Die Geburt eines finsteren Universums

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Kapitel 3




Mit einem Seufzer der Erleichterung warf ich die Wohnungstür zur WG hinter mir ins Schloss, ließ meinen Rucksack neben der Garderobe auf die Holzdielen fallen und ging schnellen Schrittes in die Küche.



Weil der Kater und die Nachwirkungen der Droge bislang verhindert hatten, im Verlauf der Nachtschicht außer einem Liter Coca Cola nichts weiter herunterzubekommen, galt es nun, vor dem Schlafengehen zumindest ein wenig Nahrung aufzunehmen.



Schnell ein Fertiggericht bestehend aus Cevapcici mit Reis in die Mikrowelle geschoben und am Küchentisch verspeist, worauf sich ein Wohlgefühl in meinem Körper breitmachte, jedoch die Müdigkeit noch mehr Gewicht bekam.



Ich öffnete den Kühlschrank, um eine Flasche Apfelschorle mit ins Schlafzimmer zu nehmen, da lenkte eine Dose Veltins meinen Blick ab, die mich förmlich anzulächeln schien; das berühmt, berüchtigte Katerbier.



Nachdem ich mich im Bad bettfertig gemacht hatte, suchte ich mir ein Buch - einfache Kost nach einer solchen Nacht - aus dem übervollen Bücherregal und setzte mich mit Bier und Lektüre auf meine geräumige Schlafstätte. Locker ging der vor Patriotismus triefende Schinken Tom Clancys von der Hand, im Radio spielte WDR3 klassische Musik zum Morgen und die Dose zischte beim Öffnen.



Ich trank zwei kleinere Schlucke Bier und kam keine drei Seiten weit, als die Müdigkeit übermächtig wurde.



Es gelang mir, noch schnell ein größeres Quantum Veltins zu nehmen und die halbvolle Büchse sicher auf dem Nachttischchen zu positionieren, bevor ich mich auf dem Bett ausstreckte und unter die Decke schlüpfte.



Während der hervorragend geschulte Moderator zwischen zwei Kompositionen den Zusammenhang von Bachs Musik und protestantischem Glauben erörterte, wurde mit einem Kopfsprung in den Ozean der Träume eingetaucht.






Die sanfte Stimme des Radiosprechers gehört mit all ihren Melodien nun einem kleinen Mann in schwarzem Frack und einer Melone über dem Mondgesicht, der mir sagt: „Willkommen in Argentinien! Das Pyramidenwesen, was die armen Kerle da umgebracht hat, wird bald in die Welt geboren. Der 11. September ist gar nicht dagegen. Bald ist es soweit. Frag` den Stein da, wenn du mir nicht glaubst."







Zum Abschied tippt er sich an die Melone und marschiert an dem Findling vorbei, der nun nicht mehr zwischen Tankstelle und Straße liegt, sondern unter strömendem Regen in einer finsteren Landschaft. Sie besteht überwiegend aus Gräsern und im Hintergrund türmen sich dunkle Berge auf, scheinen an den schwarz–grauen Wolken förmlich zu kratzen.







Die Sonne ist urplötzlich aufgegangen und hat die dreifache Größe, wie man sie von der Erde aus sehen kann. Sie knallt auf eine Szenerie bestehend aus grauen Kratern und kahlen, grauen Bergen hinab, lässt die Umwelt förmlich erglühen. Im grellen Licht steht der sechs Jahre ältere Boris Alexander Hermes in Closed Jeans und einem gelben Iceberg Pullover, den Donald Duck ziert. Seine schwarzen Haare sind streng nach hinten frisiert und er mustert mich durch eine Brille von Oliver Peoples. Mit ihm verbrachte ich eine kurze Zeit in meiner alten, hessischen Heimat. Boris großer Traum ist es bis heute, eines Tages zu den oberen Zehntausend zu gehören und ein Duzfreund von Boris Becker und Donald Trump zu werden. Früher zahlte seine Mutter, eine selbstständige Reiseverkehrskauffrau, für den Schein ihres Sohnes. Sie verhätschelte ihn. Dann, nach dem Fachabitur, verdiente er mit Kettenbriefen und schmieriger Telefonakquise sein Geld und heute, das ist der letzte Stand meines Wissens, ist er Betreiber einer recht zwielichtigen Kontaktbörse im Internet.





Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe, aber mein Bruder und ich haben noch den Boris in Wimbledon geschaut. Es ist schön, dass du auf dem Merkur vorbeischaust. Du musst da runtergehen!“, spricht er und versucht von der Stimme her Boris Becker zu imitieren, während sein Arm mit der goldenen Rolex am Handgelenk über die glühende Landschaft weist. „Es gibt hier viel zu entdecken. Doch es kommt immer anders, als man denkt. Zeit spielt keine Rolle. Die Zeit, die du kennst, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Und deshalb konnte geschehen, was geschah und geschehen wird. Deshalb richtete das Pyramidenwesen sein Unheil an, obwohl es noch längst nicht geboren wurde. Frag den Typen von Alpha Centauri, wenn du mir nicht glaubst, oder deinen neuen Freund Andreas. Aber am allerbesten stellst du diese Frage ins Große Kosmische Netz hinein! Ich hoffe, du hast eine Jacke dabei? Denn des nachts wird es auf dem Merkur sehr, sehr kalt! Wann gehen wir mal wieder in den Club Elfenbein zusammen?“





Boris verschwindet, zerplatzt wie eine Seifenblase.







Obwohl es auf dem Merkur kaum Atmosphäre gibt, die Schall transportieren kann, rasselt es hinter mir metallisch. Ich drehe mich um und sehe die Spitze einer Pyramide auf meine Nase zeigen. Auf der Pyramide gibt es einen silbernen Schnabel voller blitzender Reißzähne darin und weiter oben zum quadratischen Ende hin glimmt ein Streifen in Scharlachrot, pulsiert im Rhythmus eines unheilvollen Herzschlages. Der Schnabel fängt zu rotieren an. Das Gebiss wird mich in Fetzten reißen!







Ich spüre die kalte Hand der Furcht in meinen Eingeweiden, den Angstschweiß auf meiner Haut. Ich möchte weglaufen, aber eine Ganzkörperlähmung hat mich befallen. Mein Mund öffnet sich zum finalen Todesschrei...






Ich erwachte und wusste zunächst nicht genau, welcher Ort sich um mich herum befand.



Draußen, vor den Vorhängen des Fensters war es bereits dunkel und die leuchtenden Ziffern des Radioweckers zeigten 20:12 Uhr an.



Der Schlaf nach vielen Stunden der Schlaflosigkeit hatte beinahe zwölf Stunden gedauert.



Im Radio, das noch immer leise lief, verlas ein Sprecher die Nachrichten vom Tage und aus dem Wohnzimmer drang gedämpfte Rockmusik durch die geschlossene Zimmertür. Unüberhörbar entstammte sie der Feder meines Mitbewohners. Nun durchforstete er die dynamische Komposition durch wiederholtes Probehören nach Verbesserungsmöglichkeiten. Immer wieder stoppte er eine bestimmte Passage, fuhr sie zurück, um sie erneut gar streng unter die Ohren zu nehmen.



Nun erst wusste ich, dass ich mich hundertprozentig daheim, in Sicherheit und nicht in der glühenden Landschaft des Merkurs befand, und einer schwebenden, schwarzen Pyramide gegenüberstand, welche im Begriff war, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten.





Der Traum! Du musst ihn aufschreiben, sonst hast du ihn vergessen, bevor du gleich unter der Dusche stehst! Und ist es außerdem nicht schön, wieder vollkommen klar und ohne Kater zu sein!





Und so setzte ich mich mit Papier und Lamy–Füllhalter, der gleiche, mit dem vor beinahe sieben Jahren die Abiturklausuren erfolgreich absolviert worden waren, an den Schreibtisch und schrieb im Schein der Schreibtischlampe den bislang wohl seltsamsten Traum meines Lebens nieder.



Heute stand die letzte Nachtschicht auf dem Programm und nach dem Duschen blieb mir noch eine gute Stunde, bis ich mich auf den Weg zur Arbeit machen musste.



Bei einer kräftigen Tasse Ceylon Assam-Tee berichtete ich im Wohnzimmer Michael, der mit Mischpult und PC–Musikprogrammen vor zwei 17 Zoll-Monitoren hantierte, von dem komischen Vogel Andreas, dessen und meinen Träumen.



„Lad` den Typen doch mal ein. Deiner Beschreibung nach passt er ganz ausgezeichnet in unsere WG.", kommentierte er, worauf wir beide lachten.






Kapitel 4




Es sollte jedoch ein wenig Wasser die größeren und kleineren Ströme Ostwestfalens herunterfließen, bis sich die Wege von Andreas und mir wieder kreuzen sollten.



Von meiner Arbeitsstelle aus sah ich ihn manchmal durch die Schaufenster, während er mit dem Aktenkoffer am langen Arm und einem Rucksack auf dem Rücken an der Tankstelle vorbeilief, selbstverständlich stets dabei den Linien zwischen den Bodenplatten folgend.



Eines Sonntags, ich hatte eine jener unsäglichen Frühschichten erwischt, während der man es hauptsächlich mit Brötchen kaufenden Rentnern und tankenden Ausflüglern zu tun bekam, stapfte Andreas beinahe entschuldigend dreinschauend in den Shop hinein. Immer mal wieder blickte er ängstlich zu meinem Kollegen an der zweiten Kasse herüber. Er erwarb ein Päckchen Drehtabak, Filter und Papier dazu und fragte mich leise, ob ich kurz Zeit habe, vor der Station mit ihm eine zu rauchen.



In der Erwartung, wieder die Geschichte eines schaurigen Traumes erzählt zu bekommen, verließen wir gemeinsam die Station, um an dem großen Aschenbecher vor dem Bistrobereich eine zu qualmen. Da ich normalerweise nur am Abend mein Tütchen rauchte, ließ mich diese Zigarette am frühen Morgen leicht schwindeln.



Es täte ihm leid, dass er mich mit seinen kindlichen Alpträumen belästigt habe. Er würde so was nie wieder tun. Viele, viele Male Entschuldigung.



Er schaute mich an wie ein kleiner Junge, den man beim Doktorspielen mit seinem besten Freund erwischt hatte.



Meine Antwort lautete, dass er sich keinen Kopf zu machen brauche. Im Gegenteil. Seine Traumgeschichte sei überaus kurzweilig und interessant gewesen und habe bei mir einen ebenfalls äußerst skurrilen, jedoch auch extrem unheimlichen Traum ausgelöst. Ob er nicht mal Lust verspüre, in die Wohngemeinschaft auf ein zwangloses Treffen zu kommen?



Nun schaute er fröhlich drein, ähnlich einem Kind, welches sein absolutes Wunschgeschenk unter dem Weihnachtsbaum entdeckt.



„Ja, super! Da freue ich mich doch sehr!", jubelte Andreas.

 



Wir tauschten die Mobilfunkrufnummern aus und freudestrahlend trabte er von dannen.






Kapitel 5




Eine Woche später holte mich Andreas an einem Samstagabend um 22:00 Uhr zum Dienstschluss einer Spätschicht an der Tankstelle ab.



Wir verlebten einen herrlichen Abend im Wohnzimmer der WG bei Musik der Doors, Pink Floyds und der Rolling Stones, wobei es Pils aus der Flasche gab und hier und da eine ordentliche Grastüte die Runde machte.



Andreas trug die ganze Zeit einen freudigen Ausdruck auf dem Gesicht, den ich damit in Verbindung brachte, es hier mit einem Menschen zu tun zu haben, der nur äußerst selten in den Genuss einer geselligen Runde kam.



Er erzählte uns, dass er aus einer norddeutschen Unternehmerfamilie stamme, die unter anderem in Klimatechnologie und Zulieferer des Volkswagen Konzerns investiere. Sein älterer Bruder sei mit Freuden bei dem großen, kapitalistischen Spielchen dabei und werde dem Firmengeflecht, das seinen Ursprung einst im Reederei-Geschäft gehabt habe, sicherlich eines Tages vorstehen. Für ihn persönlich käme das allerdings überhaupt nicht in Frage, da er durch und durch Wissenschaftler sei und ein Wissenschaftler tue eben forschen und nichts anderes wolle er tun. Im Großen und Ganzen besäße er nicht das tollste Verhältnis zu Bruder und Eltern, die eine Weile angenommen hätten, dass ihr jüngerer Sohn Autist sei, weil Andreas bereits als Kind schon endlose, einsame Stunden und Tage vor seinem Atari–Computer oder über wissenschaftlichen Büchern verbracht hätte.



Das Physikstudium habe er in nur drei Jahren erfolgreich mit einem Einser-Diplom absolviert und im Alter von achtundzwanzig Jahren sei er zum Doktor der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Kernphysik promoviert worden. Abschließende Bewertung: summa cum laude. Das Informatikstudium mache er mehr für sich selbst, könne sich aber auch hier eine Dissertation vorstellen.



Es war ein wahrlich netter Abend, beziehungsweise eine sehr nette Nacht, zu deren Ende hin wir alle leicht oder weniger leicht einen in der Krone hatten.



Andreas wurde nicht müde, zu beteuern, wie gut ihm die Zeit in der WG gefallen und dass er eine solch nette Runde längere Zeit nicht erlebt habe.



Er lud Michael und mich zu einem Revanche-Abend bei sich daheim ein.



Ich wurde ein wenig traurig und mitleidig, weil mir an Hand seiner eben getroffenen Aussagen und auch wegen der Erzählungen über seine Familie klar geworden war, dass es sich bei unserem Akademiker um einen sehr einsamen Menschen handelte; einen Außenseiter, den nur so durchgeknallte Personen wie Michael und ich akzeptierten, obgleich er gewaltige Intelligenz besaß und Mitten im Leben stand.



Zwei Monate später erfolgte der Besuch bei ihm daheim.



Andreas lebte in einem schönen, sanierten Altbau im Stadtteil Gadderbaum.



Seine Wohnung, Eigentum und Geschenk seiner Eltern, wies einige Absonderlichkeiten auf. Sie besaß Küche, zwei Badezimmer und vier große Zimmer, von denen allerdings nur zwei Mobiliar enthielten. Eines war eine Mischung aus Schlaf- und Arbeitszimmer, das andere das Wohnzimmer, wobei auch hier reichlich Utensilien aus dem Berufsleben des Gastgebers herumlagen. Andreas besaß kein Bett, sondern nächtigte auf einer schlichten Matratze und im Bettzeug des FC St. Paulis. Er hatte weder Fernseher noch Stereoanlage, dafür aber mindestens vier PCs und zwei Notebooks, die allesamt aus dem Hause Apple stammten. Übervolle Bücherregale nahmen einen Großteil der Wände ein und dort, wo sie Platz ließen, hingen wissenschaftliche Skizzen an den Wänden. Zur Einrichtung gehörten auch zwei Schreibtische, die beide überquollen vor Notizen und Berechnungen.



Das Komischste bekamen wir in der Küche zu sehen, wo lediglich ein großer Kühlschrank umherstand.



Außer Sandwichs und kalten Ravioli aus der Dose verzehre der Wissenschaftler nichts weiter und wenn er tatsächlich Lust auf eine warme Mahlzeit verspüre, gehe er außerhalb essen, bevorzugt in der Gadderbaumer Grillstation oder bei dem Griechen im Herzen von Bethel.



Zwei Räume enthielten nichts weiter als gähnende Leere und eine dünne Staubschicht bedeckte an diesen Orten den Parkettboden.



Im Wohnzimmer nahmen wir auf Sesseln und Sofa Platz, die nicht zusammenpassten, und Andreas warf einen seiner Computer und indianische Musik an. Sie klang vollkommen anders als jene Töne, die man hier in Europa als native Klänge vertrieb; exotisch, aber durchaus interessant und angenehm zu vernehmen.



„Vor drei Jahren habe ich eine Reise durch den Amazonas Regenwald gemacht.", fing Andreas zu erzählen an. „Ich bin mit einem Boot über den Amazonas tief in den Regenwald hineingefahren. Bei einem Stamm, einem ganz kleinen Volk, das so lebt wie eh und je, habe ich diese Musik zum ersten Mal gehört und ein Getränk getrunken, was die aus geheimen, pflanzlichen Zutaten gegoren haben. Mann, Mann, Mann. Das war vielleicht ein abgefahrener Trip."



Michael forderte ihn auf, er solle uns doch die ganze Geschichte erzählen und so berichtete Andreas in aller Ausführlichkeit.




Diese Semesterferien sollten nur mir gehören.



Zuvor hatte ich meine Promotion mit einem sehr erfolgreichen Rigorosum abgeschlossen und war von der Universität zum 01. Oktober 1999 fest eingestellt worden. Und natürlich besaß ich durch meine Eltern genügend finanzielle Ressourcen, um mir eine achtwöchige Reise durch den südamerikanischen Regenwald leisten zu können. Es war ohnehin mehr ein zeitliches Problem als eine Frage des Geldes gewesen.



Von Frankfurt am Main aus flog ich mit Lufthansa nach Sao Paulo, wo mich mein Weg zu einem kurzen Besuch bei einem meiner Cousins führte, der in der Megametropole für eine der Firmen meiner Eltern arbeitete. Von dort ging es weiter in die Niemeyer–Stadt Brasilia, ein am Reißbrett geplanter und durchdachter Ort, faszinierend zu entdecken. Hier hielt ich mich für drei Tage auf, bevor es über Manus weiter nach Santarem ging, den eigentlichen Ausgangspunkt meiner Reise. Dort traf ich Pedro, den Reiseleiter, der mich auf meiner Tour entlang des Amazonas begleiten sollte, und Mike, einen langjährigen Brieffreund, der aus einer alteingesessenen Familie von der Ostküste der Vereinigten Staaten stammte.



Zusammen fuhren wir in einem kleinen Motorboot den mächtigen Strom hinauf, wobei wir Vorräte und Schiffsdiesel an kleineren Versorgungsstationen entlang der Route auffrischten.

Für mich war es eine begeisternde, faszinierende Angelegenheit, die Flora und Fauna des Regenwaldes, die ich bislang nur aus Büchern und Dokumentarfilmen kannte, einmal in natura zu sehen. Weiterhin stimmte die Chemie in unserer kleinen Dreimann-Reisegruppe, was die ganze Angelegenheit noch angenehmer gestaltete.



Wir machten die Bekanntschaft mit manch indigenem Stamm und durften stets bei den äußerst gastfreundlichen Indios für ein paar Stunden verweilen und gelangten so an kleine Einblicke in deren gänzlich andere Welt.



Am zehnten Tag unserer Reise verweilten wir bei einem Stamm, deren Angehörige rote Tücher, jedenfalls sahen sie wie rote Tücher aus, um die Lenden und rot–schwarze Bemalungen auf den Körpern trugen. Sie kamen ungemein freundlich daher und zwei aus ihrer Mitte sprachen gar vorzügliches Englisch. Sie luden uns ein, am Abend an einer feierlichen Zeremonie teilzunehmen, was man sich als junger, wissenschaftlich denkender Mensch nicht entgehen lassen konnte.



Dieser Zeremonie lag etwas Naturreligiöses zu Grunde und die Musik, die dabei auf rasselnden Instrumenten spielte, ging dem Zuhörer durch Mark und Bein. Sie begleitete ein leicht monoton wirkender Gesang.



Im Verlauf der Zeremonie wurde eine hölzerne Schale mit einer trüben, bernsteinfarbenen Flüssigkeit herumgereicht, über die Pedro uns verriet, dass es ein gegorenes Getränk aus Wurzeln, Pflanzen, Früchten und Pilzen des Regenwaldes sei, dessen Rezeptur von einem Volk stamme, welches noch keinerlei Kontakt zur westlich–brasilianischen Kultur gehabt habe, sondern lediglich zu indigenen Stämmen in seiner Nachbarschaft. Das Getränk habe neben der alkoholischen auch eine halluzinogene Wirkung und wir sollten dieser Substanz gegenüber eine gewisse Vorsicht an den Tage legen, da man uns aus Gründen der Gastfreundschaft sicherlich dieses Getränk anbiete.



Es geschah, wie es unser Expeditionsleiter prophezeit hatte, und als die Schale an mich kam, nahm ich einen kleinen Schluck, wobei mir Pedro die ausreichende Menge durch ein Kopfnicken bestätigte, so dass ich die Schale absetzte und weiterreichte.

Das Gebräu schmeckte leicht bitter, doch gar nicht verkehrt und ich fühlte mich ein klein wenig an Bier erinnert, welches einen hohen Anteil an Alkohol aufweist, vergleichbar etwa mit dem dunklen Starkbier aus dem Hause Kloster Andechs.



Umgehend setzte die Wirkung des Alkohols ein und ich fing an, meinen Oberkörper im Takte der Musik vor und zurück zu bewegen.



Eine der Frauen warf irgendwelche Pflanzenreste in das hochlodernde Feuer, worauf wir alle von einem süßlichen Schleier aus blauem Qualm eingehüllt wurden, der die Augen ganz leicht zum Tränen brachte. Die halluzinogene Wirkung, so hatte Pedro es Mike und mir erklärt, setze nach etwa einer Dreiviertel-, spätestens nach einer Stunde ein.



Die Wirkung kam und sie war tatsächlich fantastisch.



Ich wurde eins mit der Natur und all den Menschen, die sich hier in diesem kleinen Dorfe am Ufer des Amazonas aufhielten. Alles schien über unsichtbare, vibrierende Fäden miteinander verbunden zu sein, so dass man fühlen konnte, was der andere fühlte und wahrnahm, was der andere dachte.



Auch das Leben in den Bäumen und den übrigen Pflanzen schien mit einem kommunizieren zu wollen, ja gar die Steine und Felsen, das Wasser des Flusses und die Erde unter unseren Füßen. Alles gab ganz eigene, für sich sprechende Schwingungen von sich. Über diese Schwingungen konnte ich zum Beispiel deutlich die grundlegenden Charakterzüge alles Lebenden wahrnehmen.



Unter dem Strich waren die meisten Erfahrungen dieser Nacht von einer unglaublichen, positiven Natur, so dass es einen Wahnsinn darstellte, eine solche Erfahrung erleben zu dürfen.



Neben den Schwingungen gab es selbstverständlich weitere Erfahrungen bewusstseinserweiternder Natur.



Ich konnte durch die Blätter der gewaltigen Baumkronen direkt auf die Sterne und hinter diese sehen und verstand endlich, was Neil Young in seinem Lied

Helpless

 mit der Passage >>...blue, blue windows behind the stars...<< zu vermitteln versuchte.



Die Erkenntnis, dass die Welt und der Kosmos und alles sich darin befindliche eng miteinander verbunden sind, wog ungemein wohltuend, in jenen gefühlten Momenten gar befreiend.



Mit dem Beginn eines neuen Tageslichtes setzte langsam, aber sicher das Runterkommen ein. Allmählich gewann die Welt den Zustand zurück, den sie besaß, wenn man als Normalsterblicher durch sie zog, und mit diesem seichten Prozess setzte eine tiefgehende Müdigkeit ein.



In der Gästehütte schliefen Mike, Pedro und ich auf einer Art Kokosmatte lange, tief und traumlos.



Als wir erwachten, waren beinahe vierundzwanzig Stunden vergangen und es wurde Zeit, die Reise fortzusetzen.



Beim Verlassen des Dorfes fragte ich einen der beiden englischsprachigen Indianer, ob es eine Möglichkeit gebe, an einen Tonträger mit der Zeremonienmusik zu gelangen. Er antwortete, dass ein Mitglied seines Volkes in Santarem einen kleinen Laden betrieb, in dem man native Gegenstände und Souvenirs erwerben könne. Dort gebe es eine ordentliche Auswahl an indianischer Musik.



Tatsächlich erstand ich dort auf der Rückreise eine CD als Erinnerung an diese unvergessliche Nacht im Herzen des brasilianischen Regenwaldes.



Nun war unsere Reise noch nicht beendet, denn es stand abschließend ein dreitägiger Besuch von Buenos Aires auf dem Programm, bevor sich am dortigen Flughafen die Wege Mikes und meiner Person trennen sollten.



Wir bewohnten ein wundervolles Hotel im Herzen der argentinischen Hauptstadt, zogen durch die zahllosen Bars des Hafenviertels, wo man Tango Tänzerinnen und Tänzer bei ihren prächtigen, künstlerischen Verführungen bewundern konnte. Ja, der Tango war eindeutig zusammen mit der Verehrung des exzentrischen, ehemaligen Fußballstars Diego Maradona die Seele dieses Stadtteils.



Obgleich sich zwei merkwürdige Dinge in dieser Metropole zutrugen, bleibt Buenos Aires eine der schönsten Städte, die ich in meinem Leben besucht habe.



Zum einen wurde ich in der ersten Nacht von einem merkwürdigen Traum heimgesucht, kein Alptraum, aber auf eine gewisse Art und Weise schon recht unheimlich.

 



Hier der Traum in der Zusammenfassung: Ich stand auf dem Balkon meines behaglichen Hotelzimmers und blickte statt auf das rege Großstadttreiben über die karge Pampa Patagoniens, die in einem trüben Zwielicht vor sich hin schimmerte. Aus diesem Halbdunkel rief irgendetwas über die Schwingungen nach mir, doch konnte ich nicht erkennen, wer oder was dort nach mir verlangte. Mit Schwingungen meine ich genau die Schwingungen, die ich auch verspürt habe, als ich bei den Indios gewesen bin und an deren Zeremonie teilgenommen habe. Er, sie oder es rief mich, nach Patagonien zu kommen oder an sonst einen Ort auf der großen, weiten Welt.



Dann erwachte ich, war zunächst einmal verwirrt und orientierungslos und dann um so erleichterter, als mir bewusstwurde, dass ich mich im Bett meines Hotelzimmers und nicht in der Pampa befand. Da draußen noch Dunkelheit vorherrschte, konnte der Schlaf nicht allzu lang gedauert haben und es gelang mir nicht, zügig wieder einzuschlafen, so dass ich mich auf den Balkon begab, als wolle ich auf Nummer sicher gehen, dass unter mir auch tatsächlich das nie wirklich zur Ruhe kommende Buenos Aires lag und nicht etwa eine wilde Landschaft.



Aus reinem Interesse stellte ich schnell mit Hilfe des Stadtplans fest, dass mein Balkon tatsächlich nach Süden und somit in Richtung Patagonien wies; ein Faktum, welches ich schon recht unheimlich fand.



Eine weitere Seltsamkeit war noch unheimlicher, weil sie sich im wahren Leben am helllichten Tage ereignete.



Wir erreichten im Rahmen einer unserer Streifzüge den Plaza de la Republica mit dem fast siebzig Meter hohen Obelisken. Ob ihr es mir glaubt oder nicht, der Obelisk rief nach mir. Er rief mich, aufzubrechen und sendete zudem über die Schwingungen eine Botschaft, die zu verstehen ich nicht mächtig war. Denn sie wurde in einer gänzlich anderen Sprache kommuniziert. Es hat sich angehört wie diese Geräusche, die man von Jupiters Magnetfeld empfangen kann.



Natürlich ging sofort durch meinen Kopf, dass das alles ein Backflash von den Drogen sein könne, die sich in dem gegorenen Getränk befunden hatten. So fragte ich Mike, ob er ähnliche Effekte verspüre, worauf Mike diese Frage verneinte und zu beruhigen versuchte, indem er sagte, dass sich Drogen von Mensch zu Mensch unterschiedlich auswirkten und es sich durchaus um einen Backflash gehandelt haben könnte.



Ich musste einfach dort stehen und den Obelisken anstarren, während diese seltsamen Schwingungen mir in einer gänzlich unbekannten Sprache etwas zu erzählen versuchten. Es erschien für mich unbegreiflich, warum all die anderen Menschen, die über die Gehsteige flanierten, das nicht bemerkten.



Es war der Auftakt zu einer langen Serie von seltsamen Träumen und Erfahrungen.




Nachdem Andreas seine Erzählung beendet hatte, versicherte er uns, dass wir neben seinem fernen Freund in Amerika und einer losen Freundin die einzigen Personen seien, die von dieser Geschichte wussten.



Nun entbrannte eine lebhafte Diskussion darüber, in wie weit die im Regenwald konsumierte Droge ihren Anteil an diesen Zuständen trüge und da es sich um ein besonders offenes Gespräch handelte, machte natürlich schnell die Idee die Runde, dass Andreas, um es in schönem Neudeutsch zu formulieren, eventuell auf dem Trip hängen geblieben sei. Unser Gastgeber entgegnete darauf, dass er sich dahingehend bereits einer Bekannten anvertraut habe, die als Neurologin am Hamburger Universitätsklinikum arbeite.



„Sie hat mich eingehend untersucht und nichts Auffälliges gefunden. Mein Gehirn arbeitet ganz normal.", erklärte er uns. „Ich habe mir da eine ganz verrückte Idee zurechtgelegt. Könnte es vielleicht möglich sein, dass es ein Netzwerk gibt, welches alles und jedes Leben, das sich in diesem Kosmos befindet, miteinander verbindet? Es verbindet uns über Schwingungen. Vielleicht war ich durch diese Droge tatsächlich Teil dieses Netzwerks. Ich war in dieser Nacht am Amazonas eine Einheit mit meinen Mitmenschen und der Natur. Das ist so sicher wie der Mehrwertsteuer. Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass diese Verbindung über unseren hübschen, kleinen Planeten hinausgeht. Alles, und damit meine ich alles, hängt zusammen!“



„Und was ist dann später in Buenos Aires los gewesen?“, hakte Michael nach.



„Ich denke, dass die Wirkung der Droge einfach länger angehalten hat. Ich war dann plötzlich wahrscheinlich mit jemanden verbunden und derjenige mit mir, der sich in Patagonien aufgehalten hat. Vielleicht wollte er mir das mitteilen.“, antwortete Andreas und entzündete die erloschene Tüte.



Dichter Qualm und ein intensiver Marihuanageruch hüllten die Sitzecke ein.</