Der Herr der Welt

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Drittes Kapitel

1.

Die alte Mrs. Brand und Ma­bel sa­ßen an ei­nem Fens­ter des neu­en Ad­mi­ra­li­täts­ge­bäu­des in Tra­fal­gar-Squa­re, um von dort aus Zeu­gen von Oli­vers Rede an­läss­lich des fünf­zigs­ten Jah­res­ta­ges der Ar­men­ge­setz­re­form zu sein.

Es war ein er­he­ben­der An­blick, an die­sem Ju­ni­mor­gen zu se­hen, wie die Men­ge sich um die Sta­tue Braithwai­tes schar­te. Die­ser Po­li­ti­ker, nun seit fünf­zehn Jah­ren tot, war in sei­ner be­kann­ten Hal­tung dar­ge­stellt, mit aus­ge­streck­ten, ab­wärts ge­senk­ten Ar­men, das Haupt er­ho­ben und einen Fuß ein we­nig vor­ge­setzt. Heu­te war die Sta­tue, wie dies bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten mehr und mehr Brauch ge­wor­den war, mit den Ab­zei­chen der Loge ge­schmückt. Er war es ge­we­sen, der je­ner ge­hei­men Be­we­gung einen so mäch­ti­gen Im­puls ge­ge­ben hat­te durch sei­ne im Par­la­ment ab­ge­ge­be­ne Er­klä­rung, dass die Schlüs­sel zum Fort­schritt der Zu­kunft und zu wah­rer Brü­der­lich­keit un­ter den Na­tio­nen sich in den Hän­den des Or­dens be­fän­den. Da­durch al­lein war es mög­lich ge­wor­den, der falschen Ein­heits­idee der Kir­che mit ih­rer fan­tas­ti­schen, geis­ti­gen Brü­der­lich­keit wirk­sam ent­ge­gen­zu­ar­bei­ten. Der hei­li­ge Pau­lus hat­te, so er­klär­te er, recht, wenn er die Schei­de­wän­de zwi­schen den Na­tio­nen nie­der­riss, un­recht aber in sei­ner Ver­him­me­lung Jesu Chris­ti. Die­ser Ge­dan­ke bil­de­te die Ein­lei­tung zu sei­nen Aus­füh­run­gen über die Vor­la­ge zum Ar­men­ge­setz, und nach ei­nem Hin­weis auf die wah­re, al­ler re­li­gi­ösen Mo­ti­ve ent­klei­de­te, un­ter den Frei­mau­rern exis­tie­ren­de Nächs­ten­lie­be, er­in­ner­te er an de­ren be­kann­te phil­an­thro­pi­sche Wer­ke auf dem Kon­ti­nent; und durch die Be­geis­te­rung über den Er­folg des Ge­set­zes hat­te die Loge einen be­deu­ten­den Auf­schwung an Mit­glie­dern ge­nom­men.

Die alte Mrs. Brand war heu­te in ih­rem bes­ten Staa­te und blick­te mit ziem­li­cher Er­re­gung auf die dicht ge­dräng­te, un­ab­seh­ba­re Men­ge, die sich ein­ge­fun­den hat­te, um der Rede ih­res Soh­nes zu lau­schen. Rund um die Bron­ze­sta­tue des Staats­man­nes war eine Tri­bü­ne er­rich­tet, in ei­ner Höhe, dass die­ser, wenn auch um ein we­ni­ges über sei­ne Um­ge­bung her­vor­ra­gend, mit­ten un­ter den Red­nern zu ste­hen schi­en; auf die­ser Tri­bü­ne, die mit Ro­sen ge­schmückt und von ei­nem Schall­da­che über­ragt war, be­fan­den sich ein Stuhl und ein Tisch.

So­weit man den Platz über­se­hen konn­te, stand Kopf an Kopf, und das Ge­sum­me von Tau­sen­den von Stim­men wur­de ab und zu über­tönt von dem Ge­schmet­ter der Trom­pe­ten und dem dump­fen Wir­bel der Trom­meln, wenn die Wohl­tä­tig­keits­ver­ei­ne und de­mo­kra­ti­schen Gil­den mit ih­ren Ban­nern von Nord, Süd, Ost und West her auf­mar­schier­ten und den großen, ein­ge­fass­ten Raum ein­nah­men, der ih­nen vor­be­hal­ten war. Auch die Fens­ter alle wa­ren dicht be­setzt; ko­los­sa­le Gerüs­te zo­gen sich längs der Front der Na­tio­nal­ga­le­rie und St. Mar­tins­kir­che hin gleich viel­far­bi­gen Gar­ten­bee­ten hin­ter den stum­men, wei­ßen Bild­säu­len, wel­che rings den Platz um­stan­den, von Braithwai­te an­ge­fan­gen, vor­bei an den Grö­ßen aus der Zeit Vic­to­ri­as — John Da­vid­son, John Burns und den üb­ri­gen — bis zu Hamp­den und de Mont­ford auf der Nord­sei­te. Die alte Säu­le mit ih­ren Lö­wen war ent­fernt wor­den. Nel­son war mit der En­ten­te Cor­dia­le1 nicht mehr in Ein­klang zu brin­gen, und auch die Lö­wen hat­ten vor der neu­en Kunst kei­ne Gna­de ge­fun­den; an ih­rer Stel­le war nun ein frei­er Platz zu se­hen mit ter­ras­sen­för­mi­gen Stein­stu­fen, die zur Na­tio­nal­ga­le­rie hin­an­führ­ten, über den Dä­chern ho­ben sich eng­ge­dräng­te Frie­se von Köp­fen ge­gen den blau­en Som­mer­him­mel ab. Nicht we­ni­ger als hun­dert­tau­send Per­so­nen wa­ren um Mit­tag in­ner­halb der Seh- und Hör­wei­te der Platt­form zu­sam­men­ge­drängt.

Als die Uhren die Stun­de ver­kün­de­ten, ka­men hin­ter der Sta­tue zwei Ge­stal­ten her­vor, tra­ten in den Vor­der­grund, und wie auf einen Schlag wuchs das Mur­meln zu ei­nem Bei­falls­sturm an.

Zu­erst er­schi­en der alte Lord Pem­ber­ton, eine grau­haa­ri­ge, auf­rech­te Er­schei­nung, des­sen Va­ter mit­ge­hol­fen hat­te, das Her­ren­haus, des­sen Mit­glied er war, an­läss­lich sei­nes Fal­les vor mehr als sieb­zig Jah­ren, in An­kla­ge­zu­stand zu ver­set­zen und in sei­nem Sohn war ihm ein wür­di­ger Nach­fol­ger er­wach­sen. Die­ser Mann war nun Mit­glied der Re­gie­rung und Ver­tre­ter von Man­che­s­ter, und er war es, der bei die­ser viel­ver­spre­chen­den Ge­le­gen­heit den Vor­sitz zu füh­ren be­ru­fen wor­den war. Nach ihm kam Oli­ver, un­be­deck­ten Haup­tes, ta­del­los in sei­nem Äu­ße­ren, und selbst auf die­se Ent­fer­nung hin konn­ten sei­ne Mut­ter und Ma­bel sei­ne ener­gi­schen Be­we­gun­gen, sein fro­hes Lä­cheln und bei­fäl­li­ges Ni­cken er­ken­nen, als sein Name aus dem stür­mi­schen Lärm, der sich rund um die Platt­form er­ho­ben hat­te, er­tön­te. Lord Pem­ber­ton trat vor, er­hob die Hand und mach­te ein Zei­chen, und in ei­nem Au­gen­bli­cke er­star­ken die Hoch­ru­fe un­ter dem plötz­lich ein­set­zen­den Rol­len der Trom­meln und der sich dar­an­schlie­ßen­den In­to­nie­rung der Frei­mau­rerhym­ne.

Zu sin­gen ver­stan­den die­se Lon­do­ner, dar­an war nicht zu zwei­feln. Es schi­en, als ob eine gi­gan­ti­sche Stim­me die klang­vol­le Me­lo­die summ­te und sich zum En­thu­si­as­mus em­por­schwang, bis die Töne der ver­ein­ten Mu­sik­chö­re ihr folg­ten, gleich ei­nem Ban­ner, das sich an die Fah­nen­stan­ge an­schmiegt. Es war eine vor etwa zehn Jah­ren ver­fass­te Hym­ne, und schon war ganz Eng­land ver­traut mit ihr. Die alte Mrs. Brand warf me­cha­nisch einen Blick auf das Pro­gramm und sah die ihr so wohl­be­kann­ten Wor­te: »Der Herr, der wohnt in Land und Meer …« Sie durch­las die Ver­se, wel­che, vom hu­ma­ni­tär­en Stand­punk­te aus be­trach­tet, mit Ge­schick und Ei­fer ab­ge­fasst wa­ren. Sie hat­ten ein re­li­gi­öses Ge­prä­ge; der un­ge­bil­de­te Christ konn­te sie sin­gen, ohne dar­über Skru­peln zu be­kom­men, und doch war ihr Sinn klar ge­nug, — der alte mensch­li­che Glau­be, dass der Mensch das All sei. Selbst Chris­ti ei­ge­ne Wor­te wa­ren dar­in an­ge­wandt wor­den; das Kö­nig­reich Got­tes, hieß es, lie­ge im Her­zen des Men­schen, und die größ­te al­ler Gna­den sei die Nächs­ten­lie­be.

Sie blick­te auf ihre Schwie­ger­toch­ter und sah, dass die­se aus gan­zem Her­zen mit­s­ang, wäh­rend ihre Au­gen, aus de­nen ihre gan­ze See­le sprach, auf die etwa hun­dert Me­ter ent­fern­te dunkle Ge­stalt ih­res Gat­ten ge­hef­tet wa­ren. Und so be­gann denn auch die Mut­ter, im Chor mit den sin­gen­den Tau­sen­den die Lip­pen zu be­we­gen.

Als die Hym­ne ver­k­lun­gen war, und ehe der Bei­fall sich wie­der er­he­ben konn­te, stand der grei­se Lord Pem­ber­ton an dem vor­de­ren Rand der Platt­form, und sei­ne dün­ne, me­tal­li­sche Stim­me über­tön­te mit ei­ni­gen kur­z­en Wor­ten das Plät­schern der Spring­brun­nen hin­ter ihm. Dann trat er zu­rück, und Oli­ver trat an sei­ne Stel­le. —

Sie wa­ren zu weit ent­fernt, die bei­den, um zu un­ter­schei­den, was er sprach, aber Ma­bel drück­te mit ei­nem ner­vö­sen Lä­cheln der al­ten Dame ein Stück­chen Pa­pier in die Hand und beug­te sich dann lau­schend nach vorn.

Die grei­se Mrs. Brand warf auch einen Blick dar­auf; sie wuss­te, es war ein Aus­zug aus der Rede ih­res Soh­nes, des­sen Wor­te zu ver­ste­hen sie nicht im­stan­de war.

Er be­gann, in­dem er als Ein­lei­tung alle An­we­sen­den be­glück­wünsch­te, die sich hier ein­ge­fun­den hat­ten, um den großen Mann zu eh­ren, der von sei­ner Platt­form aus selbst bei die­ser großen Ju­bi­lä­ums­fei­er den Vor­sitz führ­te. Dann kam ein Rück­blick, in dem er die ehe­ma­li­gen Zu­stän­de Eng­lands mit den heu­ti­gen ver­glich. Noch vor fünf­zig Jah­ren, sag­te der Red­ner, galt Ar­mut als eine Schan­de, das sei nun vor­über. Nur in den Ur­sa­chen, die zur Ar­mut führ­ten, konn­te man ent­we­der Schan­de oder Ver­dienst er­bli­cken. Wer wür­de nicht einen Mann eh­ren, der sich im Diens­te sei­nes Lan­des auf­ge­rie­ben, oder der schließ­lich Um­stän­den un­ter­lag, ge­gen die er bis an sein Ende, wenn auch ver­ge­bens, ge­run­gen hat­te? … Er zähl­te die Re­for­men auf, die ge­nau an die­sem Tage vor fünf­zig Jah­ren zur An­nah­me ge­langt wa­ren, und durch wel­che die Na­ti­on ein für alle Mal die Ho­heit der Ar­mut und das Mit­ge­fühl der Mensch­heit mit den Un­glück­li­chen aus­sprach.

Und so, sag­te er, sei es heu­te sei­ne Auf­ga­be, zum Prei­se der dul­den­den Ar­mut und de­ren Be­loh­nung zu spre­chen, und dies, mein­te er, zu­sam­men mit ei­ner kur­z­en Er­wäh­nung des Ge­fäng­nis­re­form­ge­set­zes, wür­de die ers­te Hälf­te sei­ner Rede bil­den. Der zwei­te Teil soll­te ein Lob­lied auf Braithwai­te sein, auf ihn, als den He­rold ei­ner Be­we­gung, die eben erst um sich zu grei­fen be­gann.

Die alte Mrs. Brand lehn­te in ih­rem Ses­sel zu­rück und schau­te um sich.

Das Fens­ter, an wel­chem sie sa­ßen, war für sie re­ser­viert wor­den; ihre bei­den Arm­stüh­le nah­men die Brei­te des­sel­ben ein, aber un­mit­tel­bar hin­ter ih­nen stan­den an­de­re Zuschau­er, die in tie­fem Schwei­gen, die Lip­pen er­war­tungs­voll ge­öff­net, mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit die Köp­fe nach vorn beug­ten; zu­erst ein paar alte Da­men mit ei­nem Greis und hin­ter ih­nen wie­der an­de­re Ge­sich­ter. Mrs. Brand fühl­te durch de­ren un­ver­kenn­ba­res In­ter­es­se einen lei­sen Vor­wurf für ihre Zer­streut­heit, und schnell ent­schlos­sen wand­te sie ihre Bli­cke wie­der dem Fest­plat­ze zu.

Ah, mit vol­ler Be­geis­te­rung ent­wi­ckel­te er sei­ne Lo­b­re­de! Sei­ne klei­ne, dunkle Ge­stalt stand im Hin­ter­grund, etwa einen Me­ter von der Sta­tue ent­fernt, und eben, als sie hin­blick­te, er­hob er sei­ne Hand, wand­te sich mit ei­ner jä­hen Be­we­gung um, und brau­sen­der Bei­fall über­tön­te einen Au­gen­blick die kla­re, klang­vol­le Stim­me. Dann schritt er wie­der nach vor­ne, halb krie­chend — denn er war ein ge­bor­ner Schau­spie­ler —, und schal­len­des Ge­läch­ter er­tön­te un­ter der Men­ge. Sie ver­nahm hin­ter ih­rem Stuhl ein ver­hal­te­nes Zi­schen und un­mit­tel­bar dar­auf einen Schrei ih­rer Schwie­ger­toch­ter … Was be­deu­te­te dies? …

 

Ein Krach, und die klei­ne, ges­ti­ku­lie­ren­de Ge­stalt tau­mel­te zu­rück. Der Greis am Prä­si­di­ums­tisch sprang so­fort auf, und im sel­ben Au­gen­blick gär­te und wog­te es un­ter der Men­schen­men­ge un­mit­tel­bar au­ßer­halb des ab­ge­grenz­ten Rau­mes, wo die Mu­sik­chö­re stan­den, und ge­nau der Tri­bü­ne ge­gen­über, gleich der Bran­dung, die ge­gen den Fel­sen an­stürmt.

Mrs. Brand, ganz au­ßer sich und ver­wirrt, war auf­ge­sprun­gen und klam­mer­te sich an das Fens­ter­git­ter, wäh­rend ihre Schwie­ger­toch­ter sie krampf­haft am Arm pack­te und un­ver­ständ­li­che Wor­te von sich stieß. Der gan­ze Platz war in Aufruhr, die Köp­fe be­weg­ten sich bald nach die­ser, bald nach je­ner Rich­tung, wie ein vom Sturm ge­peitsch­tes Ähren­feld. Oli­ver er­schi­en wie­der im Vor­der­grund, sei­ne Hand deu­te­te auf einen Punkt, und er rief er­reg­te Wor­te aus; sie konn­te ge­nau sei­nen Be­we­gun­gen fol­gen, dann sank sie in ih­ren Lehn­stuhl zu­rück, das Blut schoss durch ihre Adern, und es schi­en ihr, als müss­te sie er­sti­cken.

»Lie­bes, lie­bes Kind, was ist ge­sche­hen?«, schluchz­te sie.

Aber auch Ma­bel war auf­ge­sprun­gen und starr­te ängst­lich nach ih­rem Ge­mahl hin; hin­ter ihr ließ sich trotz des wo­gen­den Tu­mul­tes auf dem Plat­ze ein lau­tes Durchein­an­der von Wor­ten und Aus­ru­fen ver­neh­men.

1 Die En­ten­te cor­dia­le (fran­zö­sisch für »herz­li­ches Ein­ver­ständ­nis«) ist ein am 8. April 1904 zwi­schen dem Ve­rei­nig­ten Kö­nig­reich und Frank­reich ge­schlos­se­nes Ab­kom­men. Ziel des Ab­kom­mens war eine Lö­sung des In­ter­es­sen­kon­flikts bei­der Län­der in den Ko­lo­ni­en Afri­kas (»Wett­lauf um Afri­ka«). <<<

2.

Oli­ver er­klär­te ih­nen abends zu Hau­se, in sei­nen Arm­stuhl zu­rück­ge­lehnt, die gan­ze Ge­schich­te; ei­ner sei­ner Arme war ver­bun­den und in ei­ner Sch­lin­ge.

Es war ih­nen nicht mög­lich ge­we­sen, nach dem Vor­fall in sei­ne Nähe zu kom­men, die Auf­re­gung auf dem Plat­ze war zu groß ge­we­sen, aber man hat­te sei­ner Frau einen Bo­ten ge­sandt, durch den ihr mit­ge­teilt wur­de, dass ihr Mann nur leicht ver­letzt sei und sich in ärzt­li­cher Pfle­ge be­fin­de.

»Ein Ka­tho­lik war es«, be­rich­te­te Oli­ver mit ab­ge­spann­ter Mie­ne. »Er muss üb­ri­gens schon mit der Ab­sicht ge­kom­men sein, denn sein Re­vol­ver wur­de noch ge­la­den vor­ge­fun­den. Nun, dies­mal hat sich we­nigs­tens kein Pries­ter hin­ein­mi­schen kön­nen.« —

Ma­bel nick­te zu­stim­mend; sie hat­te durch die Pla­ka­te das wei­te­re Schick­sal des Man­nes er­fah­ren.

»Er wur­de ge­tö­tet, — in ei­nem Au­gen­blick war er nie­der­ge­stampft und er­würgt«, sag­te Oli­ver. »Ich tat, was ich konn­te, ihr habt mich ge­se­hen. Aber, — nun, viel­leicht war es so bes­ser für ihn.«

»Aber hast du auch al­les ge­tan, was in dei­nen Kräf­ten stand, mein Lie­ber?«, frag­te die Grei­sin mit Be­sorg­nis aus ih­rem Win­kel her.

»Ich rief ih­nen zu, Mut­ter, aber sie ach­te­ten nicht dar­auf.«

Ma­bel beug­te sich vor­wärts. —

»Oli­ver, ich weiß wohl, es klingt tö­richt, aber — aber lie­ber wäre es mir, sie hät­ten ihn am Le­ben ge­las­sen.«

Oli­ver muss­te lä­cheln. Die­se zar­te Ge­müts­s­tim­mung war ihm bei ihr nicht un­be­kannt.

»Voll­kom­me­ner wäre es si­cher ge­we­sen, wenn sie ihn nicht ge­tö­tet hät­ten«, sag­te sie. Dann brach sie ab und lehn­te sich zu­rück.

»Wa­rum hat er denn ge­ra­de in dem Au­gen­blick ge­feu­ert?«, frag­te sie.

Oli­ver sah einen Au­gen­blick nach sei­ner Mut­ter hin­über, die aber in al­ler Ruhe mit ih­rer Strick­ar­beit be­schäf­tigt war.

Dann ant­wor­te­te er mit ei­ge­ner Be­dacht­sam­keit: »Ich sag­te, dass Braithwai­te mit ei­ner ein­zi­gen Rede mehr für die Welt ge­tan habe, als Chris­tus mit al­len sei­nen Hei­li­gen zu­sam­men.« — Er be­merk­te, dass die Strick­na­deln eine Se­kun­de ruh­ten; dann ar­bei­te­ten sie wei­ter, wie vor­her.

»Aber je­den­falls hat­te er die Ab­sicht ge­habt, die Tat auf alle Fäl­le zu voll­brin­gen«, fuhr Oli­ver fort.

»Wo­her weiß man denn, dass er ein Ka­tho­lik war?«, frag­te sei­ne Frau dar­auf.

»Ei­nen Ro­sen­kranz fand man bei ihm vor; auch hat­te er ge­ra­de noch so viel Zeit, um sei­nen Gott an­zu­ru­fen.«

»Und wei­ter weiß man nichts?«

»Wei­ter nichts, üb­ri­gens war er gut ge­klei­det.«

Oli­ver war ein we­nig ver­stimmt, lehn­te sich zu­rück und schloss die Au­gen. Sein Arm schmerz­te noch in fast un­er­träg­li­cher­wei­se. Aber im Grun­de sei­nes Her­zens war er doch sehr glück­lich. Al­ler­dings war er von ei­nem Fa­na­ti­ker ver­wun­det wor­den, doch be­dau­er­te er kei­nes­wegs, für eine sol­che Sa­che lei­den zu müs­sen, und es war au­ßer Fra­ge, dass die Sym­pa­thie ganz Eng­lands sich ihm zu­wand­te. Zu die­ser Stun­de noch war Mr. Phil­lips im Ne­ben­zim­mer da­mit be­schäf­tigt, die un­auf­hör­lich ein­lau­fen­den Te­le­gram­me zu be­ant­wor­ten. Cal­de­cott, der Pre­mier­mi­nis­ter, Max­well, Snow­ford und ein Dut­zend an­de­rer hat­ten um­ge­hend ihre Glück­wün­sche über­sandt, und aus al­len Tei­len Eng­lands kam eine De­pe­sche um die an­de­re. Es war ein un­ge­heue­rer Vor­teil für die Kom­mu­nis­ten; ih­ren An­füh­rer hat­te man an­ge­grif­fen, wäh­rend er sei­ner Pf­licht ge­nüg­te und für sei­ne Grund­sät­ze focht; für sie be­deu­te­te es un­schätz­ba­ren Ge­winn und einen Ver­lust für die In­di­vi­dua­lis­ten, dass Be­ken­ner schließ­lich doch nicht nur auf der einen Sei­te zu fin­den wa­ren. In ganz Lon­don hat­ten die rie­sen­großen elek­tri­schen Pla­ka­te es in Es­pe­ran­to schon ver­kün­det, als Oli­ver bei ein­bre­chen­der Dun­kel­heit den Zug be­stieg.

»Oli­ver Brand ver­wun­det … Mord­an­schlag ei­nes Ka­tho­li­ken … Ent­rüs­tung des Lan­des … wohl­ver­dien­tes Schick­sal des Mör­ders.«

Auch war er zu­frie­den, dass er al­les ge­tan hat­te, den Mann zu ret­ten. So­gar in je­nem Au­gen­blick des plötz­li­chen und hef­ti­gen Schmer­zes hat­te er um Ge­rech­tig­keit ge­be­ten, aber es war zu spät ge­we­sen. Er hat­te es mit an­ge­se­hen, wie die angst­er­füll­ten Au­gen aus dem dun­kel­ro­ten Ge­sich­te tra­ten, das sich zu ei­nem ent­setz­li­chen Grin­sen ver­zerr­te, als die rä­chen­den Hän­de an sei­nem Hal­se würg­ten und ris­sen. Dann war das Ge­sicht ver­schwun­den, und man be­gann mit Fuß­trit­ten dort wei­ter zu ar­bei­ten, wo man es zu­letzt ge­se­hen hat­te. Ja, Lei­den­schaft und Treue wa­ren eben doch noch in Eng­land zu fin­den!

Bald dar­auf er­hob sich sei­ne Mut­ter und ver­ließ wort­los das Zim­mer; Ma­bel setz­te sich zu ihm her­über und leg­te ihre Hand auf sei­ne Knie.

»Bist du zu müde zum Spre­chen, mein Lie­ber?«

Er öff­ne­te sei­ne Au­gen.

»Ge­wiss nicht, Lieb­ling. Was gibt es?«

»Was glaubst du, wer­den die Fol­gen sein?«

Er rich­te­te sich ein we­nig auf und blick­te, wie er es ge­wohnt war, hin­aus in die Dun­kel­heit, hin auf die­ses stau­nens­wer­te Schau­spiel. Al­lent­hal­ben flamm­ten Lich­ter, ein Meer von sanft­leuch­ten­den Ku­geln schweb­te über den Häu­sern, und dar­über wölb­te sich das ge­heim­nis­vol­le, schwe­re Blau ei­nes Som­mer­abends.

»Die Fol­gen?«, sag­te er. »Sie kön­nen nur gut sein. Es war Zeit, dass ein­mal et­was ge­sch­ah. Liebs­te, du weißt, ich fühl­te mich manch­mal sehr nie­der­ge­drückt. Nun, ich glau­be, jetzt wer­de ich die­ses Ge­fühl nicht mehr ha­ben. Ich konn­te mich manch­mal der Furcht nicht er­weh­ren, dass wir alle un­se­ren Geist ver­lie­ren und dass die al­ten To­ries teil­wei­se recht hat­ten, wenn sie pro­phe­zei­ten, was der Kom­mu­nis­mus zur Fol­ge ha­ben wer­de. Aber jetzt, nach die­sem …«

»Nun?«

»Nun, wir ha­ben ge­zeigt, dass wir so­gar un­ser Blut zu ver­gie­ßen im­stan­de sind. Es kam auch al­les wie ge­ru­fen, ge­ra­de in der Kri­sis. Ich will nicht über­trei­ben; es ist nur eine Schram­me, — aber es war so wohl er­wo­gen und — so dra­ma­tisch. Der arme Teu­fel hät­te kei­nen un­ge­schick­teren Mo­ment wäh­len kön­nen. Das Volk wird es nicht ver­ges­sen.«

Ma­bels Au­gen glänz­ten vor Ver­gnü­gen.

»Du Ar­mer«, sag­te sie, »hast du Schmer­zen?«

»Nicht be­son­ders, üb­ri­gens macht mir das den we­nigs­ten Kum­mer. Wenn nur die­se elen­de Ge­schich­te mit dem Os­ten erst vor­über wäre!«

Er fühl­te, dass er fie­ber­te und in ge­reiz­ter Stim­mung war, und be­müh­te sich, dies nie­der­zu­zwin­gen.

»O, mei­ne Lie­be«, fuhr er fort, wäh­rend ihm die Röte ins Ge­sicht stieg, »wenn sie nicht solch ver­bohr­te Nar­ren wä­ren; sie be­grei­fen nicht, ver­ste­hen nicht!«

»Was, Oli­ver?«

»Sie be­grei­fen nicht, wie er­ha­ben das al­les ist: Hu­ma­ni­tät, Le­ben, end­lich Wahr­heit und Un­ter­gang der Tor­heit! Aber habe ich es ih­nen nicht hun­dert­mal ge­sagt?«

Sie blick­te ihn mit freu­de­strah­len­den Au­gen an. Wie gern sah sie ihn so, sei­ne zu­ver­sicht­li­chen, ge­röte­ten Züge, die Be­geis­te­rung in den blau­en Au­gen, und das Be­wusst­sein, dass er litt, ent­flamm­te ihr Ge­fühl zur Lei­den­schaft. Sie beug­te sich schnell vor­wärts und küss­te ihn.

»Liebs­ter, ich bin so stolz auf dich, Oli­ver.«

Er er­wi­der­te kein Wort, aber sie konn­te se­hen, was sie so ger­ne sah, jene in­ne­re Über­ein­stim­mung, und so sa­ßen sie schwei­gend da, wäh­rend die Nacht sich lang­sam her­ab­senk­te, und nur das Klap­pern des Schrei­bers im Ne­ben­zim­mer er­in­ner­te sie dar­an, dass die Welt noch be­stand und sie ihr an­ge­hör­ten.

Plötz­lich er­wach­te Oli­ver.

»Hast du eben et­was be­merkt, mein Lieb­ling, als ich die Be­mer­kung über Je­sus Chris­tus mach­te?«

»Sie hielt einen Mo­ment im Stri­cken inne.«

»Du sahst es also auch … Ma­bel, glaubst du, dass sie rück­fäl­lig wird?«

»O, sie wird alt«, warf die­se leicht ein. »Na­tür­lich blickt sie da ein we­nig zu­rück.«

»Aber du meinst doch nicht etwa … Es wäre zu schreck­lich.«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, nein, mein Lie­ber; du bist er­regt und müde. Es ist nur eine klei­ne Ge­müts­be­we­gung … Oli­ver, ich glau­be, ich wür­de so et­was nicht vor ihr sa­gen.«

»Aber sie hört es doch jetzt über­all.«

»Nein, sie hört es nicht. Be­den­ke nur, sie geht fast nie aus. Au­ßer­dem hasst sie es. Und dann muss man nicht ver­ges­sen, dass sie ka­tho­lisch er­zo­gen wur­de.«

Oli­ver nick­te und lehn­te sich zu­rück, in­dem er träu­me­risch vor sich hin­blick­te.

»Ist es nicht er­staun­lich, wie lan­ge die Sug­ge­s­ti­on fort­wirkt? Sie kann die Idee nicht los wer­den, selbst nach fünf­zig Jah­ren noch nicht. Nun, habe ein Auge auf sie, ja? … üb­ri­gens …« »Ja?«

»Es sind ein paar wei­te­re Nach­rich­ten aus dem Os­ten ein­ge­lau­fen. Man sagt, Fel­sen­bur­gh habe jetzt die gan­ze Sa­che in der Hand, über­all ist er, und im Auf­trag des Rei­ches — in To­bolsk, Bena­res, Ya­kutsk, — über­all, auch in Aus­tra­li­en war er.«

Ma­bel rich­te­te sich rasch auf.

»Gibt uns das nicht gute Hoff­nung?«

»Mei­ner Mei­nung nach, ja. Es ist kein Zwei­fel, dass die Su­fis ge­win­nen, aber auf wie lan­ge, ist eine an­de­re Fra­ge. Dazu kommt, dass die Trup­pen im­mer noch zu­sam­men­ge­zo­gen sind.«

»Und Eu­ro­pa?«

»Eu­ro­pa rüs­tet sich in mög­lichs­ter Eile. Wie ich höre, tre­ten wir mit den üb­ri­gen Mäch­ten nächs­te Wo­che in Pa­ris zu­sam­men. Ich muss auch ge­hen.«

»Aber dein Arm, Liebs­ter?«

»Mein Arm muss eben gut wer­den. Aus alle Fäl­le wird er mit mir ge­hen müs­sen.«

»Er­zäh­le mir noch et­was mehr!«

»Ich habe dir schon al­les er­zählt. Aber das ist ganz si­cher, dass dies die Kri­sis ist. Wenn der Os­ten über­re­det wer­den kann, jetzt sei­ne Hand zu­rück­zu­hal­ten, wird er sie wohl nie mehr er­he­ben. Das wür­de dann für die gan­ze Welt frei­en Han­del und der­glei­chen mehr be­deu­ten, so ver­mu­te ich. Wenn je­doch —«

 

»Nun?«

»Wenn nicht, dann gibt es eine Ka­ta­stro­phe, wie sie kei­ne Fan­ta­sie bis­her zu ma­len im­stan­de war. Die gan­ze mensch­li­che Ras­se wird un­ter Waf­fen ste­hen, und ent­we­der der Os­ten oder der Wes­ten wird weg­ge­fegt wer­den. Die neu­en Benn­in­schein­schen Ex­plo­sivstof­fe ga­ran­tie­ren einen sol­chen Aus­gang.«

»Aber ist es denn ab­so­lut si­cher, dass der Os­ten sie be­sitzt?«

»Ab­so­lut! Benn­in­schein ver­kauf­te sie gleich­zei­tig an den Os­ten und an den Wes­ten. Dann starb er, und das war sein Glück.«

Ma­bel hat­te frü­her da­von spre­chen ge­hört, aber sie hat­te sich im­mer ge­sträubt, dar­an zu glau­ben. Ein Zwei­kampf zwi­schen Ost und West war un­ter den jet­zi­gen Um­stän­den et­was ganz Un­denk­ba­res. Seit ei­nem Men­schen­al­ter hat­te Eu­ro­pa kei­nen Krieg mehr ge­se­hen, und die Krie­ge des Os­tens im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert wa­ren noch mit den al­ten Kampf­mit­teln aus­ge­foch­ten wor­den. Nun­mehr aber wäre, wenn das, was man sich er­zähl­te, der Wahr­heit ent­sprach, ein ein­zi­ges Ge­schoss hin­rei­chend, um eine gan­ze Stadt zu ver­nich­ten. Was ein Krieg un­ter den jet­zi­gen Um­stän­den wäre, dazu reich­te kei­ne Ein­bil­dungs­kraft hin. Was mi­li­tä­ri­sche Sach­ver­stän­di­ge vor­aus­sag­ten, war über­schwäng­lich und schon in den Haupt­punk­ten voll von Wi­der­spruch; die gan­ze Krieg­füh­rung war nur mehr Theo­rie; es gab kei­ne prak­ti­sche Er­fah­rung, die als Grund­la­ge hät­te die­nen kön­nen. Es war, als ob Bo­gen­schüt­zen sich über die Wir­kung von Kor­dit strit­ten. Ei­nes aber war ge­wiss, — dass näm­lich der Os­ten sich im Be­sitz al­ler mo­der­nen, tech­ni­schen Er­run­gen­schaf­ten be­fand, und, was männ­li­che Be­völ­ke­rung be­traf, fast dop­pelt so viel auf­zu­wei­sen hat­te, als die gan­ze üb­ri­ge Welt zu­sam­men­ge­nom­men; die sich dar­aus er­ge­ben­de Schluss­fol­ge­rung war also kei­nes­wegs be­ru­hi­gend für Eng­land.

Aber die Fan­ta­sie sträub­te sich ein­fach, dar­über zu re­den. Die Zei­tun­gen brach­ten täg­lich einen kur­z­en, sorg­fäl­tig ab­ge­fass­ten Leit­ar­ti­kel, dem nur die split­ter­ar­ti­gen Nach­rich­ten zu­grun­de la­gen, die man aus den Kon­fe­ren­zen der an­de­ren Sei­te des Erd­bal­les er­hascht hat­te; Fel­sen­bur­ghs Name er­schi­en da­bei häu­fi­ger als je zu­vor; im Üb­ri­gen ließ sich eine Art ge­zwun­ge­nen Still­schwei­gens wahr­neh­men. Be­son­de­re Nach­tei­le wa­ren nir­gends zu be­mer­ken; der Han­del ging sei­nen ge­wohn­ten Gang, die eu­ro­päi­schen Bör­sen­be­rich­te zeig­ten kei­ner­lei au­ßer­ge­wöhn­li­ches Sin­ken; der Mensch bau­te wei­ter, hei­ra­te­te, sorg­te für Nach­kom­men­schaft, ging sei­nen Ge­schäf­ten nach und be­such­te das Thea­ter aus dem ein­fa­chen Grun­de, weil er eben nichts Bes­se­res fin­den konn­te. Man konn­te den Lauf der Din­ge we­der auf­hal­ten noch be­schleu­ni­gen; die Grund­la­ge war eine zu mäch­ti­ge. Ab und zu ver­fie­len Ein­zel­ne in Wahn­sinn, Leu­te, die ihre Denk­kraft zu ei­ner Höhe er­ho­ben hat­te, die sie die Wirk­lich­keit er­ken­nen ließ; al­lent­hal­ben mach­te sich eine At­mo­sphä­re höchs­ter Span­nung fühl­bar, aber da­bei blieb es auch. Man sprach nicht viel über die­ses The­ma, es schi­en dies ge­ra­te­ner. Schließ­lich konn­te man auch wohl nichts an­de­res tun, als ab­war­ten.

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