Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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Moralische Neuordnungen

Die Segnungen, die die Theologie der Vernunft mit sich brachte, waren nicht nur auf die Wissenschaften beschränkt. Von Beginn an zeigte sich das Christentum ebenso erfinderisch in seinen Entwürfen der menschlichen Natur und in Fragen der Moral. An erster Stelle standen Entwürfe grundlegender Menschenrechte, etwa der Freiheit. Im Hintergrund solcher Ideen und Vorschläge gab es aber etwas noch Fundamentaleres: die »Entdeckung« des Individualismus, letztlich des menschlichen Selbst.

Die Aussage, dass der Individualismus überhaupt erst entdeckt werden musste, erscheint dem modernen Geist absurd, und in gewissem Maß ist sie das auch. Alle normalen Menschen sehen sich als Einzelwesen mit einem je singulären Blick auf die Welt und einem völlig singulären Nervensystem. Dennoch betonen manche Kulturen die persönliche Eigenständigkeit, während andere die Kollektivität hervorheben und das Gespür für das Ich unterdrücken. Im zweiten Fall, der sich weltgeschichtlich weitaus häufiger findet, ist die Wahrnehmung des eigenen »Seins« vielmehr ins Kollektive verlagert: jedes individuelle Recht, das jemand besitzt, wird nicht ihm selbst gewährt, sondern seiner Gruppe. Gleichzeitig ist sie es, die ihm Rechte überträgt und gewährt. Unter diesen Bedingungen glaubt niemand daran, dass er allein »der Meister seines Schicksals« sei. Vielmehr drängt sich ihm der Fatalismus-Gedanke auf: denn das eigene Schicksal scheint nicht der eigenen Kontrolle zu unterliegen, sondern voll und ganz von äußeren Kräften bestimmt zu sein.

Selbst die griechischen Philosophen besaßen noch kein Konzept, das unserer Vorstellung einer »Person« entsprochen hätte.61 So lag Platons Augenmerk, als er den Staat schrieb, auf der Polis, der Stadt, und nicht auf ihren Bürgern – er stellte sogar den Privatbesitz in Abrede. Im Gegensatz dazu legte das christliche politische Denken stets den Schwerpunkt auf den individuellen Bürger, und dieser Umstand prägte ganz entschieden die Ansichten späterer europäischer politischer Philosophen wie Hobbes und Locke. Hieran lag etwas ganz entschieden Revolutionäres, da die christliche Betonung des Individualismus letztlich eine »kulturelle Exzentrizität« darstellte.62 Auch das Konzept der Freiheit gibt es in vielen, vielleicht sogar den meisten Kulturen überhaupt nicht. Sehr viele nicht-europäische Sprachen besitzen für Freiheit nicht einmal ein Wort.63

Es ist daher kein Wunder, dass die avancierteren dieser Kulturen allesamt die Sklaverei begrüßten und despotische Staaten hervorbrachten, in denen ein Begriff wie »individuelle Menschenrechte« gar nicht hätte verstanden werden können. So lange das der Fall war, fehlte auch die für den Aufstieg des Kapitalismus notwendige Freiheit. Um diese Heraufkunft überhaupt nachvollziehen zu können, muss man zunächst verstehen, wie und wann die Europäer Begriffe wie Individualismus, Freiheit und Menschenrechte entwickelt haben.

Der Aufschwung des Individualismus

Man vergleiche die Dramen Shakespeares mit denen der alten Griechen. Colin Morris wies darauf hin, dass Ödipus sein trauriges Ende gar nicht kraft seiner Taten verdient hatte. Sein »persönlicher Charakter … spielt in seinem Unglück überhaupt keine Rolle, dieses wird ihm von einem Schicksal verordnet, das von seinen Begierden ganz unabhängig ist«.64 Nicht, dass Ödipus keine Fehler gehabt hätte, doch ging mit seinem Vergehen keinerlei Schuldbewusstsein einher; er fiel einfach seiner Bestimmung zum Opfer. Im Gegensatz dazu waren Othello, Brutus oder das Ehepaar Macbeth alles andere als Gefangene eines blinden Schicksals. Wie Cassius es gegenüber Brutus ausdrückt: »Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in den Sternen, sondern in uns selbst.«65

Es ist viel geschrieben worden über die Ursprünge des Individualismus.66 All diese Bücher und Artikel sind sicher sehr gelehrt und mitunter sogar übertrieben fachkundig. Doch haftet ihnen auch etwas seltsam Vages und Ausweichendes an, womöglich, weil sie sich scheuen ihre eigene Grundthese offen auszusprechen: dass nämlich die westliche Vorliebe für den Individualismus durch das Christentum herbeigeführt wurde.

Seit Anbeginn lehrt das Christentum, dass die Sünde eine persönliche Angelegenheit sei, dass sie also nicht vorrangig in einer Gruppe zu finden sein könne, sondern jedes Individuum sich um sein persönliches Seelenheil selbst zu kümmern habe. Vielleicht ist für die christliche Hervorhebung des Individualismus nichts so wichtig wie die Doktrin des freien Willens. Wenn der Fehler, wie Shakespeare schrieb, »in uns selbst liegt«, dann nur deshalb, weil wir überhaupt eine Wahl haben und es uns obliegt, sie richtig zu treffen. Anders als bei den Griechen und Römern, deren Götter bemerkenswert wenige Werte kannten und die sich kaum um menschliches Fehlverhalten scherten (es sei denn, man hatte die Götter nicht gebührend gnädig gestimmt), ist der christliche Gott ein Richter, der die »Tugend« belohnt und die »Sünde« bestraft. Dieses Konzept ist mit dem Fatalismus nicht vereinbar. Etwas anderes zu behaupten, liefe darauf hinaus, für die eigenen Sünden Gott verantwortlich zu machen. Es hieße, dass Gott die Sünden nicht nur bestraft, sondern sie auch selbst ins Werk setzt. Eine solche Idee liefe der gesamten christlichen Vorstellungswelt zuwider. Die Ermahnung »Geh hin und sündige nicht mehr« würde ins Leere laufen, wären wir bloße Gefangene unseres Schicksals. Ganz im Gegenteil beruht das Christentum auf der grundlegenden Doktrin, dass den Menschen die Möglichkeit und damit auch die Verantwortung mitgegeben ist, über ihre Handlungen selbst zu entscheiden. Wieder und wieder hat Augustinus betont, dass wir »einen Willen besitzen« und dass »daraus folgt, dass, wer immer auch rechtschaffen zu leben wünscht, dies auch erreichen kann«.67 Dies widerspricht auch gar nicht der Lehre, dass Gott bereits im Voraus weiß, welche Wahl wir treffen werden. In Widerrede zu den griechischen Philosophen beteuerte Augustinus, »dass einerseits Gott alles weiß, bevor es geschieht, und dass andrerseits wir all das mit freiem Willen tun, was immer wir nach dem Zeugnis unserer Empfindung und unseres Bewusstseins nur mit freiem Willen tun. Dagegen behaupten wir nicht, dass alles auf Grund eines Fatums geschehe«.68 Während Gott zwar weiß, für welche Handlungen wir uns frei entscheiden werden, greift er doch nicht ein! Es bleibt daher uns überlassen, die Tugend oder die Sünde zu wählen.

Augustinus’ Ansichten fanden in Generationen christlicher Denker ihren Nachhall. Thomas von Aquin etwa griff sie auf, als er schrieb, dass die Lehre, der zufolge die Menschen eine moralische Wahlfreiheit hätten und Gott dennoch omnipotent sei, keineswegs einen Widerspruch in sich berge: »Ein Mensch kann seine Handlungen seinerseits bestimmen und leiten. Die Kreatur nimmt daher teil an der göttlichen Vorsehung nicht nur, indem sie beherrscht wird, sondern auch indem sie selbst herrscht.«69 Augustinus nahm sogar bereits Descartes’ berühmtes »Ich denke, also bin ich« vorweg,70 etwa in Aussagen wie diesen: »Ohne daß sich irgendwie eine trügerische Vorspiegelung der Phantasie und ihrer Gebilde geltend machen könnte, steht mir durchaus fest, daß ich bin, daß ich das weiß und es liebe. In diesen Stücken fürchte ich durchaus nicht die Einwendungen der Akademiker, die da entgegenhalten: Wie aber, wenn du dich täuschest? Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich natürlich auch nicht täuschen; und demnach bin ich, wenn ich mich täusche … Folglich täusche ich mich auch darin nicht, daß ich um dieses mein Bewußtsein weiß. Denn so gut ich weiß, daß ich bin, weiß ich eben auch, daß ich weiß.«71

Der Gedanke des freien Willens kam zwar ursprünglich nicht von den Christen (Cicero hatte bereits Ähnliches wie Augustinus gesagt72), doch war er für sie viel mehr als eine obskure Angelegenheit der Philosophie. Der freie Wille war vielmehr das Grundprinzip ihres Glaubens. Während die gewöhnlichen Griechen und Römer dem Fatalismus zusprachen, ungeachtet der Vorbehalte mancher ihrer alten Philosophen, lehrte Jesus dagegen, dass jedes Individuum für seine moralischen Fehltritte einstehen und büßen müsse, weil diese eben falsche Entscheidungen darstellten. Es hätte keine zwingendere intellektuelle Gewichtung des Selbst und der Individualität geben können als diese.

Die Abschaffung der mittelalterlichen Sklaverei

Der Aufstieg des Individualismus regte nicht nur zur Selbstbeobachtung an, sondern warf auch Fragen bezüglich der Grenzen persönlicher Freiheit auf. Wenn wir Einzelwesen sind, die nach unseren Handlungen beurteilt werden, für die wir uns frei entschieden haben, welche Pflicht hat der Christ dann bezüglich der Handlungsfreiheit eines anderen? Als die Kirchenväter über die Implikationen des freien Willens sinnierten, gerade auch nach dem Fall von Rom, wurde ihnen die Institution der Sklaverei immer zweifelhafter.

Anders als in asiatischen Sprachen gibt es im Griechischen wie im Latein Wörter für Freiheit, ebenso betrachteten viele Griechen und Römer sich als frei. Jedoch stand ihre Freiheit im Kontrast zu einer Masse von Sklaven, da die Freiheit in antiken Zeiten ein Privileg darstellte, aber kein Recht.

Platon opponierte gegen die Versklavung der »Hellenen«, also seiner griechischen Landsleute, sah die »barbarischen«, sprich fremdländischen Sklaven wiederum als eminent wichtig für seinen idealen Staat an, da diese in ihm alle produktive Arbeit übernehmen sollten.73 Die Regeln, die Platon für die Behandlung der Sklaven vorsah, waren sogar ganz besonders brutal.74 So glaubte er, dass Menschen nicht durch einen bösen Zufall zu Sklaven würden, sondern dass die Natur selbst »Sklavenvölker« erschaffe, denen durch geistige Unfähigkeit der Weg zu Tugend und Kultur verbaut sei und die allein dienen könnten. Obwohl sie, wie Platon es sah, streng diszipliniert werden müssten, damit keine sozialen Unruhen unter ihnen ausbrachen, so sollten sie doch niemals grausam behandelt werden.75 Aus Platons Testament geht hervor, dass er selbst auf seinem Grundstück fünf Sklaven beschäftigte.

 

Aristoteles wiederum lehnte den Standpunkt der Sophisten ab, demzufolge jegliche Autorität auf Gewalt beruhe und sich daher von selbst rechtfertige, da er die politische Tyrannei zu verurteilen suchte. Wie wäre die Sklaverei aber ansonsten zu rechtfertigen? Ohne dass Sklaven sich um die körperliche Arbeit kümmerten, so Aristoteles, hätten die aufgeklärten Männer weder genügend Zeit noch Energie, um sich auf den Weg der Tugend und Weisheit zu begeben. Auch stützte er sich auf Platons biologistische Ansicht, dass die Sklaverei sich schon dadurch rechtfertige, dass dumme Rohlinge sich als Sklaven ungleich mehr anboten, als freie Männer. »Von der Stunde ihrer Geburt an sind manche zur Unterwerfung ausersehen, andere zur Herrschaft.«76 Als er starb, besaß Aristoteles auf seinem Anwesen vierzehn Sklaven.

Der Niedergang der Sklaverei war in der Spätzeit des römischen Imperiums eine direkte Folge von dessen militärischer Schwäche. Nicht länger wurden dicke Trauben von Gefangenen auf siegreichen Schiffen zu den Sklavenmärkten verschickt. Zudem ging die Geburtenrate unter den römischen Sklaven, die ausgezehrt waren und denen es an Frauen mangelte, steil nach unten. Schließlich führte der Fehlbestand an Sklaven dazu, dass Landwirtschaft und Industrie eine neue Figur entstehen ließen: den freien Lohnarbeiter, auf den sie sich fortan stützten.

Nach dem Fall von Rom und mit den erfolgreichen Militärfeldzügen der neuen germanischen Reiche wuchs der Sklaverei eine zentrale Rolle in der Produktion zu. Obwohl niemand genau weiß, wie viele Sklaven es in Europa während des, sagen wir, 6. Jahrhunderts gab, so scheinen sie doch in rauen Mengen vorhanden und ihre Behandlung durchweg gröber gewesen zu sein als zu Zeiten der Antike. In den Gesetzbüchern der diversen germanischen Verbünde, die nun anstelle der römischen Statthalter regierten, waren Sklaven nicht mit anderen Menschen, sondern dem Viehbestand gleichgestellt. Nichtsdestotrotz sollte die Sklaverei einige Jahrhunderte später bereits der Vergangenheit angehören.

Manche Historiker bestreiten, dass der Sklaverei des Mittelalters tatsächlich ein Ende gesetzt wurde – vielmehr glauben sie bloß an eine sprachliche Verschiebung, bei der aus dem Wort »Sklaven« das Wort »Leibeigene« gemacht wurde.77 Doch ist es nicht die Geschichte, die hier linguistische Spielchen spielt, es sind die Historiker. Leibeigene gehörten nicht zum Mobiliarvermögen, sie besaßen Rechte und eine gewisse Privatsphäre. Sie konnten heiraten, wen sie wollten, und ihre Familien durften weder verkauft noch auseinandergerissen werden. Sie bezahlten ihre Miete, verfügten über ihre Zeit und entschieden, wie schnell oder langsam sie eine Arbeit verrichteten.78 Sofern ein Leibeigener, wie es mancherorts geschah, seinem Herrn eine feste Anzahl von Arbeitstagen pro Jahr schuldete, war seine Verpflichtung eben nicht unbegrenzt und eher der eines Leiharbeiters, denn eines Sklaven vergleichbar. Auch waren die Leibeigenen zwar über viele Obliegenheiten an ihre Herren gebunden, diese jedoch auch an sie, ebenso wie an eine höhere Autorität, der sie wiederum unterstanden. Und so ging es die Leiter immer weiter nach oben, denn die Koppelung gegenseitiger Verpflichtungen war ein Wesensmerkmal des Feudalismus.79

Selbst wenn man nicht behaupten kann, dass die Bauern des Mittelalters im heute gebräuchlichen Sinn frei gewesen wären, so waren sie doch keine Sklaven. Die brutale Institution der Sklaverei war am Ende des 10. Jahrhunderts zur Gänze aus Europa verschwunden. Nun gestehen die meisten heutigen Historiker diesen Umstand zwar ein, doch wollen immer noch die wenigsten wahrhaben, dass das Christentum dafür verantwortlich war. Robert Fossier schrieb etwa: »Die allmähliche Aufhebung der Sklaverei war in keiner Weise das Werk von Christen. Die Kirche legte den Sklaven vielmehr Demut nahe und versprach eine Gleichstellung im Jenseits … Sie hatte keine Gewissensbisse, als riesige Herden von Tieren mit menschlichem Antlitz in der Knechtschaft verblieben.«80 Auch Georges Duby sah die Kirche bei der Aufhebung der Sklaverei gänzlich unbeteiligt: »Das Christentum hat die Sklaverei nicht verurteilt, sondern ihr höchstens einen flüchtigen Knuff verpasst.«81 Man behauptet stattdessen, die Sklaverei sei verschwunden, weil sie unrentabel wurde und einem veralteten Produktionsmodell entsprach.82 Selbst Robert Lopez übernahm diese Sichtweise und behauptete, die Sklaverei sei nur verschwunden, weil durch Erfindungen wie das Wasserrad »die Sklaven nutzlos oder unergiebig« geworden waren.83 So entstand die Idee, dass das Ende der Sklaverei auf keiner moralischen Entscheidung, sondern auf reinem Egoismus seitens der Elite beruht habe. Das gleiche Argument wird angeführt, wenn es um die Abschaffung der Sklaverei in der westlichen Hemisphäre geht. Das eine wie das andere steht selbstverständlich im Einklang mit marxistischen Lehrmeinungen, nicht jedoch mit ökonomischen Realitäten. Selbst zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs stellte die Sklaverei sehr wohl noch einen sehr profitablen »Produktionszweig« dar.84 Nicht anders war es im Europa des frühen Mittelalters.

Doch genug davon! Die Sklaverei kam im mittelalterlichen Europa nur zum Erliegen, weil die Kirche ihre Sakramente nun auch auf Sklaven erweiterte und es ihr gelang, ein Verbot der Versklavung von Christen (aber auch Juden) durchzusetzen. Im damaligen Kontext kam diesem Verbot tatsächlich der Rang einer universalen Abschaffung zu.

Zu Beginn hatte die Kirche die Sklaverei durchaus als legitim angesehen, wenn auch mit einer gewissen Doppeldeutigkeit. Schauen wir etwa auf die hierzu prominenteste Stelle im Neuen Testament (Brief an die Epheser 6,5-8): »Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus … Denn ihr wisst, dass jeder der etwas Gutes tut, es vom Herrn zurückerhalten wird, ob er ein Sklave ist oder ein freier Mann.« Doch zitiert man nur ungern auch das hierauf Folgende (6,9): »Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wisst, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herren habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person.« Dass Gott alle gleich behandelt, ist von fundamentaler Wichtigkeit für die christliche Botschaft, der zufolge alle Menschen erlöst werden. Das war es, was die frühe Kirche darin bestärkte, Sklaven in den Glauben aufzunehmen und wenn möglich ihre Freiheit zu erwirken. Selbst Papst Calixt I. (gestorben 222) war einmal ein Sklave gewesen.

So lange das Römische Reich bestand, hielt die Kirche ihre Legitimierung der Sklaverei aufrecht. Das christliche Konzil in Granges verurteilte im Jahr 324 jeden, der unter den Sklaven Unmut entfachte,85 was im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass es einen solchen auch gab. Und doch wuchs die Spannung zwischen der Befürwortung der Sklaverei und der Hervorhebung der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Als das Imperium dahinschied, wurde der Druck sogar noch größer, da die Kirche weiter auf Letzterem beharrte, immer mehr Sklaven umwarb, aufnahm und ihnen einzig die Priesterweihe versagte. Pierre Bonnassie beschrieb diesen Umstand so: »Ein Sklave … wurde getauft und hatte folglich eine Seele. Mithin war er unmissverständlich ein Mensch.«86

Da Sklaven nun als vollständige Menschen und Christen angesehen wurden, begannen Priester auch auf deren Besitzer einzuwirken, um die Sklaven freizulassen. Dies wurde ihnen als »unendlich rühmenswerter Akt« angepriesen, der auch ihrem eigenen Seelenheil zuträglich sei.87 Die Glaubenslehre, dass Sklaven Menschen und kein Vieh seien, hatte noch eine weitere wichtige Folge: die Mischehe. Obwohl diese fast überall in Europa verboten war, gibt es nicht wenige Beweise für solche Ehen ab dem 7. Jahrhundert, die zumeist freie Männer und weibliche Sklaven betrafen. Die berühmteste dieser Eheschließungen fand 649 statt, als der Frankenkönig Chlodwig II. die englische Sklavin Bathilde heiratete. Nach Chlodwigs Tod im Jahr 657 amtierte Bathilde als Regentin, bis ihr ältester Sohn den Thron übernehmen konnte. Auch nutzte Bathilde ihre Stellung, um dem Sklavenhandel ein Ende zu bereiten und Sklaven loszukaufen. Nach ihrem Tod wurde sie von der Kirche heiliggesprochen.

Am Ende des 8. Jahrhunderts opponierte Karl der Große gegen die Sklaverei, während der Papst und andere einflussreiche Kirchenmänner die Position der heiligen Bathilde übernahmen. Als das 9. Jahrhundert anbrach, wetterte Bischof Agobard von Lyon: »Alle Menschen sind Brüder, alle rufen den gleichen Vater an – Gott: die Sklaven und die Herren, die Armen und die Reichen, die Unwissenden und die Gelehrten, die Schwachen und die Starken … Keiner steht über dem anderen … niemand ist versklavt oder frei … sondern in allen Dingen und ewiglich gibt es nur Christus.«88 Um die gleiche Zeit herum schrieb der Mönch Smaragd von Saint-Mihiel in einem Fürstenspiegel, der Karl dem Großen zugeeignet war: »Barmherzigster König, bitte untersagt, dass es Sklaven gibt in Eurem Reich.«89 Bald schon »bezweifelte niemand mehr, dass die Sklaverei dem göttlichen Gesetz zuwiderlief«.90 Im 11. Jahrhundert engagierten sich sowohl der heilige Wulfstan wie der heilige Anselm von Canterbury für eine Ausmerzung der letzten Überreste der Sklaverei und bald darauf sollte es heißen: »Kein Mensch, jedenfalls kein Christ, soll darnach berechtigterweise als das Eigentum eines anderen gehalten werden dürfen.«91 Doch gab es auch Ausnahmen, die immer wieder durch Wechselwirkungen mit dem Islam entstanden. So fuhren in Spanien die christlichen und muslimischen Armeen damit fort, die Gefangenen der jeweils anderen Seite nach einer Schlacht zu versklaven. Auch bestand der Sklavenhandel, bei dem norditalienische Exportunternehmen und muslimische Käufer beteiligt waren, bis ins 15. Jahrhundert hinein fort, ungeachtet der Kirchenmeinung. Die Zahl der bei diesem Handel beteiligten Sklaven war klein. Sie wurden aus sklavischen Stämmen des Kaukasus eingekauft (das Wort »Sklave« ist von »Slav« abgewandelt) und manche wurden als eine Art Luxusgut von sehr reichen Italienern wie den Medici gehalten, die meisten jedoch wurden in islamische Länder exportiert. Besonders weiße Sklaven waren »wertvoller als Gold, wenn mit Ägyptern gehandelt wurde«.92 Dieser Restbestand des Sklavenhandels wurde regelmäßig von Kirchenseite verurteilt und verkümmerte mit der Zeit, um jedoch mit voller Kraft erneut in der Neuen Welt aufzutauchen. Die Kirche opponierte vehement und schickte im 16. Jahrhundert einige wütende Stiere gegen den Sklavenhandel der Neuen Welt ins Feld – jedoch war der damalige Einfluss der Päpste allzu beschränkt, so dass ihr zorniger Widerstand erfolglos blieb.93

Das theologische Fazit, dass die Sklaverei eine Sünde sei, ist dem Christentum exklusiv zu eigen (auch wenn einige jüdische Religionsgemeinschaften die Sklaverei ebenfalls verurteilten).94 Auch hier kann man das Prinzip des theologischen Fortschritts am Werk sehen, der es nämlich Theologen ermöglichte, neue Interpretationen in die Glaubenslehre einzubringen, ohne sich dem Vorwurf der Ketzerei aussetzen zu müssen. Wie schon gesagt, orientieren sich alle anderen großen Religionen streng auf die Vergangenheit hin und huldigen dem Prinzip, dass die Geschichte rückschrittlich sei und Fehler stets nur von späteren Generationen gemacht werden können. Daher würden Buddhisten, Konfuzianer, Hindus und auch Moslems niemals sagen, dass die Weisen und Heiligen der vergangenen Zeiten ein unvollständiges oder gar fehlerhaftes Verständnis ihrer Religion gehabt hätten. Während christliche Theologen auf überzeugende Weise den Willen Gottes, so wie Paulus ihn verstand, auf die Sklaverei hin korrigieren können, wären solche Verbesserungen in den anderen Religionen undenkbar – es sei denn als Häresien. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass sich von allen Weltreligionen nur das Christentum ernsthaft und ausdauernd mit den Menschenrechten – und weniger mit den menschlichen Pflichten – auseinandergesetzt hat. Die anderen großen Glaubensrichtungen schmälern den Individualismus und betonen die Gebote des Kollektivs. Sie sind, wie Ruth Benedict es treffend ausgedrückt hat, weniger Kulturen der Schuld, als vielmehr der Scham.95 Man bedenke erneut, dass es in den Sprachen, in denen ihre Glaubensschriften verfasst wurden (einschließlich des Hebräischen) nicht einmal ein eigenes Wort für »Freiheit« gibt.96

 

Was den Islam angeht, steht vor der theologischen Verurteilung der Sklaverei eine unüberwindbare Mauer: Mohammed kaufte, verkaufte und besaß selbst Sklaven, die er zu diesem Zweck eigens gefangen genommen hatte.97 Dennoch verlangte der Prophet, dass sie gut behandelt werden: »Gebt ihnen das zu essen, was auch ihr verzehrt und versorgt sie mit der gleichen Kleidung wie euch selbst … Sie sind Menschen Gottes wie ihr, seid also gut zu ihnen.«98 Auch entließ Mohammed einige seiner Sklaven zurück in die Freiheit, adoptierte einen als seinen Sohn und heiratete eine Sklavin. Darüber hinaus sagt der Koran, dass es falsch sei, »eure Sklavinnen zur Prostitution zu nötigen« (24:33) und dass einem Gläubigen für die Tötung eines anderen Gläubigen vergeben werde, so er zur Sühne einen Sklaven in die Freiheit entlässt. Die Vorbildfunktion Mohammeds und seine Ermahnungen führten vermutlich zu besseren Lebensbedingungen der Sklaven im Islam, allemal verglichen mit denen in Griechenland und Rom. Und doch wurde die grundlegende Sittlichkeit der Institution Sklaverei nie in Frage gestellt. Dass christliche Theologen die biblische Rechtfertigung der Sklaverei weitestgehend umgehen konnten, wäre nie möglich gewesen, wenn Jesus selbst Sklaven gehalten hätte.99 Dass Mohammed das sehr wohl getan hat, stellte für muslimische Theologen ein Faktum dar, das sie durch kein intellektuelles Manöver hätten umschiffen können, selbst wenn sie es gewollt hätten.

Wenn der Erfolg des Abendlandes auf Siegen der Vernunft beruht, dann war der Aufstieg des Christentums sicher das wichtigste Ereignis in der europäischen Geschichte. Es war die Kirche, die eine unerschütterliche Basis für die Kraft der Vernunft und der Möglichkeit des Fortschritts bot – das Prinzip des »Eines Tages werden wir …« lag hierin beschlossen. Und eines Tages »taten wir« genau dies. Auch gab es keine jahrhundertelange Verzögerung des Versprechens durch Aberglauben und Unwissenheit. Der intellektuelle wie der materielle Fortschritt kam sehr schnell zustande, sobald einmal die engen Fesseln der römischen Unterdrückung wie des verfehlten griechischen Idealismus gelockert waren.