Liebe in Zeiten des Kapitalismus

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#VERDRUSS

Politik wird zunehmend mit Angst gemacht und nicht mehr mit Hoffnungen. Und was machen wir? Der Kopfschüttelmodus, Ärger und Zorn, das Missbehagen und auch die leise Verachtung – das ist der Modus, in dem wir der Politik gegenübertreten. Dann reden wir vom Verdruss über die Politik, und tun so, als wäre das der Verdruss der anderen; als wäre der Verdruss etwas, was sich nur auf bestimmte Teile der Bevölkerung erstreckt. Auf die Jungen etwa, die lieber Party machen, als sich mit Politik zu beschäftigen; oder auf die deklassierten „Modernisierungsverlierer“, mit ihrem Zorn auf die Politiker, aus dem heraus sie dann andere Politiker wählen, um die Politiker zu ärgern. Ist irgendjemand eigentlich nicht verdrossen? Nun, vielleicht ist gerade das das Problem. Gewiss kann man meinen, der Verdruss ist berechtigt – und wie kann denn etwas, was berechtigt ist, ein Problem sein? Aber der Verdruss, so berechtigt er sein mag, so sehr er eine Reaktion auf eine Problemlage ist (nämlich den Zustand der Politik), ist selbst auch schon wieder zum Problem geworden. Und wir alle sind Teil dieses Problems.

WIE HAT DAS eigentlich angefangen, diese übel gelaunte Abkehr von der parteiförmigen Politik, der „Politik-Politik“, mit ihren Spielen, Ritualen, Machtkämpfen, Parteilichkeiten? Der Zufall will es, dass vor wenigen Jahren ein Buch mit nachgelassenen Schriften des französischen Soziologen Pierre Bourdieu erschienen ist, das den simplen Titel „Politik“ trägt. Gleich zu Beginn heißt es in einem Text aus dem Jahr 1988: „Wir werden von Politik überflutet. Wir schwimmen im unentwegten und wechselhaften Strom des täglichen Geschwätzes über die vergleichbaren Chancen und Verdienste von austauschbaren Kandidaten. … Die Äußerungen zur Politik sind, wie das leere Gerede über gutes oder schlechtes Wetter, im Grunde flüchtig.“

Damals, Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre, begann etwas, was Bourdieu schon 1988 wie selbstverständlich zu diesem Urteil kommen ließ. Aber was hat sich da, zunächst allmählich und beinahe unmerklich verändert. Das politische Feld begann sich selbst abzukapseln. Parteiführungen, Mandatare wurden zu Spezialisten. Es etablierte sich ein politisches Feld mit seinen eigenen Spielregeln, mit seinen „Experten“ und „Professionellen“. Die Mitglieder in den Parteien verloren an Bedeutung, Bürger sahen sich zu passiven Wählern reduziert, die gelegentlich ihre Stimme abgeben, aber dazwischen sind die Spezialisten und Experten für das Politische am Zug. Je mehr sich das politische Feld professionalisiert und abkapselt, umso mehr haben die Professionellen die Tendenz, auf die Laien herabzusehen. Bloß ist die Trennung zwischen „Eingeweihten“ und „Laien“ keine vollständige. Anders als andere Spezialisten sind die Spezialisten der Politik ständig auf ihre Klientel bezogen, sie brauchen die Laien, und sei es nur, um gelegentlich von ihnen gewählt zu werden. Viel mehr aber sind die Professionellen aufeinander bezogen, auf die Mitspieler im politischen Spiel. Es entwickelt sich ein bestimmter Habitus, ein Rollenmodell, wie ein Politiker auszusehen habe, und ein Jargon, der die Sprache in diesem Feld wird. Bei aller Rivalität bilden die Berufspolitiker der unterschiedlichen Parteien doch die Gemeinschaft der Berufspolitiker, was, wie Bourdieu schön formuliert, bei den Laien, den Bürgern also, den Argwohn nährt, dass eine Art grundsätzliche Komplizenschaft die Leute, die bei dem Spiel mitspielen, das man Politik nennt, miteinander verbindet, vor jeder Meinungsverschiedenheit.

UND ALL DAS geschieht in einem Moment, in dem noch ein paar andere Dinge geschehen: Die Zeit der großen Wachstumsraten ist vorbei, und Wohlstandszuwachs ist bekanntlich eine wichtige Quelle von Legitimität von Politikern; grundsätzliche programmatische Antagonismen schleifen sich ab. Es entsteht auch eine Entertainmentkultur in der politischen Medienberichterstattung. Parteiapparate entwickeln ein Eigenleben – eine innere Kultur. In ihnen kommt nur hoch, wer hineinpasst. Ein Politikertypus setzt sich durch, der natürlich jene eher anzieht, die zu ihm passen – also jene, die ihm „ähnlich“ sind –, und schreckt „unähnliche“ sowieso schon ab, er muss sie gar nicht mehr aggressiv abwehren. Menschen umgeben sich nun einmal lieber mit Menschen, die ihnen ähnlich sind. Das ist ganz normales menschliches Verhalten. Aber es hat eben auch politische Effekte. Demgegenüber wächst seit den Achtzigerjahren ein Verdruss in seinen unterschiedlichen Betriebsformen. Erst wird Indifferenz attestiert – sinkende Wahlbeteiligungen. Dann der Aufstieg diverser Populismen, hinterher ein sich verallgemeinerndes „Wutbürgertum“. Die Realität zeigt, dass es durchaus verschiedene Aggregatzustände dieses Frustes gibt. Da gibt es jene, die der Parteienordnung zunehmend reserviert gegenüberstehen, die sich selbst etwa so charakterisieren würden: Die Politik ist geprägt von überholter Parteilichkeit, nichts als Gezänk, kleinliche Streitereien um Vorteile im politischen Spiel. Die Kritik an den politischen Parteien lautet aus dieser Perspektive, dass sie selbst einfachste praktische Lösungen für Probleme nicht mehr zu finden imstande sind, weil es den Parteien nur um taktische Vorteile geht und sie sich gegenseitig blockieren. Jene, die solchen Deutungen nahestehen, definieren sich selbst gerne als „Jenseits des Parteiensystems“. Es ist vielleicht so etwas wie der Verdruss der bürgerlichen Mitte.

Dann gibt es den – zweiter Aggregatzustand – unpolitischen Yuppieprotest: Bürger, die den Staat als bürokratisches Monstrum betrachten, der von „den Parteien“ gekapert wurde, um es sich an seinen Futtertrögen gut gehen zu lassen. Hinzu kommt – dritter Aggregatzustand – das Milieu der real (oder gefühlt) einheimischen Unterprivilegierten: Sie sind instinktiv der Auffassung, dass sich für sie im Grunde niemand interessiert, dass sie links liegen gelassen werden; dass keiner weiß, wie es ihnen wirklich geht. Über Politiker würden sie sagen: Die leben ja ganz anders. Die leben ja ganz woanders. Die haben ja gar keine Ahnung, wie es uns geht. Das hat auch wieder mit der milieumäßigen Verengung des politischen Personals in Folge der Professionalisierung zu tun, mit einem politischen Personal, das aus Menschen besteht, die von ihren gesamten Lebensumständen und ihrem personalen Habitus, ihrer Art, sich zu kleiden, zu sprechen und sich zu bewegen, mit diesen Unterprivilegierten nichts mehr zu tun haben. Natürlich sind diese Aggregatszustände nicht fein und trennscharf unterschieden. Eher lässt sich sagen, dass bestimmte populistische Vorstellungsreihen in bestimmten Milieus auf fruchtbaren Boden fallen, andere in anderen – und dass sie sich gegenseitig aufschaukeln. Das Ergebnis ist ein allgemeines, nebulöses, waberndes populistisches Klima.

Die Pointe ist nun: Mag dieser Verdruss als Reaktion auf Entwicklungen im politischen Feld auch berechtigt sein, verstärkt er diese Entwicklungen noch. Parteien, denen alle den Rücken zukehren, werden in ihrer Selbstbezogenheit noch bestärkt. Politik, der die Legitimation entzogen wird, wird eher feiger als mutiger. Insofern produziert der Verdruss objektiv und ganz unabhängig davon, ob einem das gefällt oder nicht, die Probleme längst mit, die er ressentimentbeladen beklagt. Sodass es längst mehr als genug Gründe gibt, verdrossen am Verdruss zu sein. Aber verdrossen sind natürlich immer die Anderen. Ich bin nicht verdrossen. Sie sind es ja auch nicht. Wir sind ganz anders. Aber stimmt das überhaupt? Sind wir nicht auch voll gestopft bis Oberkante Unterlippe mit Ressentiments? Sind wir nicht schnell zur Stelle mit unserer Häme gegenüber beinahe allen Politikern? Ist nicht auch diese Häme, dieses kopfschüttelnde „die können es einfach nicht“, Ausdruck eines Verdrusses? Nehmen wir, nur als Beispiel, die mit viel theoretischem Geklingel vorgetragene linke Aversion gegen „Repräsentation“, dieses Hochhalten basisdemokratischer Verhinderung, dass irgendjemand nur seinen Kopf zu weit rausstreckt. Reiht sich das nicht ein in dieses Panoptikum?

Aus dieser Perspektive wird das Feld der Politik-Politik links liegengelassen, und die Hoffnung wird auf die sich stets und täglich neu und spontan organisierende Vielheit gelegt – von Occupy Wall Street bis zur Audimax-Bewegung. Aber verweigert sich dieses „Against Representation“ nicht der Frage, ob nicht gerade das völlig ergebnislose Versanden von Bewegungen wie Occupy Wall Street auch in ihrer Abneigung begründet ist, tragfähige Organisationen mit einem Mindestmaß an Repräsentation, Arbeitsteilung und, ja, sagen wir das böse Wort, auch Anführern zu etablieren, die ihre Anliegen an eine breite Öffentlichkeit kommunizieren können und die den langen Atem haben, den man braucht, wenn man dicke Bretter bohren will? „Le Monde Diplomatique“ hat diese Frage (oder ist es bereits eine Antwort?) unlängst so formuliert: „Warum ist sie (die Occupy Wall Street-Bewegung) gescheitert und hat alle zunächst so hoffnungsfrohen Erwartungen krass enttäuscht? Warum versinken selbst die populärsten Aktionen der Linken früher oder später in einem Gebräu aus akademischer Rhetorik und sinnloser antihierarchischer, antietatistischer Kraftmeierei?“

DIE UNFÄHIGKEIT von Parteien und Regierungen sowie die Unfähigkeit von Bewegungen, NGOs und Aktivisten, gemeinsam mit Realismus, Elan und langem Atem Ziele zu verfolgen, sind korrespondierende Aspekte eines einzigen Problemzusammenhanges. Wer ernsthaft glaubt, das bunte Gewusel von Bewegungen, die heute entstehen und morgen verpuffen, wäre auch nur annähernd die Kraft, die eine völlig andere Konfiguration herbeiführt, muss sich fragen lassen: Wie, bitteschön, heißt der Planet, auf dem Du lebst? Oder noch einmal anders gesagt: Ist, während sich auf der eher rechten Seite ein antipolitischer Populismus breitmacht, auf der linken nicht ein Zynismus endemisch geworden, der von seiner Verwandtschaft mit Ersterem bloß nichts wissen will? Und wie begründet das allgemeine Misstrauen auch sein mag: Stellt es nicht längst auch die Funktionstüchtigkeit unserer Demokratien in Frage?

 

„In Mistrust we Trust“ – „Ins Misstrauen vertrauen wir“ – hat der bulgarische Theoretiker Ivan Krastev einen klugen kleinen Essay genannt. Er hat darin die Frage aufgeworfen: Kann die Demokratie ohne Vertrauen überleben? Nun ist Misstrauen eine gute Sache. Misstrauen in Politiker ist in Demokratien nicht nur berechtigt, die Demokratie ist ja gerade die beste Regierungsform, dieses Misstrauen zu managen. Denn sie ist transparent, Missstände werden aufgedeckt, und in Form von Wahlen (die meist „Abwahlen“ sind) werden Konsequenzen gezogen. Ihre Stärke ist eben gerade ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Aber wenn das Misstrauen endemisch und verallgemeinert wird, wenn allen Parteien misstraut wird, niemand mehr sich in Parteien engagieren will, Stimmverhalten nur mehr darauf abzielt, es denen zu zeigen, zerstört das dann nicht eben gerade diese Kapazität von Demokratien zur Selbstkorrektur? Krastev äußert den Verdacht, dass das so sein könnte.

Selbst die heute so populäre – gewiss sinnvolle – Forderung nach Partizipation und direkter Demokratie steht, recht besehen, in diesem Zusammenhang: Sie ist nicht nur getragen vom Wunsch der Bürger, heute mehr mitzureden, sondern von der Überzeugung, dass bessere Entscheidungen getroffen würden, würden diese den unfähigen Politikern abgenommen, oder dass bessere Politiker hochkämen, wären die Bürger direkter in die Personalauswahl eingebunden. Dahinter steht die Idee, wie das der Architekturtheoretiker Markus Miessen in seinem Buch „Albtraum Partizipation“ beschreibt, „jeder Depp soll immer überall mitmachen“, und die Entscheidungen, die auf diese Weise herbeigeführt werden, wären noch bessere Entscheidungen, als wenn man sie den Spezialisten und den Experten überließe.

Sicher, Parteien sind träge Apparate, aus nicht wenigen ist alles Leben verschwunden. Viele Politiker sind unfähig, feige und phantasielos. Aber es gibt objektive Faktoren, die sich nicht einfach auf das Unvermögen der Akteure reduzieren lassen. Die Heterogenität unserer Gesellschaften macht es schwierig, soziale Milieus zu „repräsentieren“. Da kaum eine Partei mehr als 30 Prozent der Stimmen erlangt und angesichts des Mehrebenen-Systems in Europa mit EU, Nationalstaaten und Regionen, steht jedem, der etwas bewegen will, ein anderer gegenüber, der entschlossen ist, es zu blockieren. Weil alles allenfalls nur sehr langsam geht, sind Bürger und Bürgerinnen (und sogar die Parteibasis der einzelnen Politiker), schon vorauseilend sicher, enttäuscht zu werden. An einem Strang zu ziehen mit Leuten, mit denen man in manchem einig, in anderen Dingen uneinig ist – auf diese Idee käme das nörgelnde Wutbürgerbewusstsein nicht einmal. Bloß braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn ein paar Minister, auf sich alleine gestellt, nichts zuwege bringen. Wobei, das nörgelnde Wutbürgerbewusstsein wundert sich ohnehin nicht darüber. Es hat nichts anderes erwartet und kann sich glücklich bestätigt fühlen – oder zumindest in seinem Unglück bestärkt.

In seiner Gewissheit: Die können es nicht. Aber wie sollen sie es eigentlich können – angesichts von beschränkter Handlungsfähigkeit, Blockaden, medialer Verdummung und Bürgern, die für nicht mehr zu haben sind, als von der Seitenoutlinie ins Feld zu keppeln? Der Verdruss war irgendwann eine Reaktion auf eine Problematik, aber er ist längst auch zu einer Ursache dieser Problematik geworden. Verdruss mag gute Gründe haben, aber er macht die Luft nicht besser.

#GLEICHHEIT #UNGLEICHHEIT

Die Idee der Gleichheit ist ganz gehörig aus der Mode gekommen. Dies ist kein bloß sekundäres polit- und ideengeschichtliches Phänomen, sondern von unerhörter Brisanz für „die Linke“ jedweder Couleur, für die – nach dem Wort des italienischen marxistischen Philosophen Norberto Bobbio – „das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern war, den sie angeschaut hat und weiterhin anschaut“. Für ihn blieb, auch in Zeiten der modischen Relativierung des Gegensatzes „Rechts und Links“, das egalitäre Prinzip das eigentliche Fundament für jede Linke – wenn auch nicht als Utopie einer Gesellschaft „der Gleichen“, so doch in Form des Strebens, „die Ungleichheiten etwas gleicher werden zu lassen“. Doch schon Bobbio musste sich in einer Kontroverse von seinem britischen Freund und Mitstreiter Perry Anderson fragen lassen, ob es denn wirklich „der Fall ist, dass die Linke, so wie sie aktuell in Europa heute existiert, alle Funktionalität der sozialen Ungleichheit bestreitet?“

Tatsächlich repräsentieren die europäischen Sozialdemokratien die Gerechtigkeitsideale breiter Gesellschaftsschichten, die immer auch und vor allem Gleichheitsideale sind, allenfalls in höchst subtiler Weise. In Wahrheit hat die Sozialdemokratie das Gleichheitsprinzip lange Zeit still sterben lassen. Im Geheimen messen viele führende Sozialdemokraten sozialen Ungleichheiten längst eine positive Funktion in dynamischen Gesellschaften zu. „In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt, und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität“ – diese laute Selbstdenunziation ist die Schlüsselformel des einschlägigen „Schröder-Blair-Papiers“. Die österreichische Sozialdemokratie brachte es gar zuwege, in ihrem Parteiprogramm vom Ende der Neunzigerjahre den „Grundwert“ Gleichheit noch als Kapitelüberschrift beizubehalten, in dem entsprechenden Abschnitt dann aber nur mehr von „Chancengleichheit“ zu reden. Der Abschied vom Gleichheitsideal materialisiert sich auf der Ebene der Programmatik somit zuerst in Form einer Revision, der Verschiebung von Begriffen. Zwar dürfe, formulierte schon der britische Soziologe Anthony Giddens, Stichwortgeber aller sozialdemokratischen „Modernisierer“, in seinem Buch „Der Dritte Weg“, die Idee der „Umverteilung nicht von der sozialdemokratischen Tagesordnung genommen“, doch müsse sie künftig als „Umverteilung der Chancen“ interpretiert werden: „Die Förderung menschlicher Kreativität und Möglichkeiten sollte, soweit es geht, eine nachträgliche Umverteilung ersetzen.“

Auf dem Rücken des Begriffs der „Chancengerechtigkeit“ schlich sich das marktliberale Leistungscredo tief in die sozialdemokratischen Spitzenetagen hinein. Er ist von der marktliberalen Selbstillusion freier und gleicher Märkte, auf denen alle Akteure die gleichen Chancen haben sollen, zu Gewinnern (und damit auch zu Verlierern) werden zu können, praktisch ununterscheidbar geworden. Aus dieser Perspektive ist kaum mehr zu argumentieren, wie Ungleichheiten noch korrigiert werden könnten, wenn sie einmal hergestellt sind (und warum dies geschehen sollte), sieht man von zwei Einschränkungen ab: Jeder soll auch in modernen Marktökonomien überleben können und Ungleichheiten sollen sich über die Genealogie der Generationen, wenn möglich, nicht zu neuen „Chancenungerechtigkeiten“ verfestigen. Eine Einschränkung, die sehr bald auch Giddens machen musste. Ohne Umverteilung würde „aus der Ungleichheit im Ergebnis der einen Generation die Ungleichheit der Chancen der nächsten“. Dies ist freilich alles, was vom alten Gleichheitsideal geblieben ist.

DIE GLEICHHEIT ist ein vertracktes Ding. Als Ideal führte sie in der linken Theoriegeschichte – wie jedes Ideal, das in Hinblick auf das Prinzip des historischen Materialismus unter immerwährendem Moralitätsverdacht steht – ein Leben im Schatten, im Nebel der Werte. Selbst Karl Marx hatte in seinen späten Tagen hochgradig gereizt reagiert, als die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Gothaer Programm die Forderung nach „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheiten“ erhob. „Anstatt der unbestimmten Schlussphrase“, bekrittelte der Stammvater der modernen Linken verärgert aus seinem Londoner Exil, „war zu sagen, dass mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringenden sozialen und politischen Ungleichheiten verschwinden“.

Tatsächlich ist das Ideal der Gleichheit älter als jede sozialistische Theorie und nährte sich aus vielerlei Traditionen. Schon mit dem Entstehen der modernen Staatstheorie wurde die Frage aufgeworfen, ob reine rechtliche, formale Gleichheit vor dem Gesetz wirklich reicht, oder ob der Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht die relative soziale Gleichheit seiner Bürger voraussetze. „Seiner Natur nach strebt der Wille des Einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit“, wusste Rousseau in seinem „Contrat social“, und auch, „dass den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur so lange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zu viel hat“.

Einen immerwährenden Impuls erfuhr das Gleichheitsideal auch durch die „plebejische Kultur“, also das, was man die Lebenspraxis oder die Lebenswelten der Unterklassen nennen könnte, die einerseits von Idealvorstellungen eines „gerechten Preises“ oder eines „angemessenen Lohnes“ bestimmt wurden, andererseits durch die Alltagserfahrungen von Handwerkern und Fabrikarbeitern. So war noch die fortschrittliche Fabrikorganisation, die individuelle Fertigkeiten entwertete und insofern die Arbeiter „immer gleicher“ machte, eine mächtige Verbündete der Gleichheitsvorstellungen. Auch in Gestalt eines mehr oder weniger diffusen „Gemeinschaftsgefühls“ war uns die Gleichheit bekannt. Derart zentral und peripher, anwesend und abwesend zugleich, politisch still repräsentiert und stumm vorausgesetzt, sind die Gleichheitshoffnungen der Mehrheiten nie vordergründig sichtbar gewesen und sie sind es heute weniger denn je. Und auch das kollektivistische Motiv des Gleichheitsideals und das Versprechen auf Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und somit kollektiven Zwängen lagen immer in einem Spannungsverhältnis, wie es von Marx in der berühmten Formulierung des „Kommunistischen Manifests“ aufzulösen versucht wurde, wonach im Kommunismus „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

So müssen die Gleichheitshoffnungen in ihrer oft paradoxen Gestalt gesehen werden. Schon die immer genervte Rechtfertigung der Ungleichheit als ökonomisch oder sozial nützlich durch die Ideologen des Konkurrenzprinzips verweist auf einen tief sedimentierten Begriff der Gleichheit. Auch der Egalitarismus selbst tritt oft nur auf subtile Art, sozusagen negativ auf: nicht als Forderung nach „mehr Gleichheit“, sondern als waches Sensorium für jedwede Gefährdungen der Gleichheit, die auch in Neid und Ressentiments ihren Ausdruck finden können. So mag zwar jeder das Bedürfnis nach Distinktion verspüren, ist gleichzeitig aber Adressat der Abgrenzungsbedürfnisse anderer, die dann aber „Überheblichkeit“ und „Arroganz“ heißen, auf die der Einzelne leicht allergisch reagiert.

KLAR IST JEDENFALLS: Auch unsere modernen Gesellschaften verfügen über stark wirksame Gerechtigkeitskulturen, doch die sind „so kompliziert wie das Leben selbst“, wie Angela Krebs formuliert. So kompliziert, dass, wenn die Rede auf Gerechtigkeitsideale kommt, eher Ahnungen referiert werden als gesicherte Sachverhalte. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger denn unwichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (‚Wieso glaubt er, etwas Besseres zu sein, als ich?‘; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?‘), sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“ Die Feststellung, dass Ungleichheit einer besonderen Rechtfertigung bedarf, wohingegen dies für die Gleichheit nicht gilt, ist ohne Zweifel immer noch richtig und ein gewichtiges Indiz für die starke Verwurzelung eines die Gleichheit betonenden Gerechtigkeitsideals. Diesen Gedanken hatte auf eindringliche Weise der russisch-angloamerikanische Philosoph Isaiah Berlin entwickelt: „Die Behauptung ist, dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person ein Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“

In dieses Bild der Paradoxien fügt sich übrigens, dass ausgerechnet die Epoche „gleichmacherischer“ Massendemokratien die Ideologie des „Individualismus“ entwickelte, und just im Zeitalter kapitalistischer Uniformierung und Standardisierung die feinen Unterschiede zwischen den Massenexistenzen immerwährend betont werden. „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an“, beobachtete Siegfried Kracauer schon in den Zwanzigerjahren in seinen berühmten Studien der modernen Angestelltenwelt. Es ist grotesk, dass ausgerechnet die kapitalistischen Funktionseliten, denen ihre Austauschbarkeit in Gestalt ihrer „Business-Suites“ auf den Leib geschrieben steht, gegen die „Gleichmacherei“ wettern.

 

Der Historiker Paul Nolte hat in einem bemerkenswerten Aufsatz die neuen Trennungen beschrieben – als „ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne ihre Realität beseitigen zu können“. Neue, subtile Spaltungen tun sich auf. So habe der „private Konsum … eine größere Bedeutung für die Selbststilisierung des Einzelnen“ gewonnen, haben „Konsum und Lifestyle soziale Unterschiede nicht eingeebnet, sondern vergrößert“. Die Möglichkeiten, die etwa der technologische Fortschritt bietet, verringern gleichzeitig die Chancen derer, die – aus welchen Gründen immer – diese nicht wahrnehmen können. Die „Internet-Linie“ spaltet alle, die die neuen Technologien beherrschen, von jenen ab, die dies nicht tun. So spielen die Kategorien „Alter und Generation in den sozialen Verteilungskämpfen eine größere Rolle“. Bei der Rede über „Individualisierung“, „Risiko“ und „Optionen“ fällt selten auf, „dass die einen mehr Optionen haben, die anderen größere Risiken tragen“. Wenngleich sich, trotzdem sich die Schere zwischen Oben und Unten öffnet, durch den sozialen „Fahrstuhleffekt“ der allgemeine Lebensstandard erhöht haben mag, so wuchsen die Abstände und haben sich „neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung herausgebildet“. Völlig unbeachtet, so Nolte, sei etwa der Umstand, dass sich zunehmend das „Premium-Segment“ gehobener Gütermärkte vom Massenkonsum abhebt, während „am anderen Ende der Preiskampf der ‚Discounter‘ immer härter wird.“ Anstelle einer „nivellierenden Massengesellschaft“, wie uns allgemein glauben gemacht wird, schaffen diese „Optionen“ eine Kultur, die der Demonstration und Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Nolte: „Das Fernsehen ist das beste Beispiel: Der Aufstieg der Privatsender hat ja nicht einfach zu einer ‚Bilderflut‘ geführt, er hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3sat oder Arte etablierten.“

DIE GERECHTIGKEITSFRAGE, die heute jeden politischen Diskurs – von der Steuergesetzgebung bis zur Globalisierungsdebatte – dominiert, ist nicht zu klären, solange um die Frage der „Gleichheit“ wie um einen heißen Brei herumgeredet wird. Der öffentliche politische Diskurs der Eliten über die Sachzwänge moderner, dynamischer, globalisierter Ökonomien und der Alltagsverstand breiter Bevölkerungsschichten klaffen dramatisch auseinander. Bei allen Unwägbarkeiten der Demoskopie: Zumindest eine gewichtige Minderheit, wenn nicht die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung in den (kontinental-)europäischen Ländern ist der Überzeugung, dass mehr Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung gut täte und dass es in diesen Gesellschaften nicht mehr gerecht zugeht.

Da freilich, wie wir oben gesehen haben, die Gleichheitskultur in unseren Gesellschaften „so kompliziert wie das Leben selbst ist“, wäre es überheblich, so zu tun, als wäre es eine einfache Sache, moderne linke Politik zu formulieren. Schließlich werden ja auch nicht alle Formen der Ungleichheiten von den Menschen abgelehnt. Dem Gleichheitsprinzip stehen auch Ungleichheitsprinzipien entgegen: dass besondere Kenntnisse, eine gediegene Ausbildung, große Erfahrung zu höheren Einkommen oder mehr Einfluss „qualifizieren“, wird selten in Abrede gestellt; auch wird das Prinzip von freiem Tausch – das freilich die Akkumulation von Reichtümern zur Konsequenz haben kann – kaum bestritten; nicht jede Differenz an Chancen wird gleich als Folge von ungerechten Privilegiertheiten allgemeiner Kritik unterzogen. Zudem kommen zu all diesen Prinzipien, die in Widerspruch zueinander treten können und einen Raum der „komplexen Gleichheit“ (Michael Walzer) eröffnen, auch noch Erwägungen des Nutzens hinzu. Wenn die Durchsetzung von mehr Gleichheit zwar zur Verringerung der Privilegien der Oberen beiträgt, den Unteren aber allenfalls in ihrer relativen Position nützt, keineswegs aber in ihrer absoluten Wohlfahrt, so hat das Gleichheitsprinzip zweifellos schlechte Karten – insbesondere also, wenn umverteilende Maßnahmen tatsächlich die allgemeine Prosperität beeinträchtigen würden. Darum sollte der Egalitarismus zumindest moderat genug sein, „um im Konfliktfall ‚Gleichheit versus Wohlfahrt‘ nicht immer Gleichheit Trumpf sein zu lassen“. All diese Einschränkungen führen nicht wenige Gesellschaftstheoretiker dazu, das Gleichheitsprinzip vollends fallen zu lassen: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“ (Harry Frankfurter).

Totale Gleichheit der Einkommen ist nicht möglich, und die meisten Menschen halten sie wahrscheinlich auch nicht für erstrebenswert. Aber eine mindestens ebenso große Mehrheit hält dramatische Einkommensunterschiede für gleichsam verwerflich; kein Mensch kann darüber hinaus die totale Durchökonomisierung und -monetarisierung der Gesellschaft begrüßen. Zudem sind große Ungleichheiten ökonomisch kontraproduktiv. Alle Erfahrung zeigt, „dass ein höherer Grad an Ungleichheit“ für wirtschaftliches Wachstum „ungünstiger ist als ein geringerer Grad an Ungleichheit“ (Philip Green). Weit davon entfernt, dass eine Gesellschaft, die große Ungleichheiten zulässt, leistungsstärker wäre, „ist wachsende Ungleichheit selbst eine Ursache wirtschaftlicher Ineffizienz“ (Will Hutton). Sicherlich mag es eine Linie des Grenznutzens geben, ab der wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen die Prosperität eines Gemeinwesens einschränken und damit ihrem eigenen Ziel – allgemeiner Wohlfahrt – abträglich werden. Doch viel mehr als solchen eher theoretischen Fällen sollten wir uns der ganz und gar praktischen Erfahrung zuwenden, dass es gerade die generösesten Wohlfahrtsstaaten in Europa sind, die im internationalen Wettbewerb bestehen; insbesondere die These, ein starker Sozialstaat behindere Innovation, erweist sich, wirft man einen Blick auf alle empirische Evidenzen, als geradezu absurd.

Wer große Ungleichheiten in Kauf nimmt, akzeptiert nämlich, dass viele Menschen in wirtschaftlich und sozial deklassierten Verhältnissen leben; diese Menschen werden, wenn das gesellschaftliche Versprechen auf mehr Gerechtigkeit nichts mehr trägt, träge, perspektivlos, wenn nicht kriminell … Sie erzeugen soziale Kosten. Damit es auch der letzte Marktprophet versteht, sei hier in der Sprache der Wirtschafttheorie formuliert: Wenn es für diese Menschen keine Wahrscheinlichkeit für sozialen Aufstieg gibt – wenn also von rationalen Erwartungen auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr gesprochen werden kann –, dann werden diese Erwartungen notwendigerweise reduziert (möglicherweise auf einen Wert nahe null) und diese Menschen werden weit weniger zum allgemeinen sozialen und ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft beitragen als sie es ansonsten täten. Aber selbst wenn sie ihr bescheidenes Leben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Chancen so gut als möglich meistern, so wird eine solche Gesellschaft nicht jene – auch soziale – Mobilität inspirieren, die sie, gemeinsam mit der Flexibilität, zu ihrem beliebtesten Slogan gemacht hat: Sie wird chancenlose Unterklassen verfestigen und am anderen Ende der sozialen Leiter zu zunehmender Abschottung der Eliten führen.