Musikdramaturgie im Film

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1.2 Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen

Ohne die Berücksichtigung musikästhetischer Prämissen kommen Untersuchungen zur Musikdramaturgie im Film an sehr enge Grenzen, denn Musikästhetik berührt die allgemeinen Anschauungen zur Musik, ihren »Inhalt« und ihre Beschaffenheit. Diese Grundvorstellungen prägen die Komposition und Aufführung von Musik, ihre Nutzung im Alltag und bewusst oder unreflektiert auch den Einsatz und die Rezeption von Musik im Film. Musikästhetische Positionen werden durch gesellschaftliche und technologische Veränderungen (insbesondere durch digitale Medien) und die damit einhergehenden filmästhetischen Innovationen ständig beeinflusst. Musikdramaturgie im Film wird also sowohl von (auf unterschiedlichen Wegen) tradierten Vorstellungen als auch sich neu entwickelnden Positionen, Musik-Erfahrungen und den damit zusammenhängenden rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen beeinflusst.

Die im folgenden Kapitel ausgebreiteten Überlegungen dienen als Grundlage dafür, den Begriff der filmischen Musikdramaturgie auch von musikästhetischer und musiktheoretischer Seite her zu untermauern und geeignete Termini aus diesen Fachgebieten zu erschließen. Einigen grundlegenden Themen der Musikästhetik soll daher nachgegangen werden, insbesondere dem, was musikalische Poesie, Programmmusik und Ideenkunstwerk bedeutet. Dabei stellt sich die Frage, welche poetischen oder narrativen Eigenschaften Musik ohne einen expliziten außermusikalischen Kontext schon in sich trägt und potenziell in einen Film einbringen kann. Der bereits über viele Jahrhunderte geführte Diskurs zur »musikalischen Poesie« und zur Programmmusik enthält in unterschiedlicher Weise Aspekte oder Ausprägungen von Narrativität. Sie zeigen sich in außermusikalischen Bezügen autonomer Musikstücke, die – genauso wie Opernmusik, Charakterstücke oder Programmmusik – als Vorbilder für die Komposition von Filmmusik gelten können oder selbst als Filmmusik eingesetzt wurden.

Konkretere Fragen zu Aspekten musikalischer Poesie und narrativen Implikationen von Musik, die für einen Film bedeutsam werden können, sollen sich auf Metaphern für musikalische Analyse und Form sowie auf die Klangsemantik musikalischer Topoi richten. Aus dieser Perspektive kann auch die schon oft gestellte Frage untersucht werden, inwieweit filmmusikalische Klischees (stereotypisierte Kompositions- und Rezeptionsweisen der musikalischen Gestaltung eines Films) auf außer- oder vorfilmischen Erfahrungen mit Musik basieren.

Musiktheorie und Musikwissenschaft bewegen sich derzeit in einem lebendig diskutierten Feld, das teils von alten und neuen Interpretationen musikästhetischer Konzepte und Theorien zur Narratologie beeinflusst ist. Es ist nicht abschließend zu klären, ob dies zu einer innovativen Methodik führt oder eine terminologische Fundgrube offeriert. Innere musikalische Zusammenhänge, die Entfaltung musikalischer Ideen und eine unterstellte Wirkungskalkulation lassen sich aber durchaus vergleichen mit Handlungszusammenhang, Handlungskomposition und mit Motiven, die eine Handlung bzw. musikalische Prozesse voranbringen. Musikalische Komposition und Aufführung von Musik zielt wie in den narrativen Künsten auch auf die wirkungsvolle Entfaltung von Gestaltungsmitteln.

1.2.1 »Absolute« und autonome Musik als musikalische Poesie

»Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86)

Die Auffassungen zur »absoluten« Musik, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, wurden über lange Zeit und mit Vehemenz als positive (Hanslick) wie auch als abwertende Bezeichnung (Wagner) verwendet: einmal um Musik als höchste der Künste zu zeigen, da sie losgelöst von konkreten Bindungen zur Wirklichkeit existieren könne und so dem göttlichen Prinzip am nächsten stehe. Mit absoluter Musik könne die ideelle und emotionale Welt des Menschen im Vergleich zu anderen Künsten am universellsten ausgedrückt werden. Andererseits diente die Bezeichnung »absolut« dazu, der Musik die Erfüllung im »Gesamtkunstwerk« des musikalischen Dramas Wagner’scher Prägung abzusprechen.93 Um ästhetische Dogmen nicht weiter in der Filmmusikforschung fortzuschreiben, scheint es sinnvoll, für die folgenden Ausführungen eher von autonomer statt »absoluter« Musik zu sprechen. Ästhetisches und philosophisches Ziel der nicht selten auch dichtenden Komponistinnen und Komponisten des 19. Jahrhunderts war es in erster Linie zu erreichen, dass Musik als gleichrangig mit Dichtkunst und Malerei im System der Künste galt.

Hinter den Überlegungen zur Ebenbürtigkeit einzelner Kunstgattungen stand und steht vielleicht bis heute auch ein Gedanke, der generell abzuwägen versucht, in welchem Verhältnis die Kunst zur Unterhaltung bzw. dem Erkenntnisgewinn oder Verstehen der Welt dienen sollte. Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein beeinflussten die im 19. Jahrhundert entstandenen Vorstellungen zur Rolle der Musik für Individuum und Gesellschaft das Konzertleben, die Musikwissenschaft und nicht zuletzt die Filmmusikforschung. So hat Filmmusik, die als zweckgebundene Musik und nicht als Kunstform verstanden wurde, erst seit den 1970er Jahren ein breiteres Ansehen in der Musikwissenschaft erhalten, sodass sich eine Filmmusikforschung etablieren konnte.94

Der in der Musiktheorie und Musikwissenschaft existierende Begriff der »musica poetica« trägt das für die hier angestellten Überlegungen wichtige Wort Poesie in sich. Es lässt auf bereits bestehende Verbindungen zwischen Erzählkunst und Musik schließen. Während aber zwischen ca. 1500 und 1750 der Begriff lediglich die Kunst des Töne-Setzens, d. h. die praktische Kompositionslehre bezeichnete, vollzog sich Ende des 18. Jahrhunderts ein Wandel, der eine nahezu entgegengesetzte Bedeutung des Begriffs der musikalischen Poesie hervorbrachte. Musikalische Poesie wurde nun eigens zur Abgrenzung von der rein handwerklichen Kompositionspraxis verwendet, die man im technischen Sinne erlernen kann. Der »poetische« Teil des Kunstwerkes, das »Dichten« in der Sprache der Musik, wurde im Sinne der aufkommenden Genie- und Autonomieästhetik nur Wenigen zuerkannt, als nicht lehrbar bzw. erlernbar angesehen95 und galt nicht selten als »kunstvoller Regelverstoß« (Klassen 2006, S. 286). Musikalische Poesie rückt damit sehr nah an das, was als musikalische Erfindungskraft bezeichnet werden kann.

Um 1800 und in der Folge differenzierten sich die Ansichten zum Poetischen in der Musik unter dem Einfluss von Dichtern wie Jean Paul und Philosophen wie Tieck und Hegel nochmals. Musikalische Poesie stand nun im Gegensatz zum Prosaischen, dem Trivial-Konkreten der Wirklichkeit. Die einer Musik womöglich zugrunde liegende epische, lyrische oder dramatische Dichtung oder Beschreibung eines außermusikalischen Programms (weswegen häufig Programmmusik gesagt wird) wurde als »historisch« tituliert und darf nicht mit musikalischer Poesie verwechselt werden, die von Programmatik befreit sein sollte. Ein Zuwachs an musikalischer Substanz konnte erwachsen, wenn außermusikalische Ideen in der Musik »weitergedacht« wurden. Erst dadurch charakterisiere sich poetische Musik, nicht aber durch die »Literarisierung« (Dahlhaus 2003/GS5, S. 150).

Schildernde Tongemälde, also Werke mit illustrierender, nachzeichnender Musik, können aus dieser Sicht nicht als Formen musikalischer Poesie bezeichnet werden.96 Dies ist hier von Bedeutung, da solche schildernden, illustrierenden und literarisierenden Musikstücke eine Quelle für Filmmusik waren. Musikstücke, die im Film als Zitat erkannt werden, sind dagegen solche, die zum »Weiterdenken« anregen können. Sie bereichern den Film ideell.

Der Begriff der musikalischen Poesie, wie er ab dem frühen 19. Jahrhundert verstanden wurde, ist im Detail mehrschichtig. Auf der einen, musikhistorisch früheren Seite steht er für eine Formästhetik der Instrumentalmusik – dabei mit einer Akzentuierung des Thema-Begriffs und dem musikalischen Thema als Quelle der Entwicklung und Formgestaltung. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert hängt mit dem Thema-Begriff zusammen, dass im Verlauf einer Komposition der im Thema formulierte Hauptgedanke zergliedert und – einer Abhandlung gleich – durchgeführt wird. Dies hatte die ästhetische Emanzipation der Instrumentalmusik von der Vokalmusik und Opernästhetik des 18. Jahrhunderts zum Ziel. Auf der anderen Seite ist der Begriff musikalische Poesie immer noch von einem vorhandenen vokalen Ideal und einer vom Zeitgeist des 19. Jahrhunderts getragenen Gefühlsästhetik geprägt.

Der Thema-Begriff ist von dem im 18. Jahrhundert geprägten Melodie-Begriff zu unterscheiden.97 Dieser Melodie-Begriff gilt für Gattungen oder Sätze einer Sinfonie, die ohne Entwicklungsteile auskommen, d. h. liedhafte Musikstücke, die ohne die Verarbeitung ihres Themas bestehen können. Er schließt im 19. Jahrhundert das Ideal ein, dass der Ausdrucksgehalt einer instrumental erfundenen Melodie sich nicht in Worte oder Affektkategorien einordnen lässt. Gleich der gereimten Struktur in lyrischen Gattungen prägt die Melodie korrespondierende Abschnitte – Phrasen, Halbsätze und Kadenzen – aus. Damit reibt sich der Melodie-Begriff, der z. B. für die musikalische Anlage eines Adagios geeignet ist, mit dem Thema-Begriff, der auf musikalische Prosa abzielt und mit dem die Durchführungsarbeit in der musikalischen Komposition, z. B. in einem Allegro akzentuiert werden kann. Dass ein »Thema« auch formale Korrespondenzen zwischen Phrasen, Halbsätzen und Kadenzen wie eine »Melodie« zeigen kann, ist dabei nachgeordnet.

 

Wie in vielen anderen Fällen muss hier von der Gleichzeitigkeit verschiedener Tendenzen ausgegangen werden. Das Nebeneinander der verschiedenen Auffassungen zum idealen Aufbau eines musikalischen »Gedankens« – einmal mit Analogie zum Lyrischen, einmal mit Tendenz zur musikalischen Prosa – erweist sich als fruchtbar bei der Analyse musikalischer Gestalten und Prozesse. Für die Unterscheidung von Leitmotiv, Leitthema und modularen Kompositionstechniken in der Filmmusik komme ich darauf zurück (siehe Kap. 4.6.8 »Filmmusikalisches Leitmotiv«).

Die Musikästhetik Ende des 18. Jahrhunderts richtete sich in Abgrenzung zur im Barock noch populären Nachahmungsästhetik gegen die meist simplifizierende Nachahmung außermusikalischer Inhalte, also gegen einen referenziellen Bezug der Musik zur belebten und unbelebten Natur. Alles Gegenständliche und Objektive, die bloße Nachahmung von Wirklichkeit wurde um 1800 nicht nur von Heinrich Christoph Koch als »großer Fehler« tituliert:

»Allerdings kan die Tonkunst das Gefühl, welches die schlagende Nachtigall im Thale in der Seele des Dichters erweckte, vollkommen ausdrücken, ohne sich des lebendigen Ausdruckes zu bedienen. Und wenn er[,] der lebendige Ausdruck, nicht ein Bild, eine Figur, unterstützt, wenn er nur das Amt des Wörterbuchs verwaltet, so ist er ein Fehler, ein großer Fehler.« (Kaiser 2007, Koch: Versuch … I. Teil, Einleitung, S. 7)

Johann Jakob Engel unterschied in seiner Abhandlung zur »musikalischen Malerey« zwei Arten der Tonmalerei: die konkret nachahmende, gegenständliche und diejenige, die allgemeine Eigenschaften des Menschen abbildet. Die erste Art lässt außermusikalische Referenzen zu, für die zweite Art seien »tranzendentelle Ähnlichkeiten« (Engel 1780, S. 9) beim Zusammenspiel der beiden Sinne Hören und Sehen verantwortlich.

Für Filmmusik sind beide Arten relevant. Im Film ist das Wissen um die Effekte beim Zusammenspiel der Sinne, das »intermodale Assoziation von Ton und Bild« genannt wird, eine wichtige Grundlage der Tongestaltung (Flückiger 2001/2007, S. 137). Wenn Sichtbares einen Klang assoziiert oder umgekehrt ein Klang die visuelle Erscheinung mit Bedeutung auflädt, dann ist es möglich, den Klang dramaturgisch zu nutzen.98

Die musikalischen Romantiker99 entwickelten eine Musikästhetik, die musikalische Poesie als Nachahmung einer sich wechselseitig spiegelnden »inneren und äußeren Natur« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 546) ansahen. Die Bezeichnung »musikalische Poesie« dient zur Abgrenzung vom Handwerklichen und Alltäglichen und wird zur Kennzeichnung eines Bereichs der Freiheit sowie als Gegenbegriff zu Nachahmung eingesetzt.

»›Poesie‹ ist der zentrale Begriff in den Kritiken Robert Schumanns, die aus der Poetik Jean Pauls eine Musikästhetik entwickeln. Poiesis erscheint erstens als Gegenbegriff zu Mimesis, zur Kopie von Vorbildern und zur Nachahmung der Wirklichkeit. Zweitens betont Schumann den Kontrast zur ›Prosa‹, zum ›Trivialen‹, ›Flachen‹ und ›Gemeinen‹. Gegenüber prosaischer Empirie erscheint ›Poesie‹ als das ›Übersinnliche‹, gegenüber den Einschränkungen des prosaischen Alltags als Reich der ›Freiheit‹. Drittens ist das ›Poetische‹ der Widerpart zum ›Mechanischen‹ und ›Gemachten‹, sowohl zu bloßer Virtuosität als auch zur Borniertheit eines musikalischen Handwerks, das sich selbst genügt.« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 547)

Der Übergang von einer in diesem Sinne poetischen Musik zu einer Musik, die Bilder reiht und Vorgänge illustriert, ist allerdings in der Praxis fließend. Ein prominentes Beispiel zeigt, wie die beiden Tendenzen koexistieren:

Beispiel 1: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 6

Beethovens Partitur der 6. Sinfonie (F-Dur op. 68, 1807/1808, »Pastorale«), die auf einer szenisch-programmatischen Grundlage konzipiert ist, enthält den oft zitierten Vermerk zum 1. Satz: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey«. Und in Skizzen zur Sinfonie findet sich die Bemerkung: »Jede Mahlerey, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert.« Während sich im 1. Satz noch Charakterisierungen, Gedanken und Empfindungen entsprechend der ergänzenden Satzbezeichnung »Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande« als Ausdruck des Naturerlebnisses zu einem Ganzen formieren und Kuckucksruf-Imitationen oder Bordunklänge als Bauernleier-Imitation sehr zurückhaltend in Erscheinung treten, bedienen die Sätze 2 bis 4, teils auch der 5. Satz die ästhetische Tradition der schildernden pastoralen Sinfonie als »Tongemälde«.

Beispiel 2: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 5

Die im selben Konzert wie die »Pastorale« am 22. Dezember 1808 in Wien uraufgeführte, nicht weniger prominente 5. Sinfonie von Beethoven (c-Moll op. 67) vermag die romantische Idee von musikalischer Poesie vielleicht deutlicher zu zeigen, weil kaum eine Verwechslung mit Tonmalerei möglich ist. Hier wird eine übergeordnete Idee, die das musikalische Werk durchdringt, auf rein musikalische Weise charakterisiert, »weitergedichtet« und kommentiert. Im Kopfsatz erscheint zuerst das zum kulturellen Erbe gewordene Motto im alla-breve-Takt bestehend aus drei Achtelnoten nach einer Achtelpause auf einem Ton (g) und folgender Halben Note (es), dessen Gestalt sich als konstituierend für den gesamten Satz und die Sinfonie erweist. Dieses Motto steht – ganz im Gegensatz zu den schon im 19. Jahrhundert kolportierten Interpretationen – nicht für »das Schicksal, das an die Tür klopft«, sondern ist für Zeitgenossen sicherlich als Zitat verständlich geworden, welches politische Hintergründe betrifft und die zudem kaum offen ausgesprochen werden durften. Es geht um Anspielungen, die Beethovens Sympathien mit der französischen Revolution, damit verbundene Aktivitäten zur bürgerlichen Emanzipation und die Rolle Napoleons betreffen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Deutung des »Inhalts« der 5. Sinfonie in Richtung Beethovens bürgerlich-freiheitlicher Ideale für einige Menschen als konkrete Botschaft verstanden wurde.100 Die Tonartenwahl der 5. Sinfonie, das Motto im 1. Satz und zusätzlich seine musikalische Verarbeitung rekurrieren auf französische Revolutionsopern und nationale (französische) Festmusiken dieser Zeit.101 Beethoven kannte – wie Georg Knepler darlegt – mit sehr großer Wahrscheinlichkeit durch das Magasin de Musique à l’usage des Fêtes nationales die Revolutionsmusiken von Cherubini, Kreutzer und Méhul, so auch Cherubinis »Hymne auf das Pantheon« und den dort enthaltenen »Schwur der Horatier«. Dessen sprachliche Gestalt lieferte die musikalische Vorlage:

»Das ist nicht nur der Grundrhythmus der Fünften Sinfonie, der übrigens oft in der französischen Revolutionsmusik vorkommt, namentlich bei Méhul: die ganze Anlage mit der Erbreiterung des Rhythmus in den 4 ersten Takten – auch Beethoven wollte nach Schindlers Überlieferung das Anfangsmotiv etwas breiter genommen haben – mit Halt im 2. und 4. Takt, mit der komplementärrhythmischen Behandlung der Stimmen vom 5. Takt an, dies alles erinnert sofort an den Anfang der Fünften.« (Schmitz zitiert nach Knepler 1961, S. 554)

Beethovens 5. Sinfonie, aber auch die 3. (»Eroica«) und die 9. Sinfonie galten lange als idealtypische Beispiele poetischer und »absoluter« Musik, die aus sich selbst heraus »erzählt«, die aber trotz konkreter außermusikalischer Referenzen, d. h. zur Lebenswirklichkeit, weit genug davon entfernt ist, schildernde Illustration zu sein.

Die Überlegungen zur musikalischen Poesie zeigen, dass mit dem Begriff die von der Vokalmusik emanzipierte Instrumentalmusik gemeint ist. Ein referenzieller Bezug in der Musik beschreibt, anders als ein Klang bei der Tongestaltung im Film, nicht einen außermusikalischen Ursprung, sondern ist nur Impuls für die musikalische Arbeit. Instrumentalmusik rechtfertigt sich im Sinne der musikalische Poesie ästhetisch dadurch, »dass sie die Struktur einer thematischen Abhandlung annimmt; dass sie, wie Tieck es ausdrückt, ›für sich selbst dichtet und sich selber poetisch kommentiert‹«. (Dahlhaus 2003/GS5, S. 144). Musikalische Poetik ist keine Tonmalerei, Sujet- oder Affektdarstellung – mit anderen Worten: keine Nachahmung der äußeren Realität mit musikalischen Mitteln. Sie richtet sich nach innen und zeigt sich als Ausdruck der Gedanken, Kommentare und Charakterisierungen von außermusikalischen Erfahrungen, die sich in Musik zu einem sehr persönlichen Ganzen formen können. Als erstaunlich modern zeigt sich auch hier Aristoteles, der laut Fleischer die Wirkung von Instrumentalmusik hervorhebt, weil sie am ehesten Resonanzen zwischen äußerer und innerer Welt zu erzeugen vermag:

»Die Musik hat, wie die Poesie, zum Gegenstand der Nachahmung den Menschen, seinen Charakter. Sie ist mehr als jede andere Kunst zur Darstellung seelischer Eigenschaften befähigt, und diese ruft in dem Hörer die verwandten Seelenregungen hervor. Die ethische Wirkung der Musik erklärt Aristoteles aus dem Wesen der Musik selbst, ohne den Text heranzuziehen.« (Fleischer 1989, S. 634)

Damit ist die Frage nach dem Gegenstand oder »Inhalt« von Musik aufgeworfen, den Hegel in seinem Kapitel über die Romantischen Künste »gegenstandslose Innerlichkeit« nannte.

»Ihr [der Musik] Inhalt ist nicht das an sich selbst Subjektive, und die Äußerung bringt es gleichfalls nicht zu einer räumlich BLEIBENDEN [H. i. O.] Objektivität, sondern zeigt durch ihr haltungsloses freies Verschweben, daß sie eine Mitteilung ist, die, statt für sich selbst einen Bestand zu haben, nur vom Inneren und Subjektiven getragen und nur für das subjektive Innere dasein soll. […] die Töne klingen [wegen ihrer äußerlichen Flüchtigkeit, R. R.] nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird. Diese gegenstandslose Innerlichkeit in betreff auf den Inhalt wie auf die Ausdrucksweise macht das Formelle der Musik aus. Sie hat zwar auch einen Inhalt, doch weder in dem Sinne der bildenden Künste noch der Poesie; denn was ihr abgeht, ist eben das objektive Sichausgestalten, sei es zu Formen wirklicher äußerer Erscheinungen oder zur Objektivität von geistigen Anschauungen und Vorstellungen.« (Hegel 1818–29/1984, S. 262)

Konkreter wird es bei Musik, die an ein konkretes Sujet gebunden ist. Doch auch hier lässt sich ein Inhalt letztlich nicht genau bestimmen. Für die Beurteilung einer möglichen Narrativität von Musik ist der Unterschied zwischen den Materialarten (Töne und thematisiertes Sujet) wichtig.

»[…] ein Sujet ist kein Vorbild, das nachgeahmt wird, sondern ein Stoff, den der Komponist verarbeitet. Ein Tonvorrat und ein Sujet bilden […] zwei Arten von Material; und erst aus der Wechselwirkung von Sujet und ›tönend bewegten Formen‹ [eine Formulierung von Eduard Hanslick – R. R.] entsteht der musikalische Inhalt, den erzählen zu wollen einen Irrtum über seine Daseinsweise einschließt.« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 489)

Für einen Diskurs zur Ästhetik und Praxis der Filmmusik darf Richard Wagner weder vergessen noch überschätzt werden. Die Kunstform Film wird immer wieder in Beziehung zu seiner Idee vom »Gesamtkunstwerk« gesetzt, in welchem Musik mit den anderen Künsten erst zu ihrer vollen Entfaltung komme. Wagners Musik prägte zweifellos die Komposition und den Einsatz von Musik im Film. Er vertrat aber eine in sich widersprüchliche Musikästhetik. Schließlich sah er »absolute« Musik als eine Form an, der die Vollendung versagt bliebe, da sie von szenischer Aktion und Sprache losgelöst sei:

»[…] in ›Das Kunstwerk der Zukunft‹ (1849) und ›Oper und Drama‹ (1851) wird der […] Terminus ›absolute Musik‹ – oder das Wortfeld, das die Ausdrücke ›absolute Musik‹, ›absolute Instrumentalmusik‹, ›absolute Tonsprache‹, ›absolute Melodie‹ und ›absolute Harmonie‹ umfasst – zur zentralen Vokabel einer geschichtsphilosophischen oder geschichtsmythologischen Konstruktion, die auf das musikalische Drama zielt. ›Absolut‹ nennt Wagner – mit polemischem Akzent – sämtliche vom ›Gesamtkunstwerk‹ losgerissenen ›Teilkünste‹. […] ›Absolute Musik‹ ist nach Wagner eine ›abgelöste‹, von ihren Wurzeln in Sprache und Tanz losgerissene und darum schlecht abstrakte Musik. Wagner, der vom musikalischen Drama eine Wiedergeburt der griechischen Tragödie erhoffte, wandte sich zurück zu dem musikästhetischen Paradigma antiken Ursprungs, von dem sich im späten 18. Jahrhundert die romantische Metaphysik der Instrumentalmusik polemisch abgehoben hatte.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 25)

 

Ein Teil der Anziehungskraft von Wagners Musik zu außermusikalischen Inhalten des Films liegt wohl darin, dass diese im Bewusstsein davon komponiert wurde, mit szenischer Aktion und Sprache zusammenzuwirken. In einem Brief an Theodor Uhlig erklärt Wagner, dass das Wesenhafte der Musik (er bezieht sich dabei auf Beethovens sinfonisches Werk) auf einem Gegenstand beruhe, der zur Darstellung komme.102 Würde Musik nur aus musikalischen Elementen heraus entwickelt werden, ihr also keine »philosophische Idee« oder kein »dichterischer Gegenstand«103 zugrunde liegen, die den Anlass für die ausgedrückten Empfindungen gäben, wäre dies so, als würde ein Maler seinen Gegenstand aus der Farbe entnehmen.104