Ja ... doch. Die Chefinnen haben es denen gesagt, glaube ich.“

„Und ich? Was erwarten Sie von mir?“

„Na ja ...“, setzte sie an und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, „mir ist egal, ob Sie Pressemann sind oder nicht. Aber neugierig, das sind Sie auf jeden Fall. Haben Sie selbst gesagt. Und Sie sind von sich aus in die Praxis gekommen. Mit Ihrem Märchen von wegen Freund und so. Sie suchen Karsten und wollen wissen, was los ist. Sie hätten genauso zur Polizei gehen können. Haben Sie aber nicht getan. Keine Ahnung, was Sie für Gründe haben, ihn zu suchen. Wollen Sie ihm was Böses?“ Sie betrachtete ihn einen Augenblick, schüttelte dann den Kopf. „Ach was, ich denke nicht. Ich mache mir jedenfalls Sorgen um Karsten. Sie ja vielleicht auch. Wenn ich Ihnen mit meinen Informationen geholfen habe, ihn zu finden, nutzt das uns beiden.“

Blume starrte nachdenklich vor sich hin. Sorgte sich Mareike Jahn um ihren Chef und Ex-Liebhaber so sehr, dass sie lieber einen Fremden um Hilfe bat, anstatt der Polizei zu vertrauen? Nein, so groß war ihre Not nicht! Er vermutete, dass sie sich nur mit ihm getroffen hatte, um sich wichtig zu machen. Um nicht im Schatten des Praxisdrachens zu verkümmern. Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, die sich ihr mit seinem Auftauchen in der Praxis geboten hatte. Spätestens jetzt war er froh, sich mit falschem Namen vorgestellt zu haben. Diese Mareike Jahn suchte Aufmerksamkeit. Und sie war geschwätzig – zu geschwätzig. Sie würde nicht zögern, jemandem von ihrem Gespräch mit ihm zu erzählen, sobald sich die Gelegenheit bot. Da war es besser, es gab keine verwertbare Spur, die zu ihm führte.

Er blickte auf, sah ihr direkt in die Augen. „Wissen Sie, dass Dr. Dreyling eine Beziehung mit Sandra Kullmann hat?“, fragte er.

Sie winkte ab. „Aber sicher! Das ist kein Geheimnis. Alle in der Praxis wissen das. Geht ja schon eine Weile. Es gab deswegen schon richtig Stress zwischen ihm und seinen beiden Kolleginnen. Von wegen Beziehung mit ’ner Patientin und so. Fand ich voll daneben. Bei all seinen anderen Abenteuern haben sie auch nie was gesagt.“

Sie tat so cool, so abgeklärt. Ein bisschen zu dick aufgetragen, fand Blume.

„Und was, wenn ich Ihnen außerdem sage, dass Dr. Dreyling mit Sandra Kullmann gemeinsam untergetaucht ist, weil er mit ihr ein neues Leben beginnen will? Weit weg, wo niemand die beiden findet?“

Mareike Jahn lachte auf. „Karsten? Mit einer seiner Tussen durchbrennen? Gemeinsames Leben? Das ist doch ein Witz! Das würde er nie tun. Für eine Frau sein Leben hier aufgeben. Er hängt an seiner Praxis und dem allen!“ Sie schüttelte vehement den Kopf.

„Dem allen? Was ist das?“, fragte Blume. Sie meinte wohl in erster Linie sich selbst, vermutete er.

„Na, die Stadt, die Kultur, seine Bekannten ... Darauf würde er nicht verzichten. Nie!“ Das behauptete sie im Brustton der Überzeugung. „Sie sind tatsächlich kein Freund von Karsten. Sie kennen ihn nicht ein bisschen! Sonst würden Sie das nicht mal im Traum für möglich halten. Wie kommen Sie überhaupt auf so eine ... eine bescheuerte Idee? Neues Leben beginnen?“

„Frau Kullmann hat es ihrem Mann gebeichtet. Der ist genau im Bilde, warum sie ihn verlassen hat.“

Mareike Jahn starrte ihn an. Mit offenem Mund. Fassungslos. Suchte nach Worten. „Das ... das ist nicht Ihr Ernst“, stammelte sie. „Karsten haut nicht einfach mit der ab. Er hätte mir ... uns das nie angetan. Das ... das kann er nicht machen.“ Sie stand von ihrem Stuhl auf. Ihre Bewegungen wirkten fahrig. Der Schreck war ihr in die Knochen gefahren. „Ich gehe dann mal wieder“, sagte sie tonlos.