Musikdramaturgie im Film

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Merkwürdig negativ bezeichnet Smith mit »temporal manipulation« und »spatially displaced sound« (Smith 2009, S. 8ff. u. a.) die eigentlich selbstverständlichen Phänomene der filmischen Montage.67 Damit entfernt sich Smith noch mehr von der Dramaturgie der Filmmusik und den Forschungsfragen der Musikdramaturgie im Film, als es narratologische Konzepte bereits provozieren. Im Gegensatz zu Bordwell und Thompson, die diegetische Musik weiter differenzieren in internal diegetic (»subjective«) und external diegetic (»objective«) (Bordwell und Thompson 1979, S. 257), differenziert Winters – wie oben schon angedeutet – nicht die sogenannte diegetische Musik (fictional music), sondern die sogenannte non-diegetische Musik (extra-fictional music), und zwar in intra-diegetic, meta-diegetic und extra-diegetic (Winters 2010, S. 238). Nur Musik, die von den Protagonisten erzeugt oder gehört wird, ist diegetisch.68 Musik, die affirmativ ist, aber nicht von ihnen erzeugt oder gehört werden kann, nennt Winters intra-diegetisch (Winters 2010, S. 237).

Dies wäre seine größte Änderung gegenüber dem kritisierten Modell, mit dem diese Musik vereinfachend als non-diegetisch bezeichnet würde. Meta-diegetisch sei Musik dann, wenn sie zu einer Passage erklingt, in der eine Figur berichtet (Winters 2010, S. 237, Anm. 60). Dies entspräche zwar Genettes Idee, widerspräche aber anderen Adaptionen, die auch Aspekte der subjektiven Wahrnehmung mit diesem Terminus einbeziehen, so z. B. auditive Analogien zum point of view.69 Die in Winters’ Artikel zu findende Gleichsetzung von nondiegetic music mit dem syuzhet und diegetic music mit fabula erzeugt bei Analysen aber viele Widersprüche. Die Ursache dafür liegt in der von Bordwell kolportierten Lesart der Begriffe fabula und syuzhet (ursprünglich aus der russischen formalistischen Literaturtheorie der 1920er Jahre), die Winters übernimmt, was noch separat diskutiert wird.70

Die im Ursprung begründeten Schwierigkeiten mit dem meiner Meinung nach ungeeigneten Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch können durch Erweiterungen und Varianten dieses Konzepts nicht gelöst werden. Mit dieser These unterscheidet sich die hier ausgebreitete Kritik auch von bereits bestehender Kritik des narratologischen Vokabulars, wie sie bisher am umfassendsten von Guido Heldt formuliert und diskutiert wurde (Heldt 2013). Heldt weist bereits darauf hin, dass die von der Literaturtheorie kommenden narratologischen Kategorien bei der Adaption auf die Filmmusiktheorie nicht mit Aufgaben beladen werden dürfen, für die sie nicht gemacht sind (Heldt 2017, S. 81 f.).71

Wenn sich narratologische und filmologische Theorien und Vokabeln durchkreuzen (diegetisch/non-diegetisch mit den Konzepten narrativ und narration und mit fabula und syuzhet), bleibt unklar, ob die im Film gezeigte Welt (meist mit Diegese bezeichnet) der imaginierte Handlungsraum ist, d. h. der virtuelle Ort für die konkret ablaufende Handlung und weniger ein Universum, das – ähnlich dem Konzept der Fabel – den erzählbaren Teil einer Geschichte meint, dessen im Film sichtbare und hörbare Konkretisierung aber ein Merkmal vom Sujet wäre. Im einen Fall wäre diegetische Musik jene Musik des Handlungsraumes die eine dort zu findende szenische Ursache hat. Im anderen Fall wäre diegetische Musik jene Musik, die eine bestimmte Auswahl und Anordnung der Handlungselemente unterstützt, also eher die Fabel berührt. Beides ist für die Musikdramaturgie im Film von Bedeutung, kann aber durch die Unterscheidung diegetisch vs. nichtdiegetisch nicht angemessen zum Ausdruck gebracht oder differenziert werden. Die Bezeichnung »narrative film music« bei Gorbman bezieht sich eigentlich auf externe Filmmusik, die im zuletzt genannten Sinne der sogenannten Diegese zuarbeitet. Dennoch wird sie von Gorbman und vielen anderen als non-diegetisch bezeichnet. So unterläuft die Zuordnung diegetisch/non-diegetisch die oft referierte erzähltheoretische Basis bei Gorbman und einem Großteil der darauf aufbauenden Filmmusiktheorie.

An zwei grafischen Veranschaulichungen narrativer Ebenen in literarischen Werken von Wolf Schmid (Schmid 2014) wird das Problem der Bestimmung der verschiedenen Arten von Filmmusik mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch besonders deutlich, denn im Film sind die Ebenen der Narration und die Fokalisation nicht in der präzisen Form, die Abb. 3 zeigt, sondern in flexibler oder fließender Form umgesetzt.

Abb. 3: Narrative Ebenen und Instanzen und ihre Kommunikation nach: Wolf Schmid, Modell der Kommunikationsebenen, in: Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Bboston 32014), S. 46.

Eine andere Konzeption, die Schmid vorgelegt hat, geht von der Auswahl, Anordnung und Konstruktion der Geschichte aus, um narrative Ebenen zu differenzieren. Abb. 4 zeigt unter anderem, warum der Begriff Diegese durch die Anwendung auf Film und Filmmusik durch Souriau, Bordwell/Thompson und Gorbman für die Filmmusiktheorie eher Probleme verursacht: Er ist nicht vereinbar mit den Kommunikationsebenen (Abb. 3) bzw. der Fokalisation und den narrativen Ebenen (Aufbau und Präsentation der Erzählung, Abb. 4). Zudem zeigt sich in der Übersicht von Schmid ein anderes, auch qualitatives anstatt nur quantitatives Konzept von Fabel und Sujet, als Bordwell/Thompson (und in der Folge viele andere) ihrer Filmtheorie zugrunde legen und das bereits seit einigen Jahrzehnten als zu eng konzipiert gilt.72 Konkret heißt das, dass es zwar nicht falsch ist, das Sujet als Teilmenge der Fabel zu verstehen. Die hier interessante Frage jedoch bliebe ungeklärt: Welche qualitativen Merkmale liegen den Auswahlprozessen zugrunde? Um die Wirkungsweise und damit Grundlagen der Filmmusik zu klären, hilft es zu verstehen, warum für die Filmerzählung Geschehnisse weggelassen bzw. welche Geschehnisse ausgewählt werden, um die Geschichte zu formen, nach welchen Kriterien das Arrangement der Teile und der Perspektive erfolgt und wie die Konkretisierung bzw. Präsentation der Erzählung mit filmischen Mitteln Einfluss auf Auswahl und Anordnung hat. Daher lohnt ein Blick auf die Kombination des Begriffspaares mit den narrativen Ebenen in Wolf Schmids sogenanntem idealgenetischen Modell.


Abb. 4: Zusammenwirken von Fabel und Sujet im Prozess von Auswahl, Komposition und Verbalisierung nach: Wolf Schmid, Idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen, in Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Boston 32014), S. 225.

Es ist zu erkennen, dass Schmid und mit ihm viele andere (wenn auch aus verschiedenen Gründen) auf den durchaus belasteten Fabelbegriff verzichten und er diesen durch die Differenzierung in Geschehen und Geschichte ersetzt. Schmid thematisiert aber die für die Fabel essenziellen qualitativen Kriterien zur Auswahl der Geschehnisse und deren Anordnung als Geschichte bzw. Handlung und nennt explizit den Vorgang der Komposition als Bindeglied beim Zusammenspiel von Fabel und Sujet.

Der Erkenntnisgewinn, der mit der Terminologie der Erzähltheorie gezogen werden kann, betrifft die Grenzziehung zwischen narrativen Ebenen und Erzählinstanzen und erklärt die grundlegenden Prinzipien der Fokalisierung, die auch für Dramaturgie entscheidend sind. Auch nach reichlicher Prüfung ist nicht ganz klar, inwieweit dies auf den Film übertragbar ist. So bezieht sich z. B. externe (non-diegetisch genannte) Musik mal bestätigend oder mal ergänzend auf die Zeigehandlung und steht nicht in Opposition zu ihr, wie der Begriff non-diegetisch suggeriert.73 Musik, Bild, Montage und Sprache können in der Kunstform Film unterschiedliche, sich sogar ergänzende Fokalisierungen umsetzen. Ebenso verhält es sich mit den durch Musik in Ergänzung zu den genannten anderen Mitteln hervorgerufenen Affekten und emotiven Wirkungen. Fokalisierung und die Dichotomie aus diegetisch/nicht-diegetisch bzw. Abstufungen, die sich aus den sich überkreuzenden Theorien ergeben, kommen den filmdramaturgischen und musikalischen Besonderheiten im Kino aus meiner Sicht nur begrenzt nahe.

Für die Filmmusikforschung gäbe es mit der Besinnung auf ein modernes, allerdings auch noch filmästhetisch zu untermauerndes Konzept der Fabel methodische und terminologische Alternativen zur derzeitigen narratologischen Perspektive, da genau diese qualitativen Kriterien, die einen fertigen Film meist unsichtbar durchziehen, durch Filmmusik angesprochen bzw. wirksam werden können. Dazu müsste der aktualisierte Fabelbegriff mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Nachahmung verbunden und die Unterscheidung poetischer Modi in dramatisch, episch und lyrisch mit ihren filmischen Gestaltungsmitteln sowie eine filmästhetische Auslegung von Montage, die über linear-narrative Formen hinausgeht, berücksichtigt werden.

Zwar reflektiert Bordwell, der für die meisten Filmologen und Filmmusikforschenden direkt oder indirekt als Referenz dient, einige dieser Bereiche bereits (Aspekte der Poetik von Aristoteles, die Erzähltheorie der russischen Formalisten und die Montagetheorie Eisensteins), doch erhält seine herausgefilterte Essenz dieser Theorien in allen drei Fällen Reduktionen oder missverständliche Lesarten, die – wie gezeigt und im folgenden Kapitel noch konkretisiert wird – kritisiert werden können. Nicht zuletzt die umfassende Reflexion und Diskussion zur Narratologie, die von Schmid vorgelegt wurde (Schmid 2014), sowie die filmspezifische Erneuerung der Konzepte Fabel und Sujet durch Wuss (Wuss 1990, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987) gaben und geben der Kritik neue Impulse.

 

Einige der hier diskutierten narratologischen Begriffe bringen die filmspezifische Umsetzung einer Geschichte in umständlicher Weise zum Ausdruck. Eine Kennzeichnung narrativer Ebenen bzw. Instanzen und Räume ist im Film schwerer als in der Literatur vorzunehmen, weil die Präzision der sprachlichen Grammatik fehlt, weil unterschiedliche Medien an der Umsetzung beteiligt und zudem in ihrer Anordnung flexibler und dynamischer sind als in der Literatur. Für die Erklärung der dramaturgischen Bedeutung eines filmmusikalischen Phänomens erscheint mir die Terminologie damit ungeeignet.

Zusammenfassend lassen sich die Probleme mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch so beschreiben:

 1. Die Begriffswahl ist schon bei Souriau unglücklich, weil die an sich essenzielle Abgrenzung zwischen imaginativem Handlungsraum und den Mitteln, die ihn erzeugen, nicht durch die ursprüngliche Bedeutung von diegesis zum Ausdruck kommt. Es erfolgte daher eine Umwertung des Begriffs zu Diegese, wodurch das funktionierende dramaturgische System der Unterscheidung von mimesis und diegesis (im Sinne von Aristoteles »zeigende« und »erzählende Darstellung«) unbrauchbar wird, denn der Begriff Diegese nach Souriau trägt nun wesentliche Aspekte des mimetischen Modus der Darstellung in sich.

 2. Die notwendige Unterscheidung zwischen diegesis und Diegese, die Genette vornimmt, verliert sich bei der Installation des Begriffspaares diegetisch/non-diegetisch.

 3. Das Begriffspaar liefert Ursachen für die andauernden Schwierigkeiten, eine konsistente Theorie der auditiven Ebenen im Film zu entwickeln. Das selektive Herauslösen von Komponenten eines komplexen filmologischen (z. B. von Souriau) und eines komplexen narratologischen Modells (z. B. von Genette), die auf einen Dualismus reduziert werden, führen zu Widersprüchen in fast allen Modellen, selbst wenn Ergänzungen integriert werden. Weiteres Auffächern der Kategorien führt die Terminologie von den filmästhetischen Grundlagen (insbesondere vom praktischen wie auch ästhetischen Verständnis der Montage, die auch Ton und den Einsatz von Musik betrifft) weiter weg.

 4. Das konstituierende filmästhetische Prinzip der Montage und die damit erzeugten spezifischen Phänomene der Filmmusik können mit dem Begriffspaar kaum erfasst werden und erzeugen daher fast notwendigerweise negative Zusätze wie temporal manipulation und spatially displaced sound.

 5. Die erzähltheoretischen Modelle für den Film, die zwischen narrativ (erzählter Welt) und narration (Handlung) unterscheiden und zusammen mit Fabel (fabula, Handlungsorganisation) und Sujet (syuzhet, Konkretisierung in der Aktion und einer gewählten Umgebung bzw. Zeit) filmische Narration erklären, bilden eine eigentlich sinnvolle Basis, die aber durch den widersprüchlichen Gebrauch des Begriffs »diegetische Musik« wieder unterlaufen wird (Welche Musik ist gemeint: im Handlungsraum = diegetisch oder aber Musik, die die Diegese stützt, aber nicht Teil des imaginativen Handlungsraumes ist?).

 6. Ein tieferer oder gar dramaturgischer Sinn des Wortes nicht-diegetisch bzw. non-diegetic lässt sich kaum entdecken, außer dass er als Gegenpol fungieren soll. Die Alternative »extra-diegetisch« funktioniert als Gegenpol nur in wenigen eindeutigen Fällen, weil auch externe Filmmusik oftmals eng an das interne Geschehen im Handlungsraum gekoppelt ist.

Im letzten Bearbeitungsschritt eines Films, bei der Filmmischung, wird deutlich, dass die Grenze zwischen interner und externer Musik im Film nur ein kategoriales Gerüst ist, das zugunsten der dramaturgischen Überzeugungskraft mal streng getrennt und mal wieder zurückgenommen werden kann.

Das Spezifische des filmischen Erzählens liegt insbesondere in der Flexibilität bei der Verortung und Gewichtung alles Klingenden, die durch Vorgänge in der Filmmischung realisiert werden.

Ein Modell der auditiven Ebenen im Film müsste sich demnach den Interaktionen zuwenden, die einsetzen, sobald das kategoriale Gerüst aus interner und externer Zuordnung wieder wegfällt und der Film seine poetische Kraft und Eigenheit zeigt. Dieses Modell müsste selbstverständlich auch unterscheiden können, wann bei der Rezeption eine scharfe Trennung der Ebenen für die Dramaturgie eines Films wichtig ist.

1.1.6 Die »Fabel« (mythos, story)

In den folgenden beiden Kapiteln wird der ursprünglich sehr alte, aber auch in einem modernen Verständnis taugliche Begriff »Fabel« eingehender erläutert. Zudem soll das Fabel-Sujet-Begriffspaar neu diskutiert werden. Eine Systematisierung unterschiedlicher Fabelkonzepte und Beispiele für den Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik wird später in den Kapiteln 4.4. und 4.5 vorgenommen.

Als Fabel kann die für die Wirkung einer Geschichte entscheidende Handlungskomposition bezeichnet werden. Bedeutende, theoretisch und praktisch untermauerte Fabelkonzepte stammen von Aristoteles (Aristoteles ca. 335 v. Chr./2008), Lessing (Lessing 1767/69), Brecht (Brecht 1964a) und Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009). In der Filmpraxis werden individuelle Fabelkonzepte z. B. von Antonioni, Buñuel, Bergman u. a. Autorenfilmern realisiert oder aus literarischen Werken oder von Bühnenwerken übernommen. Deren grundlegende Fabelideen finden sich nicht selten in filmisch erzählten Geschichten wieder.

Da »Fabel« auch als literarischer Gattungsbegriff (z. B. Tierfabeln) verwendet wird, hier aber – den genannten Autoren folgend – in seiner dramaturgischen Bedeutung eingesetzt wird, soll dieser Terminus nun definiert und näher erläutert werden.

Die Fabel (auch: Handlungskomposition; ursprünglich im Griechischen mythos, im Englischen meist story) ist als immaterielles, einheitsbildendes Prinzip zu verstehen und umreißt die Anlage der Geschichte bestehend aus Figur(en), Thema bzw. Konflikt und Grundzügen der Handlung.

Anders als die präsentierte Handlung (Sujet, discours oder plot), welche die Vorgänge, Begebenheiten und Tätigkeiten der Figuren zeigt, benennt die Fabel den inneren, spannungsvollen Zusammenhang aller Teile und der wesentlichen Vorgänge. Die Fabel enthält implizit den auf eine bestimmte Wirkung abzielenden Grund für die gewählte Disposition von Figur, Konflikt und Thema sowie essenzielle Anhaltspunkte zur Organisation des Ablaufs der Handlung. Dieser Zusammenhalt kann nicht nur über Chronologie und Kausalität hergestellt und nachvollzogen werden, wie etwa bei Bordwell und vielen anderen zu lesen ist. Wirkungsvolle Fabelideen beruhen vielmehr auf einem besonderen Blickwinkel auf die Geschehnisse. Ein besonderer Blickwinkel kann Nebenfiguren neu gewichten, Anachronien rechtfertigen oder nicht-logische Abläufe nach sich ziehen mit dem dramaturgischen Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die gewählte Disposition die passendste für die Geschichte oder neue Variante einer im Prinzip schon bekannten Geschichte sei. Die präsentierte Handlung konkretisiert Zeitsprünge lediglich, wohingegen die Fabel erklärt, weshalb sie vorgenommen wurden.

Erst im Laufe des Geschehens erklärt sich einem Publikum der innere Zusammenhalt und kann als Fabel rekonstruiert werden. Eine kunstvolle Fabel bewirkt die spannungsvolle, zwingend oder folgerichtig erscheinende raumzeitliche Anordnung und Entwicklung der Vorgänge. Gerade wenn die epischen Stoffe der antiken Mythen in Dramenfassungen umgewandelt werden sollten, war eine pointierte und schlüssige Fabelidee die Grundlage für herausragende Wirkungen bei den attischen Dramenwettbewerben. In einer Fabel steckt das bindende dramaturgische Element für die Verknüpfung der Handlung(en), weswegen sie oft mit der Kausalkette gleichgesetzt wird. Die Fabel bestimmt aber auch jene Bindungskräfte, welche nicht nur die kausalen, sondern auch unbewusst bleibenden, nicht-logisch gereihten Motive und Handlungen verknüpft. Sie bestimmt die spannungsvollen Konstellationen aus Thema, Figur, Konflikt und Ablauf der Handlung. Darin eingeschlossen ist die Perspektivierung und der folgerichtige Sinn von chronologischer oder nicht-chronologischer Anordnung der Vorgänge.

Im Einfall für eine Fabel stecken Disposition und Charakterisierung der Figuren, die Gründe für ihre Konflikte und die Grundrichtung dafür, wie sich die Handlung räumlich und zeitlich entfaltet. Die Fabel kann dabei bereits zentrale Elemente der Handlung enthalten, z. B. Wendepunkte (plot points). Daher ist auch der Begriff Plot im Sprachgebrauch zu finden, der allerdings die Gegenüberstellung von Fabel und Sujet (story und plot) unmöglich macht. Die Fabel trägt den inventionalen Kern der Geschichte in sich,74 z. B. einen Grundkonflikt. Sie bestimmt den generellen Blickwinkel auf das Geschehen bzw. die generelle Erzählperspektive so, dass die Erzählung spannungsvoll wirkt. Die Fabel beinhaltet die Grundlage für einen Konflikt und gibt ihm eine Richtung, sodass er – zumindest in der geschlossenen Form – folgerichtig zu einer glücklichen oder unglücklichen Lösung geführt werden kann. In offenen Formen gibt die Fabel den Rahmen, damit der Grundkonflikt oder das generelle Thema variiert anstatt durchgeführt werden kann.

Eine Fabel lässt sich erst rückblickend gedanklich zusammensetzen und erscheint dann als auf »ihrer temporalen Achse entlang entfaltet« (Eco 1979/dt. 1987, S. 152). Die Fabel ist nicht die Handlung, sondern stellt den Handlungszusammenhang her. Tarkovskij fand für solche Bindungsgesetze im filmischen Erzählen die Formulierung »Arrangement von Beobachtungen« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98), die vor allem für neuere, nicht-aristotelische Dramaturgien gelten sollte. Es wäre schwierig zu behaupten, die Elemente der Fabel in allen Fällen eindeutig benennen zu können. Dennoch kann eine überzeugend erzählte Geschichte meist auf einen solchen Kern der Erzählung zurückgeführt werden.

Wenn man den künstlerischen Schaffensprozess des Erzählens vor Augen hat, kann die Erfindung einer Fabelidee als Prozess verstanden werden, der die zu erzählende Geschichte vom vor-künstlerischen Stoff durch Abstraktion, eine Auswahl von Begebenheiten bzw. durch Nicht-Ausgewähltes abgrenzt und so einen »erzählbaren Teil« der Welt erschafft.75 Schon die bewusst oder unreflektiert angewendeten Kriterien der Auswahl und Abstraktion erzeugen eine werkimmanente Kohärenz, die sich in einer Fabelidee konkretisiert.

Das Fabelkonzept des Aristoteles für antike Tragödien, das in der Filmdramaturgie immer wieder Erwähnung findet, beruht bekanntlich auf dessen Beobachtungen bei einigen Autoren von Dramen, deren Werke in den öffentlichen attischen Dramenwettbewerben besondere Wirkung zeigten. Begebenheiten und Handlungen werden nach den Gesetzen der »inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451 a35) komponiert, d. h. sie sind unter den Bedingungen der Mythostragödie kausal verbunden und werden – sich daraus ergebend – in einer raumzeitlich überschaubaren Einheit organisiert.76 Im Falle des Dramas bzw. der Tragödie ist nach Aristoteles die Handlungskomposition für die Konstitution gegenüber den Figuren vorzuziehen,77 welche die Handlungen zwar vorantreiben können, die aber nur als Teil der Fabel überhaupt eine Daseinsberechtigung haben (z. B. Ödipus in der Tragödie von Sophokles, dessen Geschichte zugunsten der Bauform des Dramas rückblickend erzählt wird). Aristoteles stellt dem die Epen gegenüber, die aufgrund ihres Modus der erzählenden bzw. berichtenden Darstellung (diegesis) anders funktionieren: Sie haben unbegrenzt Zeit und teils mehrere zentrale Figuren als konstituierende Kraft.78 Da der Film poetische Gattungsanteile von Drama und Epos enthält, wäre die Definition einer Filmfabel dementsprechend zu erweitern.

 

Die Theoretiker der Neuzeit haben den Charakter der Fabel und die Bedeutung der Katharsis jeweils in ihrem Sinne interpretiert: im Barock und zur Zeit des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert bei G. Freytag als Manifestation einer zentralen Macht und ihrer Repräsentanten, von Lessing als Weg zu einem aufgeklärten Geist und von Brecht, der die Fabel als zentrales dramaturgisches Element anerkennt, jedoch die Katharsis als zu überwindendes Konzept ablehnt, weil die für sie notwendige Einfühlung den Blick auf die änderbaren, verantwortlichen Umstände verstellt.

Aristoteles selbst benutzte den Begriff mythos für das, was in der Regel heute mit dem dramaturgischen Begriff Fabel ausgedrückt werden kann. Erst in den lateinischen und französischen Übersetzungen der Poetik von Aristoteles in der Renaissance tritt der Begriff fabula überhaupt auf.79 Dass die Narratologie den Begriff Fabel auch als Gattungsbegriff nutzt, schließt im Falle der Filmdramaturgie nicht aus, ihn wieder im dramaturgischen Sinne zu verwenden:

»Nicht also um Charaktere nachzuahmen, lässt man {die Schauspieler auf der Bühne} handeln, sondern man umfasst die Charaktere durch die Handlungen mit. Daher sind die {einzelnen} Handlungen und der Mythos {als Einheit dieser Handlungen} das Ziel der Tragödie, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Außerdem kann ohne Handlungen eine Tragödie überhaupt nicht zustande kommen, ohne Charaktere aber sehr wohl.« (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450 a20)

In der Übersetzung von Fuhrmann, der in seinen Kommentaren zur Poetik den Vorrang der Fabel auch als »Primat der Handlungsstruktur« (Fuhrmann 1982, S. 110) bezeichnet, klingt der Abschnitt so:

»Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern Handlungen […]. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie [die Dichter, R. R.] Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von allem.« (Fuhrmann 1982, S. 21)

Die Theorien zur dramaturgischen Kategorie Fabel bauen auf dem hier formulierten Vorrang der Fabel vor den Figuren auf. Dieser Sachverhalt ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Erzähltheorien in einer Relation zu Relevanz und öffentlicher Wirksamkeit stehen, die eine Kunstgattung in der Gesellschaft hat. Besonders in der Anschaulichkeit des Dramas wird der Vorrang der Fabel gegenüber den Figuren deutlich: Ein Theaterstück sollte zwar eine Wirkung haben, die entstehenden Emotionen werden aber nicht um ihrer selbst willen hervorgerufen. Vielmehr wird dem Publikum die Gelegenheit gegeben, mitzuverfolgen, wie Konflikte erwachsen, Handlungen Affekte auslösen und diese sich auflösen, weil Konflikt und Handlungen zu ihrem logischen und letzten Ende geführt werden. Dieser Vorgang wird als Katharsis bezeichnet. Da Katharsis oft mit der Reinigung oder Läuterung von den dargestellten Affekten übersetzt wird, entsteht der Eindruck, dass allein dadurch, dass der Held oder die Heldin – gleichsam wie in einem Lehrstück – für uns ersatzweise leidet, die »Reinigung« von den Affekten möglich wäre.80 Kathartische Wirkungen sind aber eine Konsequenz der Fabel – auch daher der bei Aristoteles und anderen zu findende Vorrang der Fabel vor den Figuren. Mit anderen Worten: Katharsis ist möglich, weil sich für das Publikum ein Konflikt und die an ihn gebundenen und durch die konkrete Handlung ausgelösten Affekte dramaturgisch auflösen. Dieser Vorgang kann sogar zu Erkenntnis oder zumindest moralischer Erbauung führen.

Da der umgangssprachliche, wissenschaftliche, aber auch philosophische Gebrauch der Begriffe Fabel und Mythos anders geprägt ist, sind beide Begriffsvarianten nicht unproblematisch. Daher wäre z. B. die Formulierung »Fabel als dramaturgische Kategorie« oder »Filmfabel« angebrachter. Im Englischen wird mal plot, meist story synonym für Fabel verwendet (Schmitt 2008, S. 233). Auch die aktuelle deutschsprachige Musikwissenschaft kommt zu nicht immer eindeutigen Varianten.81 Wolf Schmid hält dagegen, dass in den mehr als zweistufigen Modellen, die über die beiden Ebenen Fabel und Sujet hinausgehen, story der äquivalente Begriff für Fabel sei.82Plot wäre dann das Äquivalent zum Sujet, wie auch Bordwell (Bordwell 1985, S. 50) meint.

Die Regeln für ein Drama (als »ernste« Gattung) verfestigten sich seit der Renaissance.83 Zur Zeit der großen Zentralmonarchien führte dies aus ideologischen Gründen auch zum Paradigma der drei Einheiten Handlung, Zeit und Ort. Im Falle von Fabelkonstruktionen, die komplexer und weniger geradlinig oder kausal funktionieren, wenn Fabeln z. B. ein »eher rhizomatisches Diagramm« der Geschichten repräsentieren, wie Eco den Fabelbegriff erweitert (Eco 1979/dt. 1987, S. 153), wäre der Fabelauszug sehr schwierig zu bewerkstelligen und stellt dann eher eine Form der »kognitiven Annäherung« an die Narration dar (Wuss 1993/1999, S. 94). Anstatt die Architektur zur Dramatisierung (Chronologie oder Logik der Handlung) vorzugeben, kann bei solchen (Film-)Fabeln die Handlung assoziativ oder thematisch bzw. über variierte Motive zusammengehalten werden. Auch die Rolle der Filmmusik ist dramaturgisch schwerer zu bestimmen, wenn die Fabel eher ein abstrahierendes Organisationsschema bleibt und noch weniger Niederschlag in der konkret präsentierten Handlung findet als bei klassischen bzw. geschlossenen Fabelkonzepten.

Um das Generelle einer Fabel und das Konkrete des Sujets zu veranschaulichen, kann der Vergleich von Original und Remake dienen sowie umgekehrt ein Vergleich von Filmen herangezogen werden, die zwar unterschiedliche Geschichten erzählen, aber auf der gleichen Anlage bzw. Fabelidee beruhen. Das jeweilige Sujet, das die Details der erzählten Welt und ihre Spielregeln bestimmt, kann trotz gleicher Fabelidee sehr verschieden sein. Historisch rückwärts lässt sich z. B. folgende Reihe bilden: IL MERCENARIO (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci) ist eine auch im Sujet sehr ähnliche Variante des viel bekannteren Films PER UN PUGNO DI DOLLARI (D/SP/I 1964, R. Sergio Leone). Leone aber hat die Fabel seines Films von Kurosawa und dessen Film YÔJINBÔ (J 1961) übernommen und zudem fast alle Szenen kopiert, sodass von einem Remake gesprochen werden kann. Der daraus resultierende Rechtsstreit konnte allerdings nicht gelöst werden, weil Kurosawa nicht nachweisen konnte, nicht selbst die Fabel-Idee aus Goldonis Stück Arlecchino servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) kopiert zu haben.84 So unterschiedlich die drei Milieus sind und die präsentierten Handlungen (Sujet) mal ganz unterschiedlich, mal fast identisch sind, erwächst der bestimmende Ansatz dafür, wie die Geschichten erzählt werden, jeweils aus der gleichen Fabelidee und dem daraus resultierenden dramaturgischen Potenzial.

Ein weiteres Beispiel: Die frappierende Fabel-Idee einer Kurzgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, An Occurrence at Owl Creek Bridge (Der Zwischenfall auf der Eulenflussbrücke) von Ambroce Bierce, wurde ebenfalls mehrfach in Filmfabeln überführt, so für CARNIVAL OF SOULS (USA 1962, R. Herk Harvey, M. Gene Moore). Diesen Film hat Christian Petzold für seinen Film YELLA (D 2007, R. Christian Petzold, M. Stefan Will) als Inspiration gesehen.85 In YELLA sind fast alle zentralen Handlungselemente aufgegriffen worden. Ähnliche Fabelkonstruktionen und Motivkomplexe wie in An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce liegen auch den Filmen STAY (USA 2005, R. Marc Forster), MULHOLLAND DRIVE (F/USA 2001, R. David Lynch, M. Angelo Badalamenti) und A BEAUTIFUL MIND (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) – in dessen erster Hälfte – zugrunde. Die Filme beziehen einen Großteil ihrer Spannung bereits aus der Anlage, mit anderen Worten: aus der Fabelidee. Sie beruht darauf, dass ein Großteil der Vorgänge sich als im Kopf der Figur abspielende Handlung erweist. Diese Fantasiewelt bzw. subjektive Perspektive kollidiert plötzlich (An Occurrence at Owl Creek Bridge) oder nach und nach (YELLA, STAY, MULLHOLLAND DRIVE) mit der als objektiv geltenden Perspektive und erzeugt Spannung sowie Überraschung beim Umschwung.

Der Filmwissenschaftler Peter Wuss entwickelte ein Modell der filmischen Narration, welches das Konzept Fabel in den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur aufgenommen, sondern filmisch geprägt und für neuere Erzählformen geöffnet hat. Er verbindet Narratologie und klassische Dramaturgie und erweitert den aristotelischen Fabelbegriff, um ihn für den Film anwenden zu können (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2005, Wuss 2009). Das Verständnis des Begriffspaares Fabel und Sujet von Wuss sieht im Detail anders aus als Thompsons und Bordwells Adaption der russischen formalistischen Terminologie. Dramaturgie, Narratologie und Filmästhetik fließen in sein Modell der Strukturbildung und der Wirkungsmechanismen filmischer Narration ein. Seine Untersuchungen sind außerdem durch Ansätze und Kategorien aus Psychologie und Emotionsforschung geprägt. Mit all diesen Disziplinen sind im Kontext der Filmdramaturgie antike, klassische und moderne Terminologie vereint und beeinflussen damit seinen Fabelbegriff: