Das Versprechen der Nonne

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2. KAPITEL

Wulfhardt hielt die Lanze in der rechten Hand im Anschlag. Er lugte über den Schild, während er sich an die geöffnete Falltür wagte. Dort unten, im Dämmerlicht, streckte Gerold ihm das Schwert entgegen. Die Schwertspitze vibrierte vom Zittern der Hand.

Der ist am Ende, dachte Wulfhardt. Er nahm den Helm ab. Abendluft kühlte sein Gesicht, das sich unter dem Metallschutz erhitzt hatte. Die Kettenglieder, die den Nacken schützen sollten, klimperten. „Sieh an, der Bastard meines Bruders.“

Gerolds Schwertarm versagte für einen Augenblick die Arbeit. Er sank.

Wulfhardt lachte. Ausgerechnet Gerold, Liebling des Grafen und der Mädchen, ausgerechnet er hatte Angst. Gerold war Wulfhardt nie geheuer gewesen: Da war diese absonderliche blonde Strähne, sie zog sich über der Stirn mitten durch die hellbraunen Haare. Und dann seine Angewohnheit, mit der Franziska, einem Bauernwerkzeug, auf die Jagd zu gehen! Doch jetzt hielt er keine Franziska in seinen Händen, und in seinen hellblauen Augen spiegelte sich Entsetzen.

Gerold reckte ihm das Schwert wieder entgegen. Die Schwertspitze berührte das über ihm baumelnde Seil, mit dessen Hilfe man sich aus dem Gefängnis zog. Das andere Ende des Seils war neben Wulfhardt an einen Holzpfosten geknotet.

Wulfhardt beugte sich hinunter und griff das Seil. Er wartete, bis Gerold merkte, dass Wulfhardt ihm seine einzige Möglichkeit nahm, das Gefängnis zu verlassen. Erst als Gerolds Hand nach oben zuckte, um das Seil zu fassen, zog Wulfhardt es hoch. „Leb wohl, Neffe.“ Er warf das Seil neben den Holzpfosten und schloss die Falltür.

Wulfhardt drehte sich zu seinen Reitern um. Zwei von ihnen hatten Fackeln entzündet. Er nickte. „Zündet den Saal an!“

Das Reetdach entflammte sofort, bald fraß sich das Feuer durch das Flechtwerk an der Außenwand und schließlich in die hölzernen Pfosten, die Wände und Dach trugen. Die Menschen, die aus dem Saal brachen, rannten in die Schwerter der Reiter. „Tötet jeden!“, rief Wulfhardt seinen Reitern zu. „Niemand darf entkommen!“ Im Westen färbte sich der Himmel blutrot. Wulfhardt strich sich über den lang herabhängenden Schnurrbart, während seine Augen einer Magd folgten, die mit brennenden Haaren aus dem Saal rannte und kreischte. Er erinnerte sich, dass er in diesem Saal bei der Abendtafel nie an der Stirnseite hatte sitzen dürfen. Der Platz dort war für seinen Bruder reserviert gewesen. Aber der Pfeil, den er seinem Bruder in die Brust geschossen hat, hatte alles verändert. Ein süßes, befriedigendes Rachegefühl durchfuhr ihn bei dem Gedanken daran.

Kurz dachte er an all die Demütigungen, die er erfahren hatte, während er mit seinem Bruder zusammen hier am Hofe aufgewachsen war. Zum Beispiel an die Schlacht gegen die Baiern vor vielen Jahren, als Vater noch geherrscht hatte. Sowohl Wulfhardt als auch sein Bruder hatten jeweils eine eigene Einheit befehligt. Plötzlich war er von Feinden eingekreist gewesen, hatte Vater ihm doch die unerfahrensten Leute unterstellt. Ausgerechnet sein Bruder hatte ihn aus der Umklammerung der Feinde befreit und dafür das Lob seines Vaters bekommen. Wulfhardt hatte sich − welch eine Demütigung! – anschließend sogar bei seinem Bruder für die Hilfe bedanken müssen. Hätten sie ihm nur einen Moment länger gegeben, so wäre er selbst in der Lage gewesen, sich zu befreien. Als ob sein Bruder nur darauf gewartet hätte, die Situation für sich zu nutzen.

Und das war nur der Gipfel eines ganzen Berges voller Demütigungen, unter dem seine Eltern und sein Bruder ihn in all den Jahren begraben hatten. „Dein Bruder konnte das schon in deinem Alter.“ Wie oft hatte er diesen Satz von seinem Vater oder dem Priester hören müssen, der ihm Schreiben und Lesen beibrachte?! Oder seine Mutter, die oft ihr Bedauern darüber äußerte, mit dem zweiten Sohn nicht so viel Glück gehabt zu haben wie mit dem ersten. Natürlich nur, wenn sie dachte, dass er es nicht mitbekäme.

So hatte es ihn nicht gewundert, dass Vater ihm im Testament nur die Bischofswürde zugesprochen hatte. Damit war Wulfhardt verdammt gewesen, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen und jeden Tag einen Mann aus einem unbedeutenden Stamm zu ehren, der in einem Stall geboren und wie ein Verräter ans Kreuz geschlagen worden war. Sein Bruder dagegen war zum Grafen ernannt worden. In seinem Letzten Willen hatte Vater ihm zu verstehen gegeben, dass er nur Messen lesen konnte, mehr nicht. Dennoch hatte es auch hier sein lieber Bruder verstanden, die Wunde noch tiefer zu reißen. Denn im Ton unendlicher Großherzigkeit hatte er vor dem versammelten Grafenhof verkündet, er werde den Letzten Willen des Vaters respektieren und seinen Bruder in das Bischofsamt einführen. Damit hatte er ihn zum Bischof von seinen Gnaden degradiert, trotzdem hatten die Menschen diesen Heuchler für seine Großzügigkeit gepriesen. Nur Mutter nicht. Sie hatte es für einen Fehler gehalten, Wulfhardt auch nur zum Bischof zu ernennen. Zum Glück war sie vor zwei Jahren gestorben. Natürlich hatte Wulfhardt sich seine Freude nicht anmerken lassen, sondern an ihrem Grab eine Lobrede auf sie gehalten, die einige der Frauen sogar zu Tränen gerührt hatte.

Um ihn vollends dem Spott der Meute auszuliefern, hatte sein lieber Bruder ihn vor wenigen Tagen auch noch der Herrschaft des Bischofs von Rom unterstellen wollen; und das nur aus Dankbarkeit gegenüber Walburga, der Äbtissin des nahegelegenen Klosters, nachdem sie mit einem Dämonenzauber dessen Sohn Gerold geheilt hatte. In welch unwürdige Abhängigkeit wäre diese Grafschaft geraten! Es war der Tropfen gewesen, der das Fass in Wulfhardt zum Überlaufen gebracht hatte.

Zum Glück hatte er schnell handeln können. Das verdankte er der Tatsache, dass er in den letzten Jahren − unbemerkt vom neunmalklugen Bruder − das Ohr des bairischen Herzogs Tassilo gesucht und gefunden hatte. Tassilo wartete nur auf eine Gelegenheit, die Gebiete zurückzuerobern, die Baiern im Krieg vor vierzehn Jahren an das Fränkische Reich verloren hatte. Jede Schwächung eines fränkischen Grafen kam ihm zupass. Deshalb hatte er nicht gezögert, als sich Wulfhardt vor zwei Tagen bewaffnete Reiter von ihm erbeten hatte, um den Hof seines Bruders zu überfallen. Und hier waren sie: Der unbewachte Grafenhof samt seiner Bewohner war eine leichte Beute gewesen.

Wulfhardt rief sich selbst zur Ordnung. Er wusste, dass er seine Gedanken nicht an die Vergangenheit verschwenden durfte, sondern dass er sie auf die Aufgaben richten musste, die vor ihm lagen: Der nächste Schritt seines Plans sah vor, die Schuld für den Überfall auf andere zu lenken. Nur wenn ihm dies gelänge, würde der König ihn zum Grafen ernennen. Er hatte alles genau durchdacht. Und diese Pläne würde Gerold bestimmt nicht durchkreuzen, dort unten im Verlies, wo er verhungern würde.

Wulfhardt bezahlte die Reiter aus der gräflichen Schatztruhe und entließ sie. Er warf sich einen schwarzen Mantel über, der auf der rechten Schulter mit einer goldenen Spange geschlossen wurde.

Barfuß, auf einen Stab gestützt, wanderte er an den nächsten Tagen durch die umliegenden Dörfer. Mit tränengefüllten Augen und stockender Stimme erzählte er, welch furchtbare Zerstörung er am Hof seines lieben Bruders vorgefunden habe. Er lud jeden ein, sich ihm anzuschließen, um seine Familie zu Grabe zu tragen. Nach einer Woche kehrte er mit Hunderten trauernder Männer und klagender Weiber an den Grafenhof zurück.

Zwar missfiel es Wulfhardt, dass sein Bruder so beliebt beim gemeinen Volk war, dennoch frohlockte er bei dem Gedanken, diese Beliebtheit für seine Zwecke auszunutzen.

Als er mit der Menschenmenge den Hof erreichte und einen beiläufigen Blick auf die Falltür warf, die zum Gefängnis führte, erstarrte er: Sie war offen, mit einem faustgroßen Loch in der Mitte, im Verlies von Gerold keine Spur. Warum nur hatte er ihn nicht gleich mit seiner Lanze durchbohrt? Zum Glück schrieben die Menschen seine Verwirrtheit der Trauer um seine Familie und den vielen Leichen auf dem Grafenhof zu. Erst am nächsten Morgen konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Er nahm sich vor, dennoch alles so durchzuführen wie geplant. Er ließ Gräber ausheben für die Grafenfamilie. In Gerolds Grab ließ er eine der verkohlten Leichen aus dem Großen Saal legen. Er hielt die Trauerrede am Grab des Bruders. Es fiel ihm leicht, den trauernden Bruder zu spielen, denn während all der Jahre am Grafenhof hatte er gelernt, sich zu verstellen und seinen Groll zu verstecken. Und so setzte er nun ein Gesicht auf, in das die Traurigkeit tief eingegraben war, und er wählte Worte voller Wehmut. Dies alles, während er jeden Moment befürchtete, Gerold könnte vor die Trauernden treten und ihn den Mörder seiner Familie schimpfen.

Aber Gerold tauchte nicht auf, auch nicht, als Wulfhardt nach der Beerdigungsrede die Schuldigen für diesen Überfall anklagte: „Die Heiden waren es!“, rief er, scheinbar vor Rachedurst bebend. „Dort, auf diesem Hügel im Osten, verstecken sie sich im Wald. Ihr wisst es, ihr braven Männer. Sie treffen sich an Quellen und Lichtungen, wo sie ihren Dämonen opfern, anstatt den Herrn Jesus anzubeten.“ Er riss die rechte Hand nach oben, von dort baumelte ein Halsband herunter, an dem ein Tierknochen hing. „Und die Opfertiere tragen sie mit sich herum! Wie dieses, das ich gleich hier am Grafenhof, inmitten unserer Toten gefunden habe!“ Wütend heulte die Menge auf. Wulfhardt kannte sie: Den Heiden hatten sie schon lange nicht mehr über den Weg getraut. „Ihr guten Menschen! Ihr wisst: Wer den Grafenhof überfällt, kann auch jedes andere Dorf überfallen!“

Männern stieg die blanke Angst in die Augen, Frauen hoben klagend die Arme gen Himmel.

„Doch wir können ihnen ein Ende machen, jetzt und für immer!“ Wulfhardt reckte sein Schwert in die Höhe. „Wer folgt mir?“

 

„Wir!“, riefen die Männer. „Wir folgen dir!“

Wulfhardt verteilte Schwerter an die erzürnte Meute und marschierte mit ihnen durch den Wald bis zu einer Lichtung. Die Schatten der die Lichtung umsäumenden hohen Buchen und dichte Wolken hielten die Sonne zurück. Fahles Licht fiel auf drei windschiefe Hütten. Die Weizenfelder rund um die Hütten waren abgeerntet bis auf eines, in dem drei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder ihre Sicheln in immer gleichen Bewegungen gegen die Halme führten. Ein weiterer Mann schüttete Abfälle in einen von grunzenden Schweinen umsäumten Trog.

Einer der Männer, die im Weizenfeld standen, drehte sich zu Wulfhardt um, wahrscheinlich hatte er ihn im Augenwinkel gesehen. Er musterte die Schwerter in den Händen von Wulfhardt und seinen Männern. Ein Schreckensruf verständigte seine Nebenleute und die Heiden in den Hütten.

Die Heiden rannten davon.

Wulfhardts Männer verfolgten sie bis tief in den Wald, beinahe bis zum Kloster Heidenheim, und schleiften sie zurück auf die Lichtung.

Wulfhardt musterte die Heiden. Zwar drohte er in seiner Rolle als Bischof oft den Ungläubigen mit Teufel und Hölle, doch im Grunde hatte er nichts gegen ihre Zeichendeutungen und Totenbeschwörungen einzuwenden, denn dadurch, dass Vater nur halbherzig gegen die Rituale der Vorfahren, die auch unter den Getauften noch vollzogen wurden, vorgegangen war, hatte er viele Möglichkeiten kennengelernt, den Willen der Götter zu erkunden und zu beeinflussen. Wie viel mehr Nutzen brachte ihm das im Gegensatz zum schwachen, gekreuzigten Christengott! So prüfte er stets selbst, ob göttliche Zeichen seine Vorhaben guthießen. So hatte er einen hellen Feuerstrahl am Himmel blitzen gesehen, gerade als er den Plan zum Überfall auf den Grafenhof geschmiedet hatte. Sofort hatte er die Botschaft der Götter erfasst: Er sollte Feuer über den Grafenhof bringen.

Nein, er verdammte nicht die Riten der Heiden. Vielmehr missfiel ihm, dass sie sich seiner bischöflichen Macht entziehen wollten.

Die meisten der beinahe zwanzig Heiden blickten furchtsam auf die grimmigen Männer, Mütter hielten schützend die Arme um ihre Kinder. Ein Mann jedoch verschränkte die Arme vor der Brust und glotzte Wulfhardt trotzig an. Auf diesen Mann schritt Wulfhardt zu und drückte ihm die Klinge an den Hals. „Gestehe! Wer von euch hat meinen Bruder ermordet?“

Der Mann rührte sich nicht, nur den Kopf wendete er leicht, sodass die dunklen Augen unter den buschigen Brauen Wulfhardt erfassten. „Niemand.“

„Pah! Warum seid ihr davongerannt, wenn ihr nichts zu befürchten habt, he? Ihr habt euch an meinem Bruder gerächt! Weil ihr auf sein Geheiß jeden Sonntag in der Kapelle das Kreuz anbeten musstet! Aber eure heidnischen Götter, die wollt ihr weiter ehren. Gibst du zu, dass ihr ihnen opfert?“

Der Mann ließ einige verräterische Augenblicke verstreichen, dann sagte er: „Nein.“

Die Ungerührtheit des Mannes überraschte Wulfhardt und steigerte das Verlangen, ihn zu demütigen. So, wie er früher gedemütigt worden war. „So seid ihr Heiden: mordet und lügt. Ihr seid mit dem Bösen im Bunde.“

Ein Mädchen löste sich aus den Armen der Mutter, rannte zum Mann und klammerte sich an sein Bein. Schwarze, zerzauste Haare fielen auf die Schultern herab, mit dreckigen Fingern bohrte es in der Nase.

Wulfhardt packte das Mädchen und zerrte es zu sich. Der Mann stürzte vor, um es seinem Griff zu entreißen, doch Wulfhardt hielt ihm die Klinge vor das Gesicht. Bald waren seine Männer zur Stelle und drehten dem Mann die Arme auf den Rücken.

Wulfhardt packte das Mädchen am Haarschopf und ritzte einen Kratzer in ihren Hals. „Nun, du kennst die Frage: Wer hat meinen Bruder ermordet?“

„Niemand, Herr, ich schwöre es. Mit dem Mord haben wir nichts zu tun.“

Wulfhardt holte mit dem Schwert aus. Der Mann schrie auf, die Klinge sauste auf das Mädchen nieder, mit einem Streich schnitt er den Haarschopf ab.

Kreischend rannte das Mädchen weg, doch Wulfhardt bekam es zu fassen.

Der Mann fiel mit den Knien in den Dreck und faltete die Hände. „Bitte, Herr, glaubt mir doch …“

„Du hast die Wahl!“, donnerte Wulfhardt. „Entweder du deutest auf den Mann, der meinen Bruder ermordete, oder der nächste Schwertstreich trifft den Hals!“

Ein Rotkehlchen trällerte einsam über die Lichtung. Wulfhardt hob den Schwertarm, der Heide hob flehend die Hände. Da mischte sich plötzlich seltsames Gemurmel in das Trällern: Eine Prozession verschleierter Frauen erreichte die Lichtung. Acht Nonnen hielten die Handflächen zum Gebet aneinandergepresst. Die vorangehende Nonne murmelte etwas; ihre Worte klangen wie die lateinischen Formeln, die er während der Messen sprechen musste, ohne sie zu verstehen. Die folgenden Nonnen murmelten die Worte nach. Bange fragte sich Wulfhardt, ob sie mit diesen Worten Mächte anriefen, die er nicht kannte. Eine der Frauen − die kleinste − trug keinen Schleier, sondern ein Kopftuch, an dessen unterem Rand Locken hervorspitzten. Sie sah auf den ersten Blick aus wie ein Kind. Doch auf den zweiten Blick ließen die Locken eine Wildheit erahnen, die nicht mit dem züchtigen Kopftuch harmonierte, ebenso wenig wie die sinnlich geschwungenen Lippen. Wulfhardt starrte sie an. Die Wangenknochen überzog eine feine Röte, wahrscheinlich war sie Hals über Kopf durch den Wald gehetzt.

Wer hatte sie gerufen?

Noch immer Gebete murmelnd, schaute die Nonne auf und bemerkte seinen Blick. Hastig wandte er die Augen von ihr ab. Zusammen mit den anderen Nonnen blieb sie drei Schritte vor ihm stehen, nur die vorderste kam zu ihm heran. Ihr Köpfchen verschwand beinahe unter dem Schleier, und der Umhang fiel an ihr hinab wie an einer Vogelscheuche; an ihrem Gürtel hingen viele kleine Amphoren. Sie bekreuzigte sich und trat zwischen ihn und das Mädchen ohne Haarschopf. Sie sprach fast im Flüsterton in seiner Sprache, aber mit fremdem Einschlag: „Ich, Walburga, Äbtissin des Klosters von Heidenheim, entbiete Euch meinen Gruß, edler Bischof Wulfhardt. Ich komme eiligen Schrittes, um Euch vor einem entsetzlichen Fehler zu bewahren. Ich war oft zu Gast bei den guten Menschen, die hier jahraus, jahrein die Felder pflügen, und habe ihnen das Evangelium Jesu Christi verkündet. Sie sind friedfertig, bald werden sie die heilige Taufe empfangen. Wahrlich, das Samenkorn, welches ich unter diesen arbeitsamen Menschen aussäte, fiel auf gutes Land und wird hundertfach Frucht bringen.“

Wulfhardt gewahrte, wie lächerlich die Situation war: Ein paar Nonnen wollten ihn aufhalten! Er deutete mit dem Schwert auf die Dorfbewohner. „Der Mörder meines lieben Bruders versteckt sich unter diesen Heiden! Sie haben den Machtsitz meiner Familie überfallen, mitten in Friedenszeiten!“ Die Stimme kippte, so stark schien es ihn zu schmerzen. Als er sich gesammelt hatte, rief er: „Und nun verschwindet, damit die Schwerter für Gerechtigkeit sorgen!“

Walburga bekreuzigte sich. „Eure aufrichtige Trauer rührt mein Herz, edler Bischof Wulfhardt. Möge Gott, der Herr, Euch dies dereinst vergelten. Indessen trübt der Schmerz Euer Urteil. Ich bitte Euch, lasst ab von diesen unschuldigen Geschöpfen Gottes und handelt, wie die Schrift es uns lehrt: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Wulfhardt tat die Bemerkung mit einem Schwertstreich durch die Luft ab. „Ihr glaubt, Ihr kennt die Heiden, weil Ihr sie ein Mal besucht habt. Aber die Heiden sind falsch und tückisch.“ Er deutete zum Himmel. „Mein Bruder ist mein Zeuge! Was wisst Ihr schon. Ihr seid über das Meer gesegelt, dort drüben auf eurer Insel mögt Ihr Euch auskennen. Jedoch von der Gegend hier habt Ihr keine Ahnung. Die Ungläubigen muss man bekämpfen, sie kennen nur die Sprache des Schwerts! Diese Schänder sollen gefesselt und der ewigen Verdammnis unterworfen sein, in der untersten Hölle sollen sie schmoren und mit dem Teufel und allen Gottlosen leiden!“

Die Nonne mit dem Kopftuch trat neben Walburga. Am Akzent merkte Wulfhardt, dass sie auch von dieser Insel im Norden kam. „Der heilige Paulus war ungläubig, bevor Jesus ihn bekehrte, genau wie diese Menschen. Paulus hat Erbarmen gefunden für seine Zeit im Unglauben.“

Das Gerede der Nonne regte ihn auf. Mit ihrer verhüllten Wildheit hatte sie ihn abgelenkt, nur ihretwegen hatte er sich überhaupt in dieses Gespräch verstrickt. Er betastete das Säckchen an seinem Gürtel mit den giftigen Eibennadeln darin, mit denen man Probleme – wie diese Nonne – aus der Welt schaffen konnte. Er richtete das Schwert auf sie. „Ihr wollt mich belehren, dabei kommt ihr von weit her und gehorcht einem Bischof aus einem fremden Land. Aber wir brauchen keinen Bischof aus Rom, der uns reinredet. Ihr preist euch als Missionare, dabei bekehrt ihr nur Christen zu Christen und schützt die Ungläubigen.“

Die Nonne wich nicht vor dem Schwert zurück. „Euer Bruder war anderer Meinung. Er wollte dem Ruf Jesu folgen und sich der einen, römischen Kirche anschließen.“

Wulfhardt merkte, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf die Diskussion einzulassen. Doch nun war es zu spät. Die Männer, die er auf die Lichtung geführt hatte, folgten dem Disput mit in die Hüften gestemmten Händen. Er ging zum Angriff über. „Mit eurem Hexenwerk habt Ihr meinen lieben Bruder geblendet! Aber er hatte sich längst besonnen. Nie hätte er sich dem Bischof von Rom unterworfen!“ Er deutete gen Himmel, wo sich die Wolken verdunkelten. „Dafür rufe ich meinen Bruder zum Zeugen an!“

Walburga öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Nonne mit dem Kopftuch kam ihr zuvor: „Die Nachricht der Gräueltat erfüllte unsere Herzen mit Trauer um all die guten Menschen, die das Schwert der Räuber aus dem Leben gerissen hat. Wir beteten für ihre Seelen, auf dass sie Ruhe finden in Ewigkeit. Doch wer ist es, der für das jähe Ende ihrer Leiber hier auf Erden verantwortlich zeichnet?“ Über ihrer feinen Nase gruben sich tiefe Falten in die Haut. „Könnte es derjenige sein, der aus ihrem Tod den größten Vorteil zieht? Sagt, gedenkt Ihr, die Stellung Eures Bruders als Graf einzunehmen? Gott sei Euch gnädig, Bischof Wulfhardt, denn seid gewiss: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“

Wulfhardt schnappte nach Luft, fassungslos darüber, dass diese Nonne mit dem Kopftuch ihm und seinem Schwert die Stirn bot − mit nichts anderem als Worten! Er zeigte mit der Schwertspitze auf die Nonne und schrie außer sich: „Bleib mir gestohlen mit deinen Weiberfabeln! Ich liebte meinen Bruder! Und nun tretet zurück, bevor der Zorn der Streiter Gottes sich auch gegen euch richtet!“

Sechs Nonnen wichen zurück, nur Walburga und die Nonne mit dem Kopftuch rührten sich nicht. Immer noch pressten sie die Handflächen wie zum Gebet aneinander. Mit durchdringender Stimme hob Walburga an: „Gott hat seine Augen und Ohren überall, er sieht und hört alles! Auch zu dieser Stunde blickt er auf uns herab. Er sieht jede Missetat. Und er wird jeden für seine Missetaten dereinst bestrafen, ebenso wie er diejenigen, die ohne Schuld sind, belohnen wird.“ Sie reckte den Arm nach oben und streckte einen knorrigen Zeigefinger gen Himmel. „Seht Euch vor, edler Wulfhardt, denn bald wird ER seine Stimme erheben!“

Ein Donnerschlag zerriss in diesem Moment die Luft.

Wulfhardt fuhr zusammen. Der Schreck lähmte seine Glieder und Gedanken.

Nur die gemurmelten Gebete der Nonnen durchbrachen die Stille.

Wulfhardt wandte sich an seine Männer. „Streiter Gottes …“ Er merkte, dass die Stimme zitterte, und vergaß, was er sagen wollte. War der Donnerschlag, von Walburga vorhergesagt, nicht ein eindeutiges Zeichen der Götter? Zoll für Zoll dämmerte ihm die bittere Erkenntnis: Die Götter verwarfen seinen Plan, stellten die Heiden unter ihren Schutz.

Platzregen setzte ein. Er wusste, er hatte verloren. Wulfhardt wollte das Schwert in die Scheide stecken, da ging über dem nahen Wald ein weiterer Blitz nieder. Wieder zuckte er zusammen, die Schwertklinge verfehlte die Scheide. Hastig versuchte er es ein zweites Mal − und verfehlte die Scheide erneut. Er spürte alle Blicke auf sich gerichtet, die Ohren brannten vor Scham. Er fühlte sich wie nach all den Demütigungen am Grafenhof. Vor allem die Worte der Nonne mit dem Kopftuch klangen ihm in den Ohren: Richterstuhl Christi … Damit jeder seinen Lohn empfange …. Ohne es zu wollen, starrte er sie an. Sie verwandelte sich vor seinen Augen zu einer fauchenden Riesenkatze, die ihre scharfen Zähne zeigte. Er selbst kam sich vor wie ein Mäuschen, das vor ihr davonlief, aber das Mauseloch nicht fand.

 

Immer noch starrte Wulfhardt sie an. Jetzt befeuchtete er die Lippen, während sich die von hervortretenden Adern überzogenen Hände um den Schwertgriff krallten. Er wandte sich ab, Michal atmete auf. Jetzt glückte es ihm, das Schwert zurück in den Gürtel zu stecken. Er schlich mit seinen Männern im Regen davon, nur mit den Ballen auftretend, wie ein Hund, der fürchtete, einen Bären aufzuschrecken.

Dieser Mann strahlte eine Finsternis aus, die sie erschaudern ließ: der schwarze Schnurrbart, dessen Enden nach unten zeigten, die Mähne aus schwarzen Locken, von denen einige in die Stirn hingen sowie der schwarze Mantel, auf dem, an einer Halskette befestigt, ein silbernes Kreuz prangte. Sonst erfüllte sie der Anblick eines Kreuzes mit Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, der für sie gestorben war. Doch dort, an der Brust dieses Mannes, kam es ihr vor wie eine Verhöhnung Gottes. Hatte Jesus nicht die Kinder Gottes gespeist? Wulfhardt dagegen hatte sie morden wollen wie König Herodes. Sie hatte einen Sieg gegen den Teufel errungen!, triumphierte Michal innerlich. Wäre sie nicht standhaft geblieben, wären all die guten Menschen hier Opfer des Schwertes geworden. Sie dankte Gott, dass Wido, ein junger Bursche von der Lichtung, den Häschern des Teufels entflohen war und sie, die Mägde Gottes, zu Hilfe gerufen hatte.

Michal fing den Blick von Aebbe auf, ihrer zwanzig Jahre alten Freundin. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst, die kornblumenblauen Augen weit aufgerissen.

Schon in ihrer angelsächsischen Heimat, dem Königreich Wessex, war Michal zusammen mit der zwei Jahre älteren Aebbe in der Klosterschule zu Wimborne auf den heiligen Kriegsdienst vorbereitet worden, wenngleich Aebbe oft, im Gegensatz zu Michal, der Eifer gefehlt hatte, dem Pfad der Tugenden zu folgen, den die heiligen Schwestern ihr gewiesen hatten. Michal mutmaßte, dass sich dieser Gegensatz durch ihre Elternhäuser begründete: Aebbe war das siebte Kind eines Gutsbesitzers, noch als Säugling hatten die Eltern sie in das Kloster gegeben und hatten ihr sodann keine elterliche Liebe mehr angedeihen lassen. Michal hingegen hatte zeitlebens mit ihrer Mutter und mit Walburga zwei herausragende Fürsprecherinnen Gottes an ihrer Seite gehabt, die sie, so lange sie denken konnte, auf die klösterliche Zucht vorbereitet hatten.

So schien es kein Wunder, dass Aebbe und sie in der Klosterschule getrennte Wege gegangen waren. Dies hatte sich jedoch bei ihrer Fahrt über das Meer, das die Südküste ihrer angelsächsischen Heimat von der Nordküste des fränkischen Königreiches trennte, geändert: Sie waren in einen tosenden Sturm geraten. Während die Wellen über die Reling geflutet waren und das Schiff hin und her geworfen hatten, hatten sie gemeinsam gebetet, bis der Sturm sich gelegt hatte.

Diese Erfahrung hatte zwischen ihnen das Band der Freundschaft geflochten. Seither steckten sie, wenn sich eine Gelegenheit ergab − was selten genug der Fall war −, die Köpfe zusammen und redeten.

Zusammen hatten sie nach der Überfahrt das Kloster Tauberbischofsheim erreicht, wo Walburga sie erwartet hatte, gemeinsam mit den anderen Nonnen, von denen die meisten bereits zwölf Jahre zuvor mit Walburga nach Franken gesegelt waren.

Doch sie sollten nicht lange in Tauberbischofsheim verweilen, denn nach drei Wochen hatte sie die Nachricht erreicht, dass Wynnebald, der Abt zu Heidenheim und Walburgas Bruder, bald zu seinem seligen Lebensende gelangen werde. Und so waren sie nach Heidenheim gelangt, wo Walburga das Erbe ihres Bruders angetreten hatte.

Die Heiden von der Lichtung warfen sich Walburga zu Füßen und dankten ihr, jedoch wehrte die Äbtissin ihre Danksagungen ab mit dem Hinweis, die Rettung sei nicht ihrem Verdienst zuzuschreiben, sondern allein der Liebe Gottes. Sie wandte sich zum Heimweg bei prasselndem Regen. Der Wind frischte mehr und mehr auf, er zerrte an Walburgas Umhang, sodass Michal fürchtete, diese schilfdünne Frau könnte davongeweht werden wie ein Laubblatt im Wind, doch stoisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, den Kopf geneigt, den Blick gesenkt, die Flächen ihrer Hände aneinandergelegt. Die Nonnen folgten ihr wie Küken einer Glucke, immer in die Abdrücke tretend, welche die hölzernen Sohlen von Walburgas Schuhen im durchweichten Waldboden hinterlassen hatten. Nur zurzeit der Sext hielten sie inne für ein Gebet, nach dem der Himmel die Schleusen schloss.

Auf einer Anhöhe traten sie aus dem tropfenden Wald, unter ihnen umgaben Heidenheims Häuser die Kirche, wo sie den Herrn sieben Mal am Tag und ein Mal in der Nacht priesen. Wynnebald, eifriger Knecht Christi, erster Abt von Heidenheim, Bruder Walburgas, hatte die Kirche aus Steinen einer verfallenen Römervilla errichtet. Im Süden trennte die Kirche ein kleiner Platz, auf dem jeden Montag Markt gehalten wurde, vom zweiten Steingebäude Heidenheims: dem Meierhof, der noch vor Wynnebalds segensreichem Wirken in Heidenheim erbaut worden war. Jetzt war der Markt verwaist bis auf zwei Frauen, die, vom Wynnebaldsbrunnen hinter der Kirche kommend, mit je zwei Wassereimern über den vom Regen durchweichten Platz stapften und tratschten. Da öffnete sich das hölzerne, oben in einem Halbkreis auslaufende Kirchenportal, und die Mönche traten nach Abschluss der Sext heraus. Goumerad, der Priester und Prior des Männerkonvents, drehte den Kopf in Richtung der Nonnen, die anderen Mönche bemerkten dessen Kopfbewegung und sahen ebenfalls zu ihnen herauf. Doch hastig, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, wandten sie sich ab und gingen ihrer Wege zu den Häusern des Mönchsklosters, die sich nördlich der Kirche um den schlammigen Klosterhof gruppierten. Die Mönche durften nach der Sext lesen oder ruhen, und so schlenderten einige ins Refektorium, um zu lesen, die meisten allerdings in das Dormitorium, um zu dösen, wiederum andere ins Necessarium, um Wasser zu lassen.

Nebenan gingen die Bediensteten des Klosters in den Wirtschaftsgebäuden ihrem Tagwerk nach: Ein Fuhrwerk lud am Stadel Heu ab, eine Magd stapfte aus dem Kuhstall, in jeder Hand eine Milchkanne. Der Fuhrknecht lehnte sich gegen den Wagen, folgte der Magd mit den Blicken und rief ihr etwas nach, woraufhin diese den Kopf in den Nacken warf und lachte. Törichtes Gelächter, dachte Michal, froh um die Nonnenklausur, die, wie Walburga stets betonte, ihren Sinn weglenkte von weltlichen Sorgen und Geschäften, hin zu einer Lebensform, die den göttlichen Anordnungen entsprach.

Die Nonnen wanderten die Anhöhe hinunter zu einer Brücke, die sie über den Gießbach führte, in dem weiter oben das oberschlächtige Mühlrad plätscherte. Hier hatten die Nonnen ihren Kräutergarten angelegt. Im Frühjahr blühte und duftete und summte es von all den Bienen, die den süßen Saft des Nektars schlürften und an den Beinen und am ganzen Körper zu den Bienenkörben trugen. Jetzt hingegen, im September, schwirrte nur eine einzige Biene über verblühte Pflanzen von Huflattich, Enzian, Holunder und Mohn.

Auf Latein trug Walburga den Nonnen Arbeit auf. Sogleich besetzte Amalberga die Klosterpforte, Fideswide und Aebbe webten im Genitium, Truthgeba und Hilda ernteten Spinat und Sellerie, und Eadburga goss eine Kerze für die Kirche. Michal wollte sich in die Schreibstube begeben, aber Walburga hielt sie zurück. „Einen Moment, Hugeburc!“

Michal erschrak. Mit ihrem Geburtsnamen Hugeburc redete Walburga sie vornehmlich an, wenn sie ihr Verhalten rügen wollte. Sonst nannte auch Walburga sie nach ihrem Rufnamen Michal, den Schwester Eadburga ihr einst gegeben hatte, nach der jüngsten Tochter von König Saul, war doch auch Hugeburc die jüngste und kleinste der Nonnen in Heidenheim.