Schatten der Zitadelle

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Schatten der Zitadelle
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Robin Mayerle

Schatten der Zitadelle

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Zitadelle

II. Menschendorf

III. Reich der Orks

IV. Reich der Menschen

V. Reich der Zwerge

VI. Reich der Trolle und Riesen

VII. Dorf der Mor‘grosh

VIII. Reich der Njorndar

IX. Reich der Tauren

X. Reich der Elfen

XI. Vorbereitung auf den Krieg

XII. Reich des Schattenkönigs

XIII. Reich der Anu‘bar

XIV. Der letzte Feldzug

Impressum neobooks

I. Zitadelle

Den Fuß auf eine Turmzinne gestützt stand er da.

Wie ein Gott überblickte er die Welt aus der Höhe.

Vom rauen Norden bis in den sandigen Süden, vom großen Wald im Westen bis zum Riesengebirge im Osten konnte er hier sehen.

Verschneite Berghänge, samtige Wiesen, dunkle Wälder und tiefe Täler. Die Schönheit und Vielfalt der Natur in diesen Landen waren unbeschreiblich.

Doch das war ihm, wie er da mit wehendem Umhang in majestätischer Pose auf seinem Turm stand und Korrha – sein Reich – betrachtete, einerlei.

Er war der König der Könige, der Herrscher der Schatten, Gebieter über Leben und Tod in der bekannten Welt.

Er war der Schattenkönig.

Während er, wie so oft, seinen Gedanken nachhing, strich der kalte Wind über seine schwarze Rüstung und die Wolken verdrängten das Sonnenlicht.

Allerdings ließ seine Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt immer mehr nach, denn er war tief in seine Erinnerung versunken..

„Mein Sohn...

Schon bei deiner Geburt war dir ein Schicksal vorbestimmt: das Schicksal eines großen Herrschers.

Doch dir wurden Prüfungen auferlegt und so wuchst du fern jedes Königshofes auf, in der freien Natur.

Du hast viele Kämpfe gewonnen, viele Schlachten geschlagen, dir ist Erfreuliches und Trauriges

widerfahren. Du hast Freunde verloren, aber auch Neue gewonnen.

Du bist zum Anführer vieler Lebewesen geworden, sie vertrauen dir.

Und nun stehst du hier vor mir als Krieger, Todbringer und Eroberer, doch auch als

Hoffnungsschimmer und Freund aller Völker.

Dies alles tut jetzt nichts mehr zur Sache. Denn die Frage ist nun einzig und allein, wie du dich entscheidest.

Trittst du in die Fußstapfen deines Vaters oder schlägst du einen anderen Weg ein?

Deine Entscheidung steht kurz bevor.“

Dies hatte ihm sein Vater vor scheinbar unendlich langer Zeit gesagt.

Damals dachte er, es sei das Ende.

Doch in Wahrheit war es erst der Anfang.

II. Menschendorf

„Theta! Theta, komm zurück!“, rief er.

Die Bärendame rannte in Richtung des verdunkelten Himmels.

„Wir wissen doch überhaupt nicht, was da los ist!“

Aber sie eilte unbeirrt weiter. Broxx wollte sie in ihrer Neugier nicht alleine lassen, also folgte er ihr so schnell er konnte, doch ihr Vorsprung war schon groß und er konnte nur langsam aufholen, denn sie bewegte sich flink.

Plötzlich war sie losgerannt und er hatte keinen blassen Schimmer, was in sie gefahren war. Es musste etwas mit der seltsamen Dunkelheit am Horizont zu tun haben.

Nachdem er einige Minuten hinter ihr her geeilt war, gelangte er in ein Dorf – oder was einmal ein Dorf gewesen sein musste. Thetas Spur hatte er mittlerweile verloren.

Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn abrupt anhalten und ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Irgendetwas hatte den Ort vollkommen verwüstet. Sein Blick schweifte über ein Haus, dessen Garten zertrampelt und dessen Tür aus den Angeln gehoben war. Bei einem anderen Gebäude klaffte ein großes Loch in der Mauer. Die Möbel waren herausgezerrt worden und lagen nun auf der Straße, anscheinend ein Raubüberfall. In der Ferne glühten rote Flammen und Rauch wand sich in mächtigen Säulen gen Himmel.

Er verlangsamte seinen Schritt und beobachtete alarmiert die Umgebung. Eine Tür knarzte, als sie vom Wind bewegt wurde.

Aufmerksam schlich er weiter durch die tote Stadt. Hinter jeder Ecke konnte etwas lauern, das ihm nach dem Leben trachtete. Nur der Gedanke, Theta zu verlieren, trieb ihn an.

Von Weitem erblickte er ein großes Gebäude mit halbrunden Fenstern, das sich durch seine Höhe und die prunkvollen Verzierungen als Rathaus kennzeichnete. In der Hoffnung, sich einen besseren Überlick über das Örtchen verschaffen zu können, beschloss er, auf dessen Glockenturm zu klettern.

Als er den Dorfplatz erreichte, wandte er sich sofort angewidert ab, richtete seinen Blick aber nach wenigen Sekunden in einem Anflug von makaberer Faszination wieder auf das abscheuliche Bild. Auf einen großen Haufen geschichtet lagen die verwesenden Leichen der Dorfbewohner. Weder Frauen, noch Kinder waren verschont worden. Er konnte eine Frau mit ihrem Kind fest an sich geschmiegt erkennen – die Klinge glitt ihr durch den Bauch, während sie es gestillt hatte.

Angewidert spuckte er aus. Wer konnte unschuldigen Dorfbewohnern so etwas Grausames antun? Wütend und fassungslos zwang er sich, wieder nach der Bärendame Ausschau zu halten.

Er verstand noch immer nicht, warum sie überhaupt fort gelaufen war, denn das sah ihr so gar nicht ähnlich. Eigentlich war sie ein äußerst ruhiges Tier. Schon als Kind hatte sie sich zwar an den vielen wundersamen Vorgängen der Natur erfreut, doch anders als man vielleicht erwarten könnte, war sie nicht wild umher getollt, sondern hatte immer alles mit gebührendem Respekt in sicherer Entfernung betrachtet.

Damals waren die Zeiten für uns noch ruhiger. Und wie groß sie seitdem geworden ist, dachte Broxx, während er auf den Turm des Rathauses kletterte. Es bedeutete keine große Anstrengung für ihn, denn Klettern war er durch sein Leben in der Wildnis gewohnt. Als er oben angekommen war, konnte er mit seinen scharfen Augen erst das ganze Ausmaß der Verwüstung überblicken. Das Dorf maß nicht wenige Einwohner, aber dennoch war beinahe jedes Haus ausgeraubt, zerstört oder stand in Flammen.

Aber auf dem Platz sind zu wenig tote Dorfbewohner für so einen großen Ort. Was ist mit den Anderen geschehen?

Er blickte in Richtung des dunklen Flecks am Himmel. Von hier aus konnte er Theta zwar auch nicht finden, aber wesentlich besser erkennen, was die Ursache für das seltsame Phänomen war. Er kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können und glaubte, ein großes Gebäude am Himmel auszumachen.

Die ganze Situation wurde ihm immer unbehaglicher. Ein komplett zerstörtes Dorf, Tethas plötzliches Verschwinden und ein in der Luft schwebendes Gebäude.

Das riecht nach Ärger.

Behände schwang er sich wieder vom Dach des Gebäudes und landete unversehrt auf dem Boden. Eine alte Kunst seines Volkes, der Mor'grosh. Es hatte nicht nur Vorteile, ein Halbork zu sein, aber das gehörte mit Sicherheit dazu.

Eilends sprintete er zu dem merkwürdigen Objekt, dem er die Verantwortung für die seltsamen Geschehnisse zuschrieb.

Als er näher kam, wurden immer mehr Details dieses zitadellenähnlichen Baus erkennbar. Es schimmerte schwarz-bläulich und schien aus einem Ganzen gefertigt zu sein, denn man sah keine Fugen oder andere Verbindungselemente. Seine Form war im Grundriss viereckig und auf dem flachen Dach thronte eine stabförmige Spitze. Sie war violett und etwa fünf Fuß lang. An der Unterseite war eine Art Plattform angebracht, die wahrscheinlich dazu diente, in das Innere des Gebäudes zu gelangen.

Aber das wirklich Beeindruckende war die Tatsache, dass die schwarze Zitadelle schwebte. Beinahe fiel ihm die Kinnlade herunter, so fassungslos war er. Wie war das möglich?

Nachdem er nun beinahe unter dem Bau stand, hörte er knurrende Laute. Theta! Er hetzte in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Am Ende einer Gasse stand sie, wütend fauchend, um sich mehrere Angreifer vom Leib zu halten. Broxx hatte diese Wesen noch nie gesehen. Ihre Haut glänzte in der gleiche Farbe wie die Zitadelle und trotzdem konnte man beinahe durch sie hindurchsehen. Agil bewegte er sich auf die Feinde zu. Es waren drei an der Zahl, doch mit wenigen geübten Streichen seiner beiden Äxte schaltete er die Gegner aus. Sie blieben jedoch nicht einfach so liegen, sondern veränderten die Farbe und schienen die Gestalt von Menschen anzunehmen. Verwirrt und verwundert blieb er stehen und rieb sich den Kopf vor Erstaunen, als er ein Kreischen hörte. Am Ende der Straße, auf der er und die Bärin sich befanden, stand ein Weiteres dieser Geisterwesen und gab laute Schreie von sich. Er stürmte auf es zu und streckte auch dieses mühelos nieder, doch noch ehe er seine Waffen wegstecken konnte, eilten von allen Seiten weitere Gegner herbei. Die Beiden waren umzingelt und die Feinde rückten langsam auf sie zu. Als sie einen engen Kreis gezogen hatten, griffen sie an. Sie waren nicht ansatzweise so stark oder geschickt, wie ein kampferprobter Kopfgeldjäger wie Broxx, aber dennoch konnten sie ihm aufgrund ihrer schieren Masse stark zusetzen.

 

Der Kampf dauerte lange an und zehrte an seinen Kräften. Nur mit größter Mühe wehrte er die meisten Angriffe der Geisterwesen ab, erlitt jedoch einige Schnittwunden.

Worauf seine Äxte auch trafen, überall waren diese schemenhaften Gestalten, die, wie er nach und nach erkannte, sowieso gewöhnlichen Menschen ähnelten. Doch wie aus dem Nichts tauchte nun ein fünfzehn Fuß großes Exemplar auf, das ihn mit seinen gewundenen Hörnern an einen Oger erinnerteund ihn fast um das Doppelte überragte.

Die kleineren Gegner machten dem Riesen ehrfürchtig Platz.

Wild stürmte es auf Broxx zu, nur knapp verfehlte der Hieb des mächtigen Streitkolben Broxx’ Körper. Dieser war gerade noch rechtzeitig zurückgewichen und versuchte jetzt, seinen Gegner über die Seiten zu attackieren. Aber diesem reichte ein Handstreich aus, um den Angriff aus der Bahn zu lenken.

Die kleineren Wesen führten nun ein hitziges Gefecht mit Theta. Sie musste sich gegen mehrere Feinde gleichzeitig wehren, wobei sie, auch wenn ein ausgewachsener Bär wie sie eine unbändige Kraft verkörperte, aufgrund ihrer Unbeweglichkeit stark benachteiligt war. Von hinten konnten ihre Gegner sie gut angreifen und so drehte und wendete sie sich wie eine Furie, um nicht getroffen zu werden.

Während sie zahlreiche Gegner zur Strecke brachte und trotzdem die Flut der Feinde nicht endete, kämpfte Broxx noch immer gegen das riesige, fremdartige Wesen.

Unzählige Angreifer waren den beiden Gefährten schon zum Opfer gefallen, doch die Härte des Kampfes und die schiere Masse an Kontrahenten forderte ihren Tribut. Der Mor'grosh spürte, wie sein Körper immer kraftloser wurde und es ihm schwerer viel, seinem Gegner stand zu halten. Da er dieses Hin und Her nicht mehr lange durchhalten würde, beschloss er, seine letzte Kraft in einen einzigen vernichtenden Schlag zu legen und so den Riesen niederzustrecken.

Er sprang hoch, die Äxte über den Kopf erhoben, um auf dessen Rücken zu landen. Doch sein Versuch wurde jäh unterbrochen. Das Geisterwesen hatte ihn im Flug am Hals gepackt und hielt ihn daran in der Luft. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie in diesem Moment auch die verwirrte Theta überwältigt wurde, dann wurde ihm schwarz vor Augen...

***

Langsam öffnete Broxx die Augen.

Sein Kopf schmerzte furchtbar und seine Glieder lechzten nach Bewegung. Bei dem Versuch, sich zu strecken, schürfte er die dick verkrusteten Handgelenke wieder auf. Erst jetzt registrierte er, dass er sich in einer Gefängsniszelle befand.

Er blickte sich um. Die Wände schienen feucht und schmierig und das einzige Stück der Einrichtung war ein Loch, ganz in seiner Nähe, das wahrscheinlich dazu dienen sollte, seine Notdurft zu verrichten. Die Gitterstäbe, wie auch seine Fesseln, waren aus massiven, unzuberbrechlichen Metall gefertigt. Sämtliche Versuche, sich zu befreien, waren vergebens, auch mit der Kraft seiner kampfgestählten Arme.

Da er keinerlei Fluchtmöglichkeit ausmachen konnte, ergab er sich vorerst verzweifelt seinem Schicksal.

Einige Stunden später kam eine der Kreaturen, die ihn gefangen genommen hatten – sie war wesentlich kleiner als ihre Artgenossen und ein langer Bart schmückte das Kinn - an seine Zelle und schob ihm etwas zu Essen herein.

„He, du, was wollt ihr von mir?“, brüllte er, doch als keine Antwort kam, machte er sich gierig über den zähflüssigen Brei her, auch wenn er nicht wusste, was das war. Es schmeckte nicht sonderlich, aber es mussten Tage vergangen sein, seit er das letzte Mal etwas zwischen die Zähne bekommen hatte, demnach zu urteilen, wie sein Magen knurrte.

Eine Weile überlegte er noch, wie lange er wohl schon hier eingesperrt war und was die Wesen von ihm wollten, doch bald wurde er wieder schläfrig und seine Sinne schwanden ihm.

Die Tage verstrichen und er vegitierte vor sich hin. Ab und an wurde ihm zu Essen gebracht, doch den Brei konnte er schon bald nicht mehr ertragen. Immer drängender und wütender versuchte er, Antworten zu erhalten, denn das Unwissen machte ihn wahnsinnig.

Aber nie beantwortete eines der fremden Wesen seine Fragen.

Lange Zeit verging, Wochen flossen dahin. Immer wieder hörte er, wie andere Gefangene gebracht oder abgeholt wurden und immer mehr Fragen warfen sich auf.

Was tun diese Kreaturen? Was wollen sie von mir? Wo ist Theta? Werde ich jemals hier rauskommen?

Nach gefühlt unendlich langer Zeit wurde schließlich auch er von einem besonderes großen Exemplar seiner mysteriösen Gefängniswärter aus seiner Zelle geholt. Er streckte und dehnte seine Muskeln, nach einer solchen Ewigkeit ohne Bewegung waren sie sehr schwach.

Aber sofort wurden seine Fesseln enger gezurrt und die Kreatur schleifte ihn lange, glatte Korridore entlang, in einen großen Raum.

Dieser mutete äußerst seltsam an. Große Fässer mit grünem Inhalt standen überall herum, es brodelte in verschiedenen Fläschchen und an den Wänden hingen Zeichnungen von verschiedenen Kreaturen, die wie Baupläne aussahen.

Aufgrund seiner schlechten körperlichen Verfassung ließ er sich ohne Widerstand an einem massiven, steinernen Tisch festmachen, doch sein ganzer Körper zitterte vor Angst.

Das große Wesen verließ den Raum und nach einiger Zeit kam jemand anders herein. Es war ein Mensch! Broxx war überglücklich und freute sich, endlich mit jemandem reden zu können, doch als er den älteren Mann mit seiner runden Brille und dem weißen Kittel, der voll von Schmutzflecken war, ansprach, zischte ihm dieser nur entgegen: „Sei still. Widerliche Versuchsobjekte können nie ruhig sein.“

Er wollte etwas erwidern, aber da bekam er schon ein Stück Stoff in den Mund gestopft, sodass er nicht mehr sprechen konnte. Zitternd versuchte er, um Erbarmen zu flehen, doch der Mann interessierte sich nicht für ihn.

Er hielt Broxx’ einzelne Körperteile still und vermaß sie nach und nach. Die Daten schrieb er in eine Art Notizbuch, dass auf einem Pult neben dem Tisch, an den der Halbork gefesselt war, lag.

Als der Wissenschaftler die Messungen beendet hatte, öffnete er einen der Behälter mit der grünen Flüssigkeit darin. Eine glibbrige Dampfwolke entwich. Er nahm eine Schale von einem weiteren Tisch, auf dem verschiedene Instrumente, wie zum Beispiel mehrere Gläser, sowie große Messer und Scheren, bereitlagen und füllte sie mit dem grünen zähflüssigen Material.

Broxx lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Er hatte höllische Angst vor dem, was nun geschehen würde. Diese Hilflosigkeit machte ihn wahnsinnig.

Und in der Tat, es war äußerst schmerzhaft. Der verrückte Doktor nahm eine der Scheren und schnitt ein mittelgroßes Loch in Broxx Bauch. Er versuchte sich loszureißen und wollte schreien, aber die Fesseln hielten ihn ruhig an Ort und Stelle. Dann wurde ein wenig von der grün-leuchtenden Masse in die Wunde gegeben und der Wissenschaftler nähte das herausgeschnittene Fleisch wieder an.

Anschließend rief er eine der großen Kreaturen und Broxx wurde wieder in seine Zelle gebracht.

Jedoch bemerkte dieser das gar nicht mehr, denn er war vor Schmerz ohnmächtig geworden.

Als er wieder erwachte, brannte die Wunde wie Feuer. Sie hatte sich noch nicht vollständig geschlossen und die Ränder waren stark gerötet. Außerdem wölbte sich die ganze Brust in einer starken Schwellung. Vorsichtig drückte er an den Wundrand. Ein Gemisch aus Wundwasser, Eiter, Blut und der grünen Flüssigkeit quoll heraus. Die Schmerzen waren so stark, dass er sofort wieder bewusstlos wurde.

Das nächste Mal, als er wach wurde, ließ er die Verletzung in Ruhe. Er musste länger ohnmächtig gewesen sein, denn sie war jetzt zumindest schon geschlossen. Dennoch tat sie immer noch höllisch weh.

Zum ersten Mal seit zehn Jahren wünschte er sich, wieder in seiner Heimat zu sein.

Wie schon so oft zuvor flammte in seinem Kopf die Erinnerung auf, noch einmal spielte er die Geschichte, die sein Dasein begründete, in seinem Kopf ab:

Eines Herbsts griff eine Kreatur seine Heimat an, wie man sie danach nie wieder gesehen hatte. Sie war riesengroß, ihr Körper mit einem struppigen Fell bedeckt, die Augen leuchteten rot, die Fänge bestanden aus einem äußerst harten Material und waren unglaublich scharf. Sein Vater, der Stammesführer, war zu jenem Zeitpunkt auf der Jagd, aber selbst, als es das Dorf erreichte, war er noch nicht wieder zurückgekehrt. Alles, was man von ihm fand, waren seine beiden Äxte, die er im Wald zurückgelassen hatte und die Broxx heute im Kampf führte.

Als das Monster das Dorf erreicht hatte, entbrannte eine lange Schlacht mit den Schamanen, Naturzauberern, die ihre Macht von den Elementen bezogen.

In eine ausweglose Lage manövriert opferte sich Broxx' Mutter als oberste Schamanin des Dorfes schließlich, um die Kreatur im Körper ihres Kindes zu versiegeln und so das Dorf zu retten. Sie wusste, dass der Zauber all ihre Kraft rauben würde, doch sie konnte nicht mehr mit ansehen, wie ihre Freunde nach und nach starben.

Seitdem trug Broxx die Seele eines mächtigen Dämons in sich, was er jedoch erst Jahre später herausfand.

Aber das war nicht die einzige Folge jenes Tages. Blind vor Wut und Trauer über den Verlust seiner Eltern schwor er sich, stark genug zu werden, um eines Tages Rache an dem Dämon in seinem Inneren nehmen zu können. Seit damals hatte er sich unablässig in jeder Disziplin, die ihm in diesem Kampf helfen konnte, gestählt.

Eines Tages jedoch belauschte er ein Gespräch zwischen Dora, seiner Adoptivmutter, und dem stellvertretenden Stammesführer, der das Amt vertrat, bis er selbst erwachsen war. Jahrelang hatte er in der Illusion gelebt, dass auch sein Vater gestorben war, aber nun hörte er, wie die Schamanin davon sprach, dass dieser nur verschollen und nicht sicher tot war.

Von den Lügen verletzt verließ er kurzerhand das Dorf und war seitdem nie wieder dorthin zurückgekehrt.

Das Wenige, was er an Ausrüstung benötigt, finanzierte er mit seiner Tätigkeit als professioneller Kopfgeldjäger, während er immer vorrangig nach seinem Vater Ausschau hielt.

Bei seiner Flucht war er zwanzig Jahre alt gewesen und zehn Weitere waren seither verstrichen. Er hatte viele Reisen unternommen, viel von der Welt gesehen, aber seinen Vater hatte er bis jetzt nicht finden können. Mittlerweile schwand ihm die Hoffnung, ihm überhaupt jemals zu begegnen.

Jetzt dachte er wieder an das Monster in seinem Inneren. Es hatte sich schon lange nicht mehr bemerkbar gemacht, schon mehrere Wochen oder Monate nicht mehr. Kurz nach der Versiegelung, als diese noch frisch war, versuchte es häufig, auszubrechen, was sich darin äußerte, dass sich Broxx’ körperliche Fähigkeiten enorm erhöhten, er stark anwuchs und Schmerzen in seinem Inneren spürte, mehr aber auch nicht.

Während sich verschiedene dieser Ausbrüche vor seinem inneren Auge abspielten, spürte er, wie der dadurch geweckte Dämon seine Chance in Broxx' geschwächter Verfassung witterte und das Siegel attackierte.

Verursacht durch die Wunde an der Brust waren seine Schmerzen dieses Mal heftig, jedoch blieb das nur von kurzer Dauer, denn die Macht des Dämons verschloss die Verletzung wie durch ein Wunder. Dadurch, dass seine Körpermaße explodierten, sprangen die Kette um seine Fuß- und Handgelenke entzwei und er konnte sich endlich wieder frei bewegen.

In seiner Jugend konnte er mit dem Schmerz und den Versuchen des Monsters, seinen Verstand zu übernehmen, nicht gut umgehen, aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und vermochte seine Glieder einigermaßen zu kontrollieren.

Zornentbrannt aufgrund dessen, was ihm die unbekannten Wesen angetan hatten, erhob er sich und bog die massiven Gitterstäbe seiner Zelle mühelos auseinander. Er tötete die Wachen, indem er sie an die Wand schleuderte, und öffnete eine Zelle nach der anderen, um Theta zu finden. Zwar flohen die anderen Befreiten dankend aus ihren Gefängnissen, aber seine Gefährtin konnte er nirgends finden.

Mit seiner - aufgrund der Verwandlung verzerrten - Stimme schrie er: „Was habt ihr mit meiner Bärin gemacht?“, fegte den Wachtrupp, der in diesem Moment um die Ecke gebogen kam, aus dem Weg und schnappte sich dessen Kommandanten. Er versuchte es aus dem Schatten herauszupressen, aber da dieser es nicht wusste oder vorgab, nichts zu wissen, brach er ihm das Genick.

 

Immer wütender werdend hetzte er aus dem Kerker und suchte nach dem Quartier des Befehlshabers der fliegenden Festung. Alles, was sich ihm entgegenstellte, wurde getötet und die anderen Gefangenen folgten ihm in seiner Raserei mit gebührendem Abstand.

Bald erreichten sie einen runden Saal, in dessen Mitte sich ein Thron befand. Die Decke des Raumes war aus Glas, wodurch man die Antenne in der Mitte des Daches und darüber den dunklen Himmel erkennen konnte. Rundherum zweigten Gänge in andere Bereiche des Gebäudes ab.

Provozierend brüllte Broxx, um den Kommandanten der Festung hervorzulocken: „Zeig dich, du feiges Schwein und büße für deine Grausamkeiten.“

Der Ruf hallte mehrmals von den Wänden wieder und ein Moment der Stille kehrte ein, bis schließlich eine Stimme im Rücken der Gruppe sagte: „Du kannst gerne versuchen, mich zu töten, aber ich fürchte, es wird dein Ende sein.“ Wenn Broxx sich nicht irrte, gehörte soe einem Maleficar.

Er hatte schon von diesen Kreaturen gehört, doch zum Glück war er noch nie einem von ihnen begegnet. Es waren Wesen aus alten Legenden, Schauergeschichten, die man Kindern erzählte, um ihnen Gehorsam beizubringen. Man sagte, sie seien Monster, die ursprünglich aus der Welt der Träume stammen, aber eines Tages sei ein Magier zu machthungrig gewesen und habe deshalb einen von ihnen in die wirkliche Welt beschworen. Bei dem Ritual jedoch ging etwas schief: Der Magier habe den Schutzkreis nicht richtig gezogen und so konnte der Maleficar Besitz von ihm ergreifen und es seinen Brüdern auch ermöglichen, in die reale Welt zu gelangen. Seitdem würden sie umherstreifen, getrieben von der Gier nach Nahrung. Es hieß, sie zehrten sich von den Seelen der Sterblichen, denn diese enthielten die Essenzen der Träume. Manche jedoch, so erzählte man sich, würden sich über die pure Gier nach Nahrung erheben und sich einem höheren Ziel widmen. Genau diese sollten äußerst gefährlich sein, denn angeblich befassten sie sich mit dunkler Magie und schreckten nicht davor zurück, Bündnisse mit noch grauenvolleren Wesen einzugehen.

Diese Kreatur sah genau so aus, wie in den Legenden beschrieben: Das Gesicht fahl wie eine Leiche, leere, schwarze Augen und große Hörner auf dem Kopf. Der Körper war von einer dunklen Panzerung umgeben, an den wenigen unbedeckten Stellen, war die rote Haut zu erkennen und auf dem Rücken des Wesens befanden sich zwei riesige, ledrige Schwingen.

Broxx war einen Moment zu lange in Gedanken versunken und so hätte ihn die Kreatur beinahe mit einer magischen Schattenkugel, die es ansatzlos aus dem Handgelenk schleuderte, erwischt. Er konnte gerade noch ausweichen, da setzte sie bereits nach und traf ihn mit voller Wucht der Klaue in die Seite. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schnappte er nach Luft.

Den nächsten Schlag konnte er parieren und er versuchte, selbst einen Treffer zu landen. Aber der Maleficar fing diesen ab und hielt Broxx’ Arm. Er versuchte sich mit der linken Hand zu befreien, aber der Dämon krallte sich auch im dort fest.

Der Griff war nur schwer zu lockern und ehe sich der Halbork wehren konnte, hatte ihm der Maleficar schon mehrmals das Knie in den Bauch gerammt. Einer seiner Begleiter, die zuvor die Wachen vom Eindringen abgehalten hatten, schaffte es, die Kreatur abzulenken, indem er versuche, ihr das Schwert in den Rücken zu rammen. Er bezahlte mit dem Leben, denn der Maleficar hielt ihn fest und saugte ihm genüsslich die Seele aus. Panisch versuchten die anderen Gefangenen, sich außer Gefahr zu bringen, während sich der verwandelte Mor'grosh vor Schmerzen am Boden krümmte.

Er war in einer misslichen Lage, denn der Dämon deutlich überlegene Fähigkeiten, prügelte den Halbork, der hilflos versuchte, seinen Körper zu schützen, durch den ganzen Raum und auch seine dunkle Magie mit den Schattenkugeln verrichteten ihr Werk.

In einer kurzen Schlagpause, in der der Maleficar ihn höhnisch auslachte, richtete sich Broxx auf und versuchte nachzudenken.

Er ist mir körperlich weit voraus und außerdem hat er magische Fähigkeiten. Wer weiß, zu was er noch alles imstande ist. Ob man wohl große Schmerzen erleidet, wenn einem die Seele aus dem Körper gezogen wird? Und was passiert danach?

Und da kam ihm die Idee:

Moment mal... Er saugt seinen Opfern die Seele aus, wenn er sie besiegt hat. Aber ich bin ja kein gewöhnlicher Sterblicher. In meinem Inneren wohnt die Seele einer Bestie. Ja, das könnte klappen!

Mit einem mächtigen Hieb schlug der Maleficar Broxx wieder zu Boden. Dieser versuchte aufzustehen, aber seine Kraftreserven waren aufgebraucht und er brach zusammen.

Da er nun hilflos am Boden lag, beugte sich der Dämon triumphierend über ihn und flüsterte:

„Ich sagte doch, es wird dein Ende sein.“

Genießerisch begann er, seinem Opfer die Seele auszusaugen. „Köstlich! Argh.. Was... Nein!“

Plötzlich fasste er sich an die Kehle und gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Er sank auf die Knie und kämpfte scheinbar gegen einen unsichtbaren Feind in seinem Inneren an.

Wie aus dem Nichts sprang der auf Normalgröße zurückgeschrumpfte Broxx auf einmal auf. Er schnappte sich das Schwert einer toten Wache vom Boden und schlug dem Maleficar mit diesem den Kopf ab.

Einige Augenblicke vergingen und die Leiche des Dämons verschwand unter einem kurzen Blitz aus Dunkelheit, der aus dem Nichts zu kommen schien.

Nachdem der Maleficar besiegt war, suchte die Gruppe einen Ausgang. Broxx fand am Thron einen Hebel, den er betätigte. Ein lautes Geräusch erklang und bebend senkte sich in der Mitte des Raumes ein kreisförmiges Stück des Bodens nach unten. Er inspizierte die neu entstandene Vertiefung.

Eine Treppe, die auf eine runde Plattform an der Unterseite der Zitadelle führte, hatte sich gebildet. Er stieg sie hinab und lugte über den Rand der Plattform. Viele Meter unter ihm befand sich das zerstörte Dorf, denn die Festung schwebte noch immer in der Luft. Die Konstruktion untersuchend, auf der er stand, bewegte er sich nun in deren Mitte und dort fiel ihm ein grüner Kreis auf dem Boden auf. Als er den Blick wieder hob, befand er sich ein Stück von dem zerstörten Dorf entfernt und konnte die Wiesen und Felder sehen, ohne den Kopf senken zu müssen. Er war wieder auf dem Boden.

Wie ist das möglich? Ah, ich glaube, ich habe es verstanden! Diese Vorrichtung bringt Personen und Gegenstände zum jeweils anderen Gerät.

Um seine Vermutung zu überprüfen, bewegte er sich aus dem Kreis hinaus und wieder hinein. Nun stand er wieder oben auf der Plattform und konnte das Dorf von oben sehen.

Dieser Mechanismus ist genial. Sie können einfach nach oben und unten gelangen, doch wenn jemand angeifen will, hat er vom Boden aus keine Möglichkeit, denn sicherlich ist das ganze System ganz einfach abzuschalten. Und Gefangene können auch nicht einfach fliehen...

Er rief die anderen herbei, die währenddessen ebenfalls auf der Suche nach einem Ausgang gewesen waren. Einige hatten auch die Festung noch einmal nach Überlebenden durchkämmt. Vereinzelte Gefangene konnten sie noch retten, aber als Broxx sie nach Theta fragte, beteuerten sie, dass sie trotz gründlicher Suche nichts gefunden hatten.

Oh Theta, was haben sie nur mit dir gemacht? Was sollte ich nur tun, wenn du nicht mehr da bist? Ich muss dich finden...

Ein Gefühl von Trauer und Angst stieg in ihm hoch. Fast sein ganzes Leben war er mit Theta zusammen gewesen. Als er sie in seiner Kindheit im Wald zum ersten Mal getroffen hatte, war sie noch ein kleines Bärenjunges gewesen. Beide spürten von Anfang an eine tiefe Verbindung und Zuneigung füreinander.

Theta hatte Broxx die Zeit ohne seine Eltern sehr erleichtert. Wenn er traurig oder einsam gewesen war, hatte sie ihn getröstet. Er hatte immer jemanden zum Spielen gehabt und gemeinsam hatten sie es geschafft, zu hervorragenden Kämpfern heranzuwachsen und sich stets ihr Ziel vor Augen zu halten: Die Wahrheit über Broxx’ Vater herauszufinden. Doch nun war auch seine einzige Gefährtin verschwunden und Broxx wusste nicht, was er tun sollte. Dennoch, versuchte er sich wieder zu fangen, es gab vorerst wichtigere Dinge zu tun, als seine Zeit mit einer verzweifelten dritten Durchsuchung der Zitadelle zu verschwenden.

Broxx rief alle Flüchtlinge zusammen und schlug vor, ein Nachtlager am Hang eines kleineren Hügels, welchen er von oben hatte ausmachen können, zu errichten und anschließend wollte man bereden, wie man weiterhin verfahren sollte.

Es gab keine Proteste gegen den Vorschlag und so wurden seine Anweisungen bereitwillig befolgt. Er veranlasste, Feuerholz zu sammeln, notdürftige Zelte aus Ästen und großen Blättern zu errichten und Kräuter zu suchen, um die Verletzten vorläufig zu versorgen. Außerdem schickte er einige Leute noch einmal zurück in die Festung, um den Rest des zähen Breies, den die Gefangenen bekommen hatten, herbeizubringen.