Medizingeschichte

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2.2.3 Anatomische Theater

Im ausgehenden Mittelalter fanden die anatomischen Lehrsektionen mit ihrer theatralisch-feierlichen Schaustellung für Fakultätsmitglieder, Studenten und Vertreter der Obrigkeit gelegentlich sogar unter freiem Himmel statt, z. B. in Wien, wo im Jahre 1404 für eine solche „anatomia solemniter celebrata“ der dortige Spitalfriedhof ausgewählt wurde. 1484 verlagerte man die Sektionen in das Gebäude der Wiener medizinischen Fakultät, da, wie der Chronist berichtet, die „Lehrer und Schüler in der Winterszeit dem Ungemach der Witterung ausgesetzt waren“ (zitiert nach Wolf-Heidegger/Cetto, 1967, S. 65). Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte ein Professor der Medizin in Padua, Alexander Benedetti (etwa 1450–um 1512), in seinem Werk Anatomia sive historia corporis humani (Venedig 1493) die Idee propagiert, ein für die Sektion geeignetes Gebäude an einem luftigen Ort nach dem architektonischen Vorbild des römischen Amphitheaters zu errichten (Eckart, 2005). Das Objekt des wissenschaftlichen [<<49] Interesses, die Leiche, sollte auf einem erhöhten Tisch im Zentrum dieses „Theatrum Anatomicum“ platziert werden, damit sie von den Zuschauerrängen gut sichtbar sei und der dozierende Anatom bequem seinen Schnitt setzen könne. Noch offenkundiger wird der Zusammenhang zwischen ärztlicher Kunst und Schauspielkunst in den Ausführungen des französischen Anatomen Charles Estienne (ca. 1505–1564/65). In seinem 1545 veröffentlichten Werk (De dissectione partium corporis humani) vergleicht er die Anatomie mit einem Schauspiel und bezeichnet die Leiche, die seziert wird, als eine Art Bühnenfigur, die gut sichtbar sein müsse („quicquid in theatro spectandum exhibetur“). Und so sollte an dem Ort, wo sich im antiken Theater der vorderste Teil der Bühne, das Proszenium, befand, die „tabula anatomica“, der Seziertisch, aufgestellt werden. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts werden diese Ideen umgesetzt und anatomische „Schaubühnen“ in einigen europäischen Universitätsstädten fest installiert. Am bekanntesten ist zweifellos das bereits erwähnte Anatomische Theater in Padua, das 1594 nach Plänen des dortigen Lehrstuhlinhabers für Anatomie, Fabricio d’Acquapendente (ca. 1533/37–1619), errichtet wurde und zum Vorbild für ähnliche Bauten in ganz Europa wurde. Der Übergang vom Provisorium oder „temporarium theatrum“ während der Wintermonate zum besonderen „Zergliederungshaus“, aus dem dann später durch Angliederung weiterer Räume die Anatomischen Institute des 19. Jahrhunderts entstanden, vollzog sich in Deutschland allerdings erst im 18. Jahrhundert.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schlossen sich dann auf Dauer die Türen vieler Anatomischer Theater für Laien. Die Mediziner wollten fortan unter sich sein, nicht mehr die Sensationsgier der Menge mit Demonstrationen an der Leiche befriedigen. Gleichzeitig zeichnete sich ein Wandel der Unterrichtsmethode ab. Anatomisches Wissen wurde nicht mehr wie früher im Hörsaal vor einem größeren Publikum vermittelt, sondern in Präparierkursen, zu denen in der Regel nur Medizinstudenten Zugang hatten. An dem eher nüchternen Forschergeist und der sterilen Atmosphäre, die seit jener Zeit in den Unterrichtsräumen der Anatomie herrschen, hat sich bis heute wenig geändert, wenngleich man gelegentlich ein Phänomen beobachten kann, das man bereits längst überwunden glaubte. Als Gunther von Hagens im November 2002 in London eine öffentliche Leichenöffnung vornahm, und zwar passend mit einer Bildprojektion von Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp in Szene gesetzt, rechtfertigte er sein Spektakel mit dem Hinweis auf die notwendige „Demokratisierung der Anatomie“. [<<50]

2.2.4 Laboratorium

Neben einem Anatomischen Theater und einem Botanischen Garten hatten einige medizinische Fakultäten bereits im 17. Jahrhundert ein Laboratorium chymicum. Vorläufer waren die Laboratorien der Alchemisten, in denen mit Verfahren der Sublimation und Destillation experimentiert wurde. Rekonstruktionen solcher Alchemisten-Werkstätten finden sich heute in medizin- und pharmaziehistorischen Museen. Wie es aber tatsächlich in einem solchen Laboratorium ausgesehen hat, wissen wir vor allem durch einen bemerkenswerten archäologischen Fund aus dem Jahre 1980. Damals wurde in Niederösterreich ein Alchemistenlaboratorium aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entdeckt. Gefunden wurde ein fast vollständiges Inventar eines Labors, das über 1000 Objekte umfasst, darunter zahlreiche Destillier- und Sublimiergefäße.

Bis zu den „Tempeln der Wissenschaft“ (Lenoir, 1992) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war es allerdings ein langer Weg. Eines der ersten klinischen Laboratorien entstand 1808 in Halle. Bis zur Errichtung weiterer Laboratorien in Krankenhäusern vergingen allerdings noch mehrere Jahrzehnte. Wie bescheiden sich die „Revolution im Laboratorium“ in ihren Anfängen ausnahm, verdeutlichen die Arbeitsbedingungen Robert Kochs zu Beginn der 1870er Jahre. Die Entdeckung des Milzbranderregers erfolgte in einer durch einen Vorhang abgeteilten Kammer seiner Landarztpraxis. Einen virtuellen Blick in das physiologische Labor von Claude Bernard (1813–1878) oder in das 1879 von Wilhelm Wundt (1832–1920) in Leipzig gegründete „Institut für experimentelle Psychologie“ ermöglicht inzwischen ein Mausklick auf die Webseite des Berliner Max Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de). Wer sich für die Instrumente interessiert, mit denen Physiologen damals experimentierten, der kann das berühmte Trommelkymographion, den „Wellenschreiber“, der die synchronisierte Aufzeichnung einer oder mehrerer physisch-psychischer Reaktionen (Puls, Blutdruck, Schweißausbrüche) in Form einer Zeitkurve ermöglichte, in Augenschein nehmen. Man erfährt nicht nur etwas über die Anwendung dieser Instrumente, sondern auch über die Konzepte, die diesen Versuchen zugrunde lagen. Zudem kann man sich dank der virtuellen Technik einen Eindruck von den institutionellen und vor allem räumlichen Rahmenbedingungen dieser Forschungen machen. Wenn man den Button „Experimente“ anklickt, bekommt man dank modernster Animationstechnik eine anschauliche Demonstration der damaligen Laborversuche.

Bislang hat die Medizingeschichte kaum die Anregungen von Wissenschaftshistorikern wie Bruno Latour aufgegriffen und sich mit der Ästhetik und Raumordnung des Laboratoriums befasst. Die medizinischen Forschungsstätten, die in Deutschland [<<51] seit den 1880er Jahren gegründet wurden und zum Teil in Neubauten untergebracht waren (z. B. das Hygiene-Institut in München), spiegeln das Wissenschaftsverständnis der damaligen Zeit wider (Dierig, 2006). Schon die zum Teil beachtlich große Anlage dieser Einrichtungen verweist auf Claude Bernards Diktum, das Laboratorium sei „das wahre Heiligtum der wissenschaftlichen Medizin“ und das Krankenhaus lediglich die „Vorhalle“. Zudem lassen sich in der Raumordnung wissenschaftliche Arbeitsabläufe, die charakteristisch für die experimentelle Forschung sind, erkennen und rekonstruieren. Die Architektur der frühen medizinischen Großforschungseinrichtungen ist, was Funktionalität und Stil betrifft, Ausdruck der engen Kooperation mit der Industrie. Hier ist allerdings noch viel Forschung nötig (Jardine, 1992).

2.2.5 Menschliche Überreste

Menschliche Überreste (Knochen, Moorleichen, Mumien) sind zwar (mit Ausnahme der Plastinate) keine Artefakte im engeren Sinne, gehören aber ebenfalls zu den dreidimensionalen Objekten, aus denen die Medizinhistoriker Erkenntnisse über Krankheiten und Therapiemöglichkeiten in der Vergangenheit gewinnen können. Die Erschließung dieser Quellen fällt üblicherweise in das Aufgabengebiet der Anthropologie bzw. der Paläopathologie.

Waren im 19. Jahrhundert die Arbeiten der Forscher, die sich auf diesem Feld betätigten, noch weitgehend beschreibend, so ging man Anfang des 20. Jahrhunderts bereits stärker analytisch vor. Impulse für die Entwicklung dieser Spezialdisziplin gingen vor allem von Untersuchungen an ägyptischen Mumien aus. Erst vergleichsweise spät richtete sich das Augenmerk nicht mehr allein auf Einzelfunde, sondern auf Gräberfelder, die Aufschluss über eine größere Population geben konnten. Berühmt wurden die Untersuchungen über Friedhöfe auf dem Gelände ehemaliger Aussätzigenspitäler in Dänemark (Møller-Christensen, 1973). Sie lieferten wichtige Erkenntnisse über die Verbreitung der Lepra im mittelalterlichen Europa. Das erste Standardwerk des noch jungen Teilgebiets der Anthropologie des Menschen erschien Mitte der 1960er Jahre (Jarcho, 1965). Inzwischen ist die Paläopathologie interdisziplinär ausgerichtet (Pinhasi/Mays, 2008). Dazu gehört nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit Gerichtsmedizinern, Toxikologen und Ernährungsforschern. Auch die Methoden haben sich verändert. Neben der makroskopischen Diagnostik, die ihr Augenmerk auf die Form, Größe und Oberflächenbeschaffenheit eines Fundes richtet, spielen inzwischen röntgenologische und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen sowie DNA-Analysen und Nachweisverfahren für Spurenelemente eine immer größere Rolle. Wie problematisch solche paläopathologischen Untersuchungen trotz des Einsatzes modernster Techniken [<<52] sind, zeigen die immer wieder neuen Theorien, die über die Todesursache berühmter Patienten (z. B. Pharaonen) aufgestellt werden. Dabei fehlt es nicht an Warnungen von Gerichtsmedizinern, die immer wieder darauf hinweisen, dass beispielsweise bei der Interpretation von Arsenbefunden in Haaren größte Vorsicht geboten ist.

Ein unbestrittenes Ergebnis zahlloser paläopathologischer Untersuchungen ist dagegen, dass schon in frühgeschichtlichen Kulturen Menschen an Krankheiten litten, die wir heute als Zivilisationskrankheiten einstufen. Dazu zählen Zahnkaries und Parodontose, aber auch degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen. Ob man nun mumifizierte Leichen aus den frühen Hochkulturen oder Knochenfunde aus mittelalterlichen Gräberfeldern untersucht, auffällig ist die soziale Differenzierung bei den Wirbel- und Gelenkerkrankungen. Arthrosen der großen Gelenke fanden sich beispielsweise eher bei Männern als bei Frauen und hier wiederum häufiger bei Angehörigen der Unterschicht. Auch bei der Körpergröße lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern und zwischen sozialen Gruppen feststellen.

 

Die systematische Auswertung der Skelettfunde auf historischen Friedhöfen erlaubt außerdem die Berechnung des sogenannten Maskulinitätsindex sowie die Aufstellung von Sterblichkeitstafeln (Historische Demographie, S. 261). Dadurch ist eine paläodemographische Rekonstruktion der betreffenden Population möglich. Selbst Aussagen über die durchschnittliche Lebenserwartung und die Kindersterblichkeit können auf diese Weise gemacht werden.

Auch über die therapeutischen Möglichkeiten in einer Zeit, für die wir kaum oder gar keine schriftlichen Zeugnisse haben, geben Skelettuntersuchungen Auskunft. Ein besonders beliebtes Steckenpferd der Medizingeschichte sind die vielfach belegten Schädeltrepanationen, deren Deutung als operative Eingriffe allerdings umstritten ist. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass neben magischen oder rituellen Motiven ebenfalls therapeutische Ziele (Behandlungsversuche von Nerven- und Geisteskrankheiten) eine Rolle gespielt haben könnten. Selbst frühe Formen der Akupunktur glaubt man im Falle der Gletscherleiche, die unter den Namen „Ötzi“ weltbekannt wurde, nachweisen zu können (Fornusek, 2001). Erstaunlich gute Knochenbruchheilungen deuten darauf hin, dass diese nicht nur zufällig zustande gekommen sind, sondern von der schon recht frühen Verbreitung chirurgischen Grundwissens (Stichwort ‚Knochenfixierung‘) zeugen. Eine von einem Chirurgen oder Wundarzt vorgenommene Amputation konnte bislang noch an keinem Skelettfund aus der Zeit des Frühen Mittelalters nachgewiesen werden. Die häufig bei menschlichen Überresten anzutreffenden Gliedmaßenverluste dürften meist Folge von Bestrafungen, Unfällen, Erfrierungen oder Verbrennungen gewesen sein. [<<53]

Wie die Einbeziehung paläopathologischer Erkenntnisse die Medizingeschichte bereichern kann, wenn andere Quellen mit herangezogen werden, haben einige wenige bahnbrechende Studien über Krankheiten und Verletzungen und deren Behandlung in der Antike gezeigt (Majno, 1977; Grmek, 1983). Dass auch für spätere Epochen die Paläopathologie noch einen Erkenntnisgewinn verspricht, zeigt beispielsweise eine neuere englische Veröffentlichung zum Thema Leben und Sterben im frühneuzeitlichen London, die auf einer archäologischen Untersuchung des Friedhofs der Pfarrgemeinde Christchurch (Spitalfields) im Osten Londons beruht (Cox, 1996). Auch als Instrument prähistorischer Populationsgeschichte wird die Paläopathologie inzwischen herangezogen (Bennike, 2002).

2.2.6 Anatomische Präparate und Wachsmodelle

Eine Geschichte der Anatomie und der Pathologie kann nur unter Einbeziehung der in zahlreichen Sammlungen überlieferten Präparate aus menschlichem Gewebe geschrieben werden. Dabei ist aus epistemologischer Sicht auch die Darstellungsweise der Präparate zu beachten (Rheinberger, 2006). Die Anfertigung anschaulicher und zum Teil kunstvoller Präparate galt seit Andreas Vesal (1514–1564), dem Begründer der modernen Anatomie, als eine bewunderungswürdige Leistung, die wissenschaftlichen Ruhm und auch finanziellen Lohn einbrachte, wie das Beispiel des Frederick Ruysch (1638–1731) zeigt, der 1717 seine umfangreiche und einmalige anatomische Sammlung für 30.000 Gulden an den Zaren Peter den Großen verkaufte und vertragsgemäß auch seine spezielle Konservierungsmethode preisgeben musste. Geschickte Präparatoren machten im 17. und 18. Jahrhundert – dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend – aus anatomischen Präparaten geradezu kleine Kunstwerke. Hier ist vor allem der französische Anatom Honoré Fragonard (1732–1799) zu nennen.

Zu den ältesten Objekten in anatomischen Sammlungen gehören Knochenpräparate. Sie wurden durch Mazeration hergestellt – ein Verfahren, das bereits in der Antike bekannt war. Nachdem die Knochen von den Weichteilen befreit und in Wasser durch einen Fäulnisprozess gereinigt wurden, erfolgte die Bleichung an der Sonne. Erst im 19. Jahrhundert benutzte man chemische Verfahren, die allerdings die Feinstruktur der Knochen beschädigten. Heute werden Knochen in speziellen Vorrichtungen bei ca. 40°C mazeriert, mit Benzin und Tetrachlorkohlenstoff entfettet und mit Wasserstoffsuperoxyd gebleicht. Das nachweislich älteste Skelettpräparat der Welt befindet sich heute im Anatomischen Museum in Basel. Es wurde im Jahre 1543 durch keinen Geringeren als Andreas Vesal hergestellt. Wir wissen sogar den Namen der Person, die von dem berühmten Anatomen öffentlich seziert wurde. Nach der Zergliederung, die [<<54] sich über mehrere Tage hinzog, wurden die abgekochten Knochen mit Drähten zu einem kompletten Skelett zusammengefügt. Erst im 19. Jahrhundert gelang es Präparatoren, sogenannte Bänderskelette herzustellen, die in älteren Sammlungskatalogen auch als „natürliche Skelette“ bezeichnet werden, weil hier die echten Knochenverbindungen, die Bänder, durch ein besonderes Mazerationsverfahren erhalten blieben. Zu den osteologischen Präparaten, die nicht nur für die Medizingeschichte von Interesse sind, gehört z. B. die kleine Sammlung von Säugetierskeletten sowie von Tier- und Menschenschädeln, an denen Goethe seine berühmten „Zwischenkiefer-Studien“ betrieben hat. Die „Rassenschädel“-Sammlungen des frühen 19. Jahrhunderts sind dreidimensionale Zeugnisse der Phrenologielehre, die Franz Joseph Gall (1785–1828) begründete und die alsbald in Verruf geriet. Spätere Sammlungen dieser Art dokumentieren den wachsenden Einfluss rassenanthropologischer Strömungen seit den 1880er Jahren. Im 19. Jahrhundert war es auch üblich, von berühmten Verstorbenen Totenmasken aus Gips anzufertigen. Die heute in einigen Anatomischen Museen noch aufbewahrten Totenmasken mit den dazugehörigen Schädeln (meistens von Hingerichteten) dürften ebenfalls zu phrenologischen Studien gedient haben. Knochenpräparate, die die unterschiedlichsten Formen menschlicher Missbildungen zeigen, geben dagegen Einblick in die Frühgeschichte der Embryologie und Teratologie – beides Wissenschaften, die im 19. Jahrhundert ihren Aufschwung erleben.

Bei den Eingeweiden besteht die Möglichkeit, daraus Trockenpräparate herzustellen. Das Verfahren ähnelt dem der Mumifizierung. Die präparatorische Darstellung des Blutkreislaufes und der Lymphbahnen war zunächst ein Problem. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts experimentierten Anatomen mit der Injektion von gefärbtem Wasser in die entleerten Blutgefäße oder versuchten, durch Einblasen von Luft das Gefäßsystem sichtbar zu machen. Einen wesentlichen Fortschritt stellte die von den niederländischen Anatomen Jan Swammerdam (1637–1680) und dem bereits genannten Frederick Ruysch (1638–1731) angewandte Einspritzung von gefärbtem Wachs mit niedrigem Schmelzpunkt dar. Im 19. Jahrhundert wurden diese Techniken weiter verfeinert. Es kamen zudem andere Substanzen (Quecksilberlegierungen, Leim-, Kitt- und Harzmassen) zum Einsatz. Im frühen 20. Jahrhundert gelang es Werner Spalteholz (1861–1940) mit einem nach ihm benannten Verfahren, die Präparate gleichsam durchsichtig zu machen. Heute verwendet man meist Kunststoffe (Epoxid-, Acryl- oder Polyesterharze). In diesem Zusammenhang ist auch die Plastination zu nennen (Doll, 2013).

Die Feuchtkonservierung von Leichen war bereits in der Antike bekannt. So soll beispielsweise der Körper Alexanders des Großen durch Einlegen in Honig unverwesbar gemacht worden sein. Im 16. Jahrhundert benutzte man verschiedene Gemische [<<55] von Weingeist. Auch das lange Zeit von Ruysch geheim gehaltene Rezept zur Haltbarmachung seiner Präparate enthielt Weingeist mit einigen Zusätzen. Selbst Whisky wurde gelegentlich zu diesem Zwecke benutzt. Die wasserentziehende Wirkung des Alkohols und die damit einhergehenden Veränderungen der Strukturen und Farben ließen Anatomen alsbald nach Alternativen suchen. Im 17. und 18. Jahrhundert experimentierte man mit Quecksilber- und Zinkchlorid und sogar mit Arseniklösung. Ende des 19. Jahrhunderts kam Phenol dazu. Die Entdeckung des Formaldehyds führte um die Jahrhundertwende zu einer Konservierungstechnik, die auch heute noch in modifizierter Form in Gebrauch ist und bei der dem Formalin noch Glycerin (zur Kontraststeigerung), Desinfektionsmittel und Salze (zur Struktur- und Farberhaltung) beigemengt werden. Die Haltbarkeit solcher Präparate ist nahezu unbegrenzt. Die Aufbewahrung geschieht in den meisten Fällen in speziell angefertigten Glas- oder Kunststoffbehältern, die luftdicht abgeschlossen sind. An den Konservierungsmitteln kann man neben der Technik auch das ungefähre Alter von anatomischen Präparaten bestimmen.

Weil die Leichenbeschaffung immer mehr ein Problem wurde, kam man im 18. Jahrhundert auf die Idee, menschliche Körper und Organe in Wachs oder Gips nachzubilden. Vor allem italienische Wachskünstler genossen wegen ihrer lebensgroßen und wie echt wirkenden Modelle, die noch heute den Betrachter in ihren Bann ziehen, einen ausgezeichneten Ruf. An der Herstellung waren auch Anatomen beteiligt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen Wachsreliefs in Mode. Dazu wurden an präparierten Leichen Gipsformen einzelner Körperteile abgenommen, die die Negativform für das Wachsmodell abgaben. Unter vielen anderen machte sich Goethe für die neue Technik stark, und zwar nicht aus ästhetischen, sondern aus ethischen Gründen; denn seiner Meinung nach ziemte es sich um 1800 nicht mehr, „gefallene Mädchen in tausenden Stücken anatomisch zu zerfetzen“ (nach Fröber, 2003, S. 97). Nach 1880 löste die Moulagentechnik die klassische Wachsbildnerei in der Anatomie ab. Dennoch vermochte diese Technik die Originalpräparate in den einschlägigen Sammlungen nicht zu verdrängen, so wichtig jene auch für den medizinischen Unterricht waren.

Bis in die jüngste Zeit wurde die Praxis, Präparate aus menschlichem Gewebe ohne Einwilligung des Verstorbenen herzustellen, aufzubewahren und zu präsentieren, zumindest geduldet. Um für die hierdurch im Einzelfall heute entstehende ethische Problematik (Medizinethik, S. 308) eine angemessene Lösung zu finden, sind neben Museologen auch Medizinhistoriker als Experten gefragt. So waren an den Stuttgarter „Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“ aus dem Jahre 2003 auch Medizinhistoriker unterschiedlichster Fachrichtung beteiligt (http://www.igm-bosch.de/content [<<56] /language1/downloads/EmpfehlungenAeB.pdf). Mittlerweile hat auch der Deutsche Museumsbund allgemeine „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten“ erarbeitet (http://www.museumsbund.de/fileadmin/geschaefts/dokumente/Leitfaeden_und_anderes/2013_Empfehlungen_zum_Umgang_mit_menschl_UEberresten.pdf), die auch anthropologische und ethnologische Sammlungen mit einschließen.