Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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TEIL I: FUNDAMENTE

KAPITEL 1:
DIE SEGNUNGEN DER RATIONALEN THEOLOGIE

Die Theologie steht bei den meisten westlichen Intellektuellen in schlechtem Ruf. Das Wort wird verstanden als eine Vergangenheitsform religiösen Denkens, das auf Irrationalität und Dogmatismus beruht. Das Gleiche gilt für die Scholastik. Welche Ausgabe des Merriam-Webster-Wörterbuchs man auch immer bemüht, »scholastisch« bedeutet »pedantisch und dogmatisch« und kennzeichnet die Sterilität der mittelalterlichen Kirchenlehre. John Locke, der britische Philosoph des 18. Jahrhunderts, lehnte die Scholastiker ab und bezeichnete sie als »große Münzpräger« nutzloser Begriffe, die letztlich doch nur »die eigene Unwissenheit verschleiern« sollten.1 Aber weit gefehlt! Die Scholastiker waren vielmehr brillante Gelehrte, die für die Gründung der großen europäischen Universitäten und den Aufstieg der westlichen Wissenschaft verantwortlich waren. Was die Theologie betrifft, hatte sie wenig gemein mit dem ansonsten vorherrschenden religiösen Denken, sondern war eine hochentwickelte und höchst rationale Disziplin, wie sie so nur im Christentum entwickelt wurde.

Die Theologie, die manchmal auch als »Wissenschaft des Glaubens«2 bezeichnet wird, stellt ein rationales Nachdenken über Gott dar. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Aufspüren der Natur Gottes, seiner Absichten und Forderungen, sowie dem Verständnis der Art und Weise, wie die Beziehung zwischen Gott und den Menschen von diesen definiert wird. Auf den Göttern des Polytheismus könnte dagegen nie eine Theologie aufbauen, da sie viel zu widersprüchlich sind. Die Theologie erfordert das Gottesbild eines bewussten und rationalen übernatürlichen Wesens mit unbeschränkter Kraft und Reichweite, welches die Menschen ernst nimmt und ihnen moralische Codes und Verantwortlichkeiten auferlegt. Dabei werden höchst gewichtige intellektuelle Fragen aufgeworfen, zum Beispiel: Warum erlaubt uns Gott zu sündigen? Verbietet das Fünfte Gebot auch den Krieg? Ab wann hat ein Kleinkind eine Seele?

Um das Wesen der Theologie wirklich zu verstehen, ist es sinnvoll, in den Osten zu schauen und zu erkennen, warum es dort niemals Theologen gegeben hat. Nehmen wir etwa den Taoismus. Das Tao wird als eine übernatürliche Essenz begriffen, ein unter den Dingen liegendes mystisches Kraft-Prinzip, das das Leben reguliert. Dabei ist es jedoch unpersönlich, unnahbar, es hat kein Bewusstsein und ist nimmermehr ein Wesen. Vielmehr ist es der »ewige Weg«, eine kosmische Kraft, die Harmonie und Gleichgewicht herstellt. Nach Lao-Tse ist das Tao zugleich »niemals da« und »immer da«, es ist »namenlos«, hat aber auch »den Namen, der genannt werden kann«. Ebenso »klang- wie formlos« hat es »niemals ein Begehr«. Man kann ewig über eine solche Essenz meditieren, doch lässt sie sich logisch kaum durchdenken. Das Gleiche gilt für den Buddhismus und den Konfuzianismus. Selbst wenn die volkstümlichen Varianten dieser Glaubensrichtungen polytheistisch sind und über ein enormes Personal an kleinen Gottheiten verfügen (was auf den gemeinverständlichen Taoismus ebenfalls zutrifft), so sind die »reinen« Formen dieser Glaubensrichtungen, wie sie von den intellektuellen Eliten aufgefasst werden, letztlich gottlos und beziehen sich auf eine nur vage heilige Essenz. Buddha etwa negierte ausdrücklich die Existenz eines bewussten Gottes.3 Im Osten existieren schon deswegen keine Theologen, weil all jene, die eine solche intellektuelle Aufgabe ansonsten erfüllen würden, nicht einmal deren erster Grundvoraussetzung Rechnung tragen können, nämlich der Existenz eines Gottes, der ebenso bewusst wie allmächtig ist.

Im Gegensatz dazu haben christliche Theologen jahrhundertelang darüber nachgedacht, was Gott in spezifischen Stellen der Bibel wirklich sagen will, und manche dieser Interpretationen haben im Laufe der Zeit höchst dramatische und weitreichende Diskussionen nach sich gezogen. Zum Beispiel verbietet die Bibel die Astrologie nicht nur nicht, sondern die Geschichte der Heiligen Drei Könige, die dem Stern von Bethlehem folgen, belegt sogar deren Statthaftigkeit. Andererseits legte Augustinus im 5. Jahrhundert vernünftig dar, dass die Astrologie falsch sein müsse, da der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal nicht vereinbar sei mit dem freien Willen, den Gott uns geschenkt habe.4 Ähnlich war es mit der theologischen Konzeption von Maria: obwohl viele frühe Christen, darunter der Apostel Paulus, die Annahme stützten, dass Jesus Brüder gehabt habe,5 ihrerseits gezeugt von Josef und geboren durch Maria, geriet diese Ansicht in energischen Konflikt mit ihrer weiteren Auslegung durch spätere Theologen. Das Problem wurde dann im 13. Jahrhundert gelöst, als Thomas von Aquin die Doktrin von Mariens Jungfrauengeburt dergestalt definierte, dass Maria keine anderen Kinder zur Welt gebracht habe: »So behaupten wir ohne Vorbehalt, dass die Mutter Gottes als Jungfrau schwanger wurde, als Jungfrau gebar und auch nach der Geburt Jungfrau geblieben ist. Die Brüder des Herrn waren keine natürlichen Brüder, die von der gleichen Mutter geboren wurden, sondern Blutsverwandte.«6

Dies und ähnliches waren nicht nur bloße Erweiterungen der Bibeltexte, sondern Beispiele für sorgfältige und vernünftige Schlussfolgerungen, aus denen dann wiederum neue Doktrinen entstanden: die Kirche verbot die Astrologie, die Immerwährende Jungfräulichkeit Mariens wurde zur offiziellen katholischen Lehre. Wie diese Beispiele zeigen, vermochten große Geister oftmals eine Kirchendoktrin durch logisches Denken erheblich zu verändern oder gar umzudrehen. Niemand konnte dies besser und hatte größeren Einfluss als die Heiligen Augustinus und Thomas von Aquin. Natürlich haben auch tausende anderer Theologen versucht, den Doktrinen ihren Stempel aufzudrücken. Manchen gelang es, die meisten wurden übergangen und noch andere wurden als Häretiker ausgesondert. Es geht aber stets darum, dass hinter jeder Darlegung gleich welchen Aspekts der christlichen Theologie eine hohe Autorität stehen muss. Es ließen sich problemlos in den Arbeiten tausender unbedeutender Theologen Zitate finden, die die bizarrsten Standpunkte belegen. Entsprechend haben Historiker oft diesen Ansatz gewählt; doch ist es nicht meiner. Ich werde geringere Persönlichkeiten nur dann zitieren, wenn ihre Ansichten auch von großen Theologen bestätigt worden sind, wobei ich im Hinterkopf behalte, dass die maßgebende Position der Kirche sich in vielen Fällen weiterentwickelte und das mitunter so sehr, dass ihre früheren Lehren ins Gegenteil verkehrt wurden.

Führende christliche Theologen wie Augustinus und Thomas von Aquin entsprachen nicht eben dem, was heutzutage mit strenger Bibel-Exegese in Verbindung gebracht wird. Vielmehr bedienten sie sich stets ihrer Vernunft, um größere Einsicht in die göttlichen Pläne zu gewinnen. Tertullian sagte es im 2. Jahrhundert so: »Die Vernunft ist insofern ein Ding Gottes, als es nichts gibt, das Gott der Schöpfer uns nicht durch Vernunft verliehen oder auferlegt hat. Und so soll auch nichts von dem, was er nicht will, mit Mitteln der Vernunft verstanden und gehandhabt werden.«7 Im gleichen Geiste sprach Clemens von Alexandria im 3. Jahrhundert die Warnung aus: »Denkt nicht, dass wir behaupten, diese Dinge könnten durch den Glauben allein empfangen werden, stattdessen muss die Vernunft sie zunächst immer bestätigen. Denn tatsächlich ist es ein Wagnis, diese Dinge dem bloßen Glauben zu überlassen, da die Wahrheit sicherlich nie ohne die Vernunft existieren kann.«8

Daher drückte Augustinus in erster Linie etwas aus, das bloß dem letztgültigen allgemeinen Stand der Weisheit entsprach, als er sagte: »Der Himmel bewahre, dass Gott in uns gerade das zu hassen beginnt, mit dem er uns den Tieren überlegen gemacht hat. Der Himmel bewahre, dass unser Glaube nicht die Vernunft begehre oder zumindest akzeptiere, da uns der Glaube ja gar nicht möglich wäre, besäßen wir keine vernunftbegabten Seelen.« Augustinus hatte erkannt, dass »der Glaube der Vernunft vorangehen und zunächst das Herz reinigen muss, damit es bereit ist das helle Licht der Vernunft zu empfangen und auszuhalten«. Und er fügte hinzu, dass, obwohl es nötig sei, »dass der Glaube der Vernunft vorangeht, in gewissen, bis dahin noch nicht begreifbaren Momenten, der sehr kleine Anteil der Vernunft, der uns von diesem Umstand überzeugt, wiederum dem Glaube vorausgehen muss«.9 Die scholastischen Theologen setzten weitaus mehr Glauben in die Vernunft, als die meisten Philosophen es heutzutage tun.10

Natürlich widersetzten sich manche einflussreiche Kirchenmänner diesem Primat der Vernunft und hielten dagegen, dass die besten Diener des Glaubens der Mystizismus und das spirituelle Erleben seien.11 Ironischerweise hat der inspirierendste Fürsprecher dieses Standpunkts seine Thesen auf eine Weise formuliert, die ganz besonders elegant und vernunftdurchtränkt war.12 Der Widerspruch gegen die Vernunft war natürlich in manchen religiösen Orden sehr populär, besonders bei den Franziskanern und den Zisterziensern. Doch konnten sich ihre Ansichten nicht durchsetzen – und wenn auch nur aus dem einen Grund, weil an den Universitäten, in denen die Vernunft im Besonderen regierte, die offizielle Theologie der Kirche den Ton angab.13

Der christliche Glauben in seinem Fortschritt

Auch das Judentum und der Islam haben sich das Bild eines Gottes zu eigen gemacht, dem eine Theologie hätte zur Seite gestellt werden können, doch ließen ihre Gelehrten dieses Feld unbestellt. Stattdessen sehen sowohl das traditionelle Judentum14 wie die Muslime in der Heiligen Schrift vor allem einen Gesetzestext, der verstanden und angewandt werden muss und nicht eine Grundlage für Untersuchungen in der Frage nach dem letzten Sinn. Daher fassen Gelehrte das Judentum und den Islam oft als »orthopraktische« Religionen auf, denen es vor allem um die korrekte (ortho) Anwendung (praxis) von Glaubenssätzen geht und die »ganz fundamental die Einhaltung von Gesetzen und Regeln im Gemeinschaftsleben betonen«. Dagegen bezeichnen die Gelehrten das Christentum als »orthodoxe« Religion, weil es das korrekte (ortho) Fürwahrhalten (doxa) hervorhebt und »das Hauptaugenmerk auf den Glauben und seine intellektuelle Strukturierung durch das Credo, den Katechismus und die Theologien« legt.15 Bei einer typischen Kontroverse zwischen jüdischen und muslimischen Denkern geht es darum, ob eine bestimmte Handlung oder Erfindung (etwa die Reproduktion der Heiligen Schrift durch die Druckerpresse) im Einklang mit dem bestehenden Gesetz ist. Eine typische christliche Kontroverse ist dagegen doktrinär und befasst sich etwa mit Themen wie der Heiligen Dreifaltigkeit oder der Immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens.

 

Natürlich haben auch führende christliche Denker sich mit dem Gesetz beschäftigt und manch jüdischer wie muslimischer Gelehrter sich mit theologischen Fragen auseinandergesetzt. Und doch haben die drei Glaubensrichtungen an dieser Stelle sehr verschiedene Stoßkräfte und besondere Konsequenzen.

Rechtsauslegungen beziehen sich auf Präzedenzfälle und werfen daher sozusagen ihre Anker in die Vergangenheit, während das Bemühen um ein besseres Verständnis der göttlichen Natur dagegen von einer Möglichkeit des Fortschritts ausgeht. Und genau diese Annahme des Fortschritts ist es, die den entscheidendsten Unterschied zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen ausmachen dürfte. Sieht man vom Judentum ab, begreifen die anderen großen Glaubensrichtungen die Geschichte entweder als endlos wiederholten Kreislauf oder als unabwendbaren Niedergang – so soll Mohammed gesagt haben: »Die beste aller Generationen ist meine eigene, gefolgt von der nächsten und dann wiederum der nächsten.«16 Im Gegensatz dazu haben Judentum und Christentum eine richtungsweisende Konzeption der Geschichte, die in die Wiederkehr Christi und das Millennium mündet. Allerdings betont die jüdische Vorstellung der Geschichte nicht so sehr den Fortschritt, als vielmehr das Moment der Sequenz, des Nacheinanders, wohingegen das Christentum die Idee des Fortschritts verinnerlicht hat. John Macmurray schrieb dazu: »Daß wir überhaupt an so etwas wie Fortschritt denken, zeigt das ganze Ausmaß des christlichen Einflusses.«17

Die Dinge lägen vielleicht anders, hätte Jesus eine schriftliche Mitteilung hinterlassen. Doch anders als Mohammed und Moses, deren Schriften als göttliche Übermittlungen aufgefasst wurden, hat Jesus nie etwas verfasst, so dass die Kirchenväter von Anfang an aus den Implikationen seiner Worte – einer Sammlung von Aussagen, die nur der Erinnerung der Evangelisten entstammten – ihre Schlüsse ziehen mussten. Das Neue Testament ist kein vereinheitlichtes Dokument, sondern eine Sammelschrift.18 Demzufolge steht im Hintergrund aller theologischen Deduktion stets das Wort des Paulus: »Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk ist unser prophetisches Reden.«19 Man vergleiche dies mit der zweiten Sure des Korans: »Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist.«20

Von Anfang an gingen christliche Theologen davon aus, dass der Gebrauch der Vernunft zu einem umso genaueren Verständnis des Willen Gottes führe. Augustinus bemerkte, dass, obwohl »es in der Heilslehre gewisse Dinge gibt, die wir uns noch nicht erschließen können […], wir eines Tages dazu fähig sein werden«.21 Doch Augustinus rühmte nicht nur den theologischen, sondern auch den weltlichen, materiellen Fortschritt. Bereits im 5. Jahrhundert schrieb er: »Sind nicht durch den Menschengeist so viele und großartige Künste erfunden und betätigt worden, teils unentbehrliche, teils dem Vergnügen dienende, dass die überragende Kraft des Geistes und der Vernunft selbst auch in ihren überflüssigen oder sogar gefährlichen und verderblichen Strebungen davon zeugt, welch herrliches Gut sie ihrem Wesen nach ist, welches es ihr ermöglichte, derlei Dinge zu erfinden, sich anzueignen und zu betätigen. Zu welch wunderbaren, staunenswerten Erzeugnissen ist menschliche Betriebsamkeit im Bekleidungs- und Baugewerbe gelangt; wie weit hat sie es in der Bodenbebauung, in der Schifffahrt gebracht …« Und weiter hob er hervor, »welch große Kenntnis hat diese Kraft des Geistes und der Vernunft in Maß und Zahl erlangt, mit welchem Scharfsinn die Bahnen und Stellungen der Gestirne erfasst; welche Unsumme von Wissen über die Dinge der Welt hat sie gespeichert!« All das gehe zurück auf das »höchste und unwandelbare Gute«, das Gott seinem Geschöpf mitgegeben habe, nämlich eine »vernunftbegabte Natur«.22

Augustinus’ Zuversicht war typisch; der Fortschritt lockte die gesamte Christenheit. Gilbert de Tournai schrieb im 13. Jahrhundert: »Niemals werden wir die Wahrheit finden, wenn wir uns mit dem begnügen, was wir bereits wissen … Was vor unserer Zeit geschrieben wurde, sind keine Gesetze, sondern Wegweiser. Die Wahrheit steht uns allen offen, da wir sie noch nicht zur Gänze besitzen.«23 Daran schließt sich an, was Fra Giordano 1306 in Florenz gepredigt hat: »Weder sind alle Künste bereits ausgeschöpft worden, noch werden wir mit ihnen je an ein Ende kommen. Man sollte jeden Tag eine neue Kunst freilegen.«24 Vergleichen wir dies mit der zur gleichen Zeit vorherrschenden Überzeugung in China, wie Li Yen-Chang sie charakterisierte: »So die Gelehrten dahin gebracht werden, ihre Aufmerksamkeit einzig auf die Klassiker zu richten und man sie davon abhält, sich mit dem vulgären Tun späterer Generationen zu befassen, wird es dem Kaiserreich fürwahr wohlergehen!«25

Das christliche Bekenntnis zum Fortschritt mittels der Rationalität erreichte seinen Höhepunkt in der Summa theologica des heiligen Thomas von Aquin, die im späten 13. Jahrhundert in Paris veröffentlicht wurde. Dieses Monument der rationalen Theologie besteht aus logischen »Beweisen« christlicher Doktrinen und diente allen späteren christlichen Theologen als Maßstab. Da Thomas zufolge allen menschlichen Wesen der hinreichende Intellekt fehle, um direkt in das Wesen der Dinge zu blicken, sei es nötig, dass sie sich ihren Weg in die Erkenntnis Schritt für Schritt mit Hilfe der Vernunft bahnen. Aus diesem Grund sprach sich Thomas, selbst wenn er die Theologie als die höchste der Wissenschaften betrachtete, da sie sich unmittelbar mit göttlichen Offenbarungen befasse, für den Gebrauch der Werkzeuge der Philosophie aus, besonders für logische Prinzipien, mit denen erst eine Theologie begründet werden sollte.26 Folgerichtig gelang es ihm, mit der Kraft der Vernunft in Gottes Schöpfung den profundesten Humanismus auszumachen.27

Doch hätten sich Thomas von Aquin und seine vielen begabten Kollegen niemals in der rationalen Theologie hervortun können, wenn sie Jehova als ein unerklärliches Wesen betrachtet hätten. Sie konnten ihre Bemühungen nur rechtfertigen, indem sie in Gott die Verkörperung der Vernunft schlechthin sahen.28 Überdies mussten sie, da sie Gottes Willen auf fortschrittliche Weise zu erschließen suchten, akzeptieren, dass die Bibel nicht stets und nicht wörtlich zu verstehen sei. Auch dies entsprach der konventionellen christlichen Sichtweise, da, wie Augustinus anmerkte, »unterschiedliche Dinge unter diesen Worten zu verstehen seien, die wiederum alle wahr sind«. Augustinus gestand sogar offen ein, dass späteren Lesern mit Gottes Hilfe einmal ein Verständnis gewisser Bibelstellen möglich sein werde, obwohl derjenige, der sie niederschrieb, »sie gar nicht verstanden hat«. Und er fährt fort: »Wenn also jeder sich bestrebt, in der heiligen Schrift das zu erkennen, was der Verfasser dachte, wie kann es dann böse sein, wenn er darin findet, was du, Licht aller derer, welche die Wahrheit aufrichtig suchen, ihm als wahr zeigst, wenn auch der, dessen Worte er liest, dies nicht dachte, so dachte er doch Wahres, wenn auch nicht gerade dieses.«29 Da Gott darüber hinaus unfähig sei, Fehler zu machen, könne der Grund, warum die Bibel der Erkenntnis zu widersprechen scheine, nur an einem Verständnisproblem des »Verfassers« liegen, welcher Gottes Worte fixierte.

Diese Ansichten standen in völligem Einklang mit dem christlichen Grundsatz, dass Gottes Offenbarungen sich stets am jeweils aktuellen menschlichen Verständnisvermögen orientierten. Im 4. Jahrhundert schrieb der heilige Johannes Chrysostomos, dass selbst die Seraphe Gott nicht als das erkennen könnten, was er ist. Stattdessen sähen sie »etwas, das an ihre Natur angepasst ist und sich zu dieser herablässt. Zu dieser Herablassung kommt es, wenn Gott erscheint, allerdings nicht als der, der er ist. Stattdessen zeigt er sich dem, der ihn doch nicht ganz zu erschauen vermag, gerade soweit, dass dieser ihn ein stückweit erblickt. Auf diese Weise lässt Gott sich proportional zu der Schwäche derer erkennen, die seiner gewahr werden.«30 Angesichts dieser langen Tradition gab es auch nichts ansatzweise Ketzerisches an der These Johannes Calvins, dass Gott seine Offenbarungen den Grenzen des menschlichen Verständnisses anpasse und etwa der Autor der Genesis »ordiniert war, ein Lehrer der Ungelernten und Primitiven zu sein, nicht anders als der bereits Wissende; ohne auch krude Mittel der Instruktion zu verwenden, hätte er sein Ziel nicht erreichen können«. Das heißt, Gott »offenbart sich uns entsprechend unserer Grobheit und Schwäche«.31

Das christliche Gottesbild ist das eines Wesens, das an den menschlichen Fortschritt glaubt und sich umso vollständiger offenbart, desto mehr die Menschen ein Vermögen zu besserem Verständnis gewinnen. Da Gott zudem als vernunftbegabtes Wesen das Universum geschaffen hat, hat auch dieses notwendigerweise eine rationale, gesetzmäßige, stabile Struktur, die nur darauf wartet, von den Menschen besser verstanden zu werden. Hierin lag der Schlüssel zu manchen intellektuellen Vorhaben, von denen die Wissenschaft ein wesentlicher Teil war.

Theologie und Wissenschaft

Die sogenannte wissenschaftliche Revolution des 16. Jahrhunderts ist von all jenen fehlinterpretiert worden, die stets eine Art Ur-Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft ausmachen wollen. Es sind höchst wunderbare Dinge in dieser Epoche geschaffen worden, doch lag das nicht an einem jähen Ausbruch säkularen Denkens. Im Gegenteil waren diese Errungenschaften der krönende Abschluss eines jahrhundelangen systematischen Fortschritts durch mittelalterliche Scholastiker, die ihrerseits unterstützt wurden von der singulär christlichen Erfindung des 12. Jahrhunderts, der Universität. Nicht nur stellten sich Wissenschaft und Religion als kompatibel heraus, sie waren sogar nicht voneinander zu trennen – denn der Aufstieg der Wissenschaft wurde von zutiefst religiösen christlichen Gelehrten ermöglicht.32

Es ist wichtig zu erkennen, dass Wissenschaft nicht bloß aus Technologie besteht. Eine Gesellschaft kann sich nicht deshalb der Wissenschaft rühmen, weil sie in der Lage ist, Schiffe zu bauen, Eisen zu schmelzen oder weil sie das Essen auf Porzellantellern serviert. Die Wissenschaft ist eine Methode, die in organisierten Versuchen benutzt wird, um der Natur einer Sache auf den Grund zu gehen und um sie zu formulieren. Dabei ist sie stets Modifizierungen und Korrekturen durch systematische Beobachtung unterworfen.

Anders gesagt, besteht die Wissenschaft aus zwei Bausteinen: Theorie und Forschung. Die Theorie ist der erklärende Teil der Wissenschaft. Wissenschaftliche Theorien sind abstrakte Aussagen darüber, warum und wie bestimmte Teile der Natur (einschließlich des menschlichen Gemeinschaftslebens) ineinander passen und funktionieren. Allerdings gehen nicht alle abstrakten Aussagen, und selbst nicht alle erklärenden, als wissenschaftliche Theorien durch. Ansonsten wäre auch die Theologie eine Wissenschaft. Abstrakte Theorien sind vielmehr nur dann wissenschaftlich, wenn man von ihnen einige verbindliche Vorhersagen positiver wie negativer Art darüber ableiten kann, was überhaupt beobachtet werden wird. Und hier kommt die Forschung ins Spiel. Bei ihr geht es darum, Beobachtungen anzustellen, die für die empirischen Vorhersagen relevant sind. Dabei wird klar, dass die Wissenschaft auf Aussagen über die natürliche und materielle Wirklichkeit beschränkt ist – also über Dinge, die zumindest grundsätzlich beobachtbar sind. Aus diesem Grund gibt es auch manche diskursiven Gefilde, die die Wissenschaft überhaupt nicht erreichen kann – etwa die Frage nach der Existenz Gottes.

 

Man beachte auch, dass die Wissenschaft eine organisierte, gemeinschaftliche Bestrebung darstellt und nicht auf Zufallsfunden beruht oder in der Abgeschiedenheit stattfindet. Freilich haben manche Wissenschaftler auch allein gearbeitet, jedoch niemals in der Isolation. Seit den ersten Tagen haben Wissenschaftler Netzwerke gegründet und unterhielten durchweg viele Kontakte.

In Übereinstimmung mit der Ansicht heutiger Historiker und Wissenschaftstheoretiker schließt diese Definition der Wissenschaft alle Versuche aus, die es im Laufe der Menschheitsgeschichte gab, um die materielle Welt zu erklären und zu kontrollieren, selbst solche, die mit dem Übersinnlichen nichts zu tun hatten. Die meisten dieser Bemühungen kann man deshalb aus der Kategorie der Wissenschaft herausnehmen, da bis vor kurzem, wie Marc Bloch sagte, »technischer Fortschritt, selbst großen Ausmaßes, auf bloßer Empirie beruhte«.33 Das heißt, der Fortschritt war das Ergebnis von Beobachtung sowie praktischem Herumprobieren, doch fehlte ihm die Erklärung – die Theorie. Aus diesem Grund stellen die frühen technischen Innovationen aus griechischrömischen Zeiten, der islamischen Welt oder aus China, ganz zu schweigen von solchen aus der Vorzeit, keine Wissenschaft dar und beruhten vielmehr auf überliefertem Wissen, Geschicklichkeit, Weisheit, Technik, Handwerk, Technologie, Ingenieursbegabung, Bildung oder einfachen Kenntnissen. Auch ohne Teleskope waren die Menschen der Antike zu großartigen astronomischen Beobachtungen fähig, doch bevor diese mit nachprüfbaren Theorien verknüpft waren, verharrten sie in der Sphäre bloßer Gegebenheiten. Charles Darwin hat diesen Aspekt anschaulich beschrieben: »Vor dreißig Jahren wurde oft gesagt, dass die Geologen beobachten und nicht theoretisieren sollten; und ich erinnere mich noch gut an jemanden, der meinte, dass man ebenso gut in einer Kiesgrube die Steine zählen und ihre Farben beschreiben könnte. Wie seltsam ist das, dass jemand nicht versteht, dass alle Beobachtung immer für oder gegen eine bestimmte Ansicht sprechen muss, so sie überhaupt von Nutzen sein will!«34

Was die intellektuellen Errungenschaften der griechischen oder östlichen Philosophen angeht, war ihr Empirismus so a-theoretisch, wie ihre Theorien nichtempirisch. Schauen wir auf Aristoteles. Obwohl er für seinen Empirismus gerühmt wird, hielt er diesen doch von seinen Theorien fern. So lehrte er zum Beispiel, dass die Geschwindigkeit, mit der Objekte auf den Boden fallen, proportional zu ihrem Gewicht sei – dass ein Stein, der doppelt so schwer als ein anderer sei, darum auch zweimal so schnell falle.35 Schon ein Besuch auf den Felshängen in seiner Nachbarschaft hätte ihn eines Besseren belehren können.

Gleiches lässt sich auch von den anderen berühmten Griechen sagen – entweder sind ihre Werke ausschließlich empirisch oder aber sie erfüllen nicht die Kriterien der Wissenschaft, da es ihnen an Empirie mangelt. Auf diese Weise bleiben sie rein abstrakte Thesen, die keinerlei feststellbare Folgen miteinbeziehen oder die diese sogar ignorieren. Als Demokrit erklärte, dass die gesamte Natur aus Atomteilchen bestehe, bewegte er sich damit keineswegs in Richtung der wissenschaftlichen Atomtheorie. Sein Modell war rein spekulativ und beruhte weder auf Beobachtungen noch auf Empirie. Dass es sich dennoch als richtig herausstellte, ist nicht mehr als ein linguistischer Zufall, der Demokrits Annahme ebenso viel oder wenig Bedeutung zukommen lässt, wie der seines Zeitgenossen Empedokles, als dieser behauptete, die Natur bestehe einzig aus Feuer, Luft, Wasser und Erde, oder Aristoteles’ Variante aus dem Folgejahrhundert, welche besagte, die Natur sei ein Gemisch aus Hitze, Kälte, Trockenheit, Feuchte und Quintessenz. Das Gleiche betrifft Euklid: trotz seiner analytischen Bravour und seines Scharfsinns war er doch kein Wissenschaftler, da sein Steckenpferd, die Geometrie, an und für sich keine Substanz hat und sie bloß einige Aspekte der Wirklichkeit beschreibt, jedoch nicht zu erklären vermag.

Die echte Wissenschaft erhob sich nur ein einziges Mal: in Europa.36 China, die islamische Welt, Indien und das alte Griechenland hatten zwar ihrerseits die Alchemie entwickelt, doch wurde sie nur in Europa zur Chemie. Analog dazu hatten zwar viele Gesellschaften elaborierte Systeme der Astrologie entwickelt, doch führte nur in Europa die Astrologie zur Astronomie. Warum? Die Antwort darauf hat erneut mit verschiedenen Gottesbildern zu tun.

In den Worten des großen, wenn auch missachteten mittelalterlichen Wissenschafts-Theologen Nikolaus von Oresme ist die Schöpfung Gottes »ungefähr so wie die eines Menschen, der eine Uhr baut und ihren Gang in der Folge ihr selbst überlässt«.37 Im Gegensatz zu den religiösen und philosophischen Doktrinen der nichtchristlichen Welt entwickelten Christen die Wissenschaft, weil sie glaubten, dass sie entwickelt werden konnte und sollte. Alfred North Whitehead sagte im Rahmen seiner Lowell-Vorlesungen 1925 in Harvard, dass die Wissenschaft in Europa entstanden sei aufgrund des breit gefächerten »Glaubens in die Möglichkeit der Wissenschaft … welcher von der mittelalterlichen Theologie abgeleitet war«.38 Whiteheads Erklärung schockierte nicht nur seine distinguierte Zuhörerschaft, sondern westliche Intellektuelle im Allgemeinen, sobald seine Vorlesungen veröffentlicht waren. Wie konnte dieser große Philosoph und Mathematiker, Bertrand Russells Co-Autor der bahnbrechenden Principia Mathematica (1919–1913), etwas so Obskures behaupten? Wusste er denn nicht, dass die Religion der Todfeind der wissenschaftlichen Untersuchung ist?

Whitehead wusste etwas viel Besseres. Er hatte verstanden, dass die christliche Theologie für den Aufstieg der Wissenschaft im Westen ganz unerlässlich gewesen war, und ebenso, dass nicht-christliche Theologien das wissenschaftliche Streben überall sonst abgewürgt hatten. Er erklärte: »Der größte Beitrag des mittelalterlichen Geistes zur Wissenschaftsbewegung war der unbezwingbare Glauben, dass … da ein Geheimnis war, ein Geheimnis, das gelüftet werden konnte. Wie kam es, dass diese Überzeugung so tief in den europäischen Geist eingewurzelt war? … Es muss mit der mittelalterlichen Fixierung auf die Vernunft Gottes zu tun gehabt haben, die man sich als persönliche Energie Jahwes verbunden mit der Rationalität eines griechischen Philosophen ausmalte. Jedes Detail wurde überwacht und kontrolliert: die Suche nach den Geheimnissen der Natur konnte nur in einer Bekräftigung des Glaubens an die Vernunft resultieren.«39

Whitehead schloss mit der Anmerkung, dass die in anderen Religionen zu findenden Gottesbilder, zumal die asiatischen, zu unpersönlich und zu irrational waren, als dass sie die Wissenschaft hätten stützen können. »Gleich welches Geschehnis könnte gerade auch auf den willkürlichen Befehl eines despotischen Gottes zurückzuführen sein« oder einen »unpersönlichen und völlig undurchschaubaren Ursprung haben. Es gibt da nirgends das gleiche Zutrauen in die begreifliche Rationalität eines persönlichen Wesens.«40

Tatsächlich gehen die meisten nicht-christlichen Religionen sowieso nicht von einer Schöpfung aus: das Universum ist vielmehr ewiglich oder bewegt sich bestenfalls zyklisch, es hat jedenfalls weder Anfang noch Ende und, das Wichtigste dabei, es kennt keinen Schöpfer. Infolgedessen betrachtet man das Universum als allwaltendes Mysterium, als widersprüchlich, unvorhersehbar und beliebig. Für jemanden mit diesen religiösen Prämissen verläuft der Pfad der Weisheit über Meditation und mystische Erkenntnis. Der Vernunft zu huldigen, besteht hier kein Grund.