Der Herr der Welt

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3.

Die Un­ter­hal­tung der Pries­ter be­schäf­tig­te sich an je­nem Abend bei Tisch sehr leb­haft mit der au­ßer­or­dent­li­chen Aus­brei­tung des Frei­mau­rer­tums. Seit vie­len Jah­ren hat­te die­ses nun zu­ge­nom­men, und die Ka­tho­li­ken wa­ren sich der Ge­fah­ren des­sel­ben voll­kom­men be­wusst, denn die Zu­ge­hö­rig­keit zu die­ser ge­hei­men Ge­sell­schaft war durch de­ren un­zwei­deu­ti­ge Ver­dam­mung durch die Kir­che un­ver­ein­bar ge­wor­den mit dem Glau­ben. Es blieb dem Men­schen nur die Wahl zwi­schen je­ner und sei­nem Glau­ben. Die Ent­wick­lung war wäh­rend des letz­ten Jahr­hun­derts eine au­ßer­or­dent­li­che ge­we­sen. Zu­erst hat­te der or­ga­ni­sier­te An­griff auf die Kir­che Frank­reichs statt­ge­fun­den, und was die Ka­tho­li­ken längst ver­mu­tet hat­ten, wur­de dann zur Ge­wiss­heit durch die Ent­hül­lun­gen des Jah­res 1918, die P. Ge­ro­me, ein Do­mi­ni­ka­ner und ehe­ma­li­ger Frei­mau­rer, über die Loge ge­macht hat­te. Da war es of­fen­kun­dig ge­wor­den, dass die Ka­tho­li­ken recht hat­ten, und dass die Loge, we­nigs­tens in ih­ren hö­he­ren Gra­den, al­lent­hal­ben ver­ant­wort­lich war für die auf­fal­len­de Be­we­gung ge­gen die Re­li­gi­on. Wohl war der Ein­druck auf die öf­fent­li­che Mei­nung ein ge­wal­ti­ger, aber P. Ge­ro­me, sein Ur­he­ber, war bald dar­auf ge­stor­ben. Dann ka­men die groß­ar­ti­gen Spen­den in Frank­reich und Ita­li­en an Spi­tä­ler, Wai­sen­häu­ser und für ähn­li­che Zwe­cke, und wie­der­um be­gann der Ver­dacht zu schwin­den. Da­durch schi­en es — und die­ser An­schein hat­te auch bis jetzt noch be­stan­den — seit sieb­zig Jah­ren und mehr, dass die Frei­mau­re­rei nichts als eine weit­ver­zweig­te, phil­an­thro­pi­sche Ge­sell­schaft sei. Nun be­gan­nen von Neu­em Zwei­fel dar­an auf­zu­stei­gen.

»Ich höre, dass Fel­sen­bur­gh Frei­mau­rer ist«, be­merk­te Mon­si­gno­re Ma­cin­to­sh, der Ad­mi­nis­tra­tor der Ka­the­dra­le, »Groß­meis­ter oder so et­was.«

»Wer ist denn Fel­sen­bur­gh?« warf ein jun­ger Pries­ter ein.

Mon­si­gno­re schüt­tel­te den Kopf.

»Er ist ein Ge­heim­nis«, mein­te ein an­de­rer Pries­ter, Fa­ther Black­mo­re, »aber er scheint große Auf­re­gung her­vor­zu­ru­fen. Sei­ne Le­bens­be­schrei­bung wur­de heut auf dem Kai feil­ge­bo­ten.«

»Vor drei Ta­gen«, warf Per­cy ein, »traf ich einen ame­ri­ka­ni­schen Se­na­tor, der mir sag­te, dass selbst dort nichts von ihm be­kannt sei, als sei­ne au­ßer­or­dent­li­che Sprach­ge­wandt­heit. Er trat erst ver­gan­ge­nes Jahr her­vor und scheint durch sei­ne ganz un­ge­wöhn­li­chen Metho­den al­lein al­les an­ge­ord­net zu ha­ben. Dazu ist er ein be­deu­ten­der Lin­guist. Das ist auch der Grund, wes­halb er nach Ir­kutsk mit­ge­nom­men wur­de.«

»Ja, die Frei­mau­rer, —«, fuhr Mon­si­gno­re fort. »Es ist eine sehr erns­te Sa­che. Im ver­gan­ge­nen Mo­nat habe ich durch sie vier mei­ner Beicht­kin­der ver­lo­ren.«

»Die Zu­las­sung der Frau­en war ihr Haupt­streich«, mur­mel­te Fa­ther Black­mo­re, in­dem er sich noch et­was Rot­wein ein­schenk­te.

»Es ist merk­wür­dig, dass sie da­mit so lan­ge zö­ger­ten«, be­merk­te Per­cy.

Auch ei­ni­ge an­de­re äu­ßer­ten sich in die­sem Sin­ne. Es schi­en, dass auch sie in letz­ter Zeit durch das Um­sich­grei­fen der Frei­mau­re­rei Beicht­kin­der ein­ge­büßt hat­ten. Auch wur­de die Ver­mu­tung ge­äu­ßert, dass oben, in der Kanz­lei des Erz­bi­schofs, ein Hir­ten­brief sich in Vor­be­rei­tung be­fin­de, der sich mit der Fra­ge be­fas­se.

Mon­si­gno­re schüt­tel­te be­deu­tungs­voll den Kopf. »Es braucht mehr als das«, mein­te er.

Per­cy er­in­ner­te dar­an, dass die Kir­che ihr letz­tes Wort in der Sa­che ja be­reits vor ei­ni­gen Jahr­hun­der­ten ge­spro­chen habe: Sie hat­te alle Mit­glie­der ge­hei­mer Ge­sell­schaf­ten mit der Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on be­legt und da­mit al­les ge­tan, was sie tun konn­te.

»Aus­ge­nom­men, die Sa­che im­mer und im­mer wie­der ih­ren Kin­dern vor­zu­stel­len«, füg­te Mon­si­gno­re bei; »ich wer­de nächs­ten Sonn­tag dar­über pre­di­gen.«

Per­cy mach­te sich, als er wie­der auf sei­nem Zim­mer war, eine kur­ze ra­sche No­tiz, ent­schlos­sen, auf die­se An­ge­le­gen­heit in sei­nem nächs­ten Schrei­ben an den Kar­di­nal­pro­tek­tor noch­mals zu­rück­zu­kom­men. Öf­ters hat­te er schon in frü­he­ren Be­rich­ten des Frei­mau­rer­tums er­wähnt, aber es schi­en ihm Zeit, aber­mals die Auf­merk­sam­keit dar­auf zu len­ken. Dann be­gab er sich dar­an, die vor­ge­fun­de­nen Brie­fe zu öff­nen, zu­erst je­nen, den er als von der Hand des Kar­di­nals kom­mend er­kann­te.

Es war ein merk­wür­di­ges Zu­sam­men­tref­fen, dass, als er eine Rei­he von Fra­gen über­flog, die Kar­di­nal Mar­tins Brief ent­hielt, eine der­sel­ben sich eben auf die­se An­ge­le­gen­heit be­zog, von der man bei Tisch ge­spro­chen hat­te. Sie lau­te­te: »Was ha­ben Sie über die Frei­mau­rer zu be­rich­ten? Fel­sen­bur­gh soll den­sel­ben an­ge­hö­ren. Sam­meln Sie al­les, was Sie über ihn er­fah­ren. Sen­den Sie ei­ni­ge eng­li­sche oder ame­ri­ka­ni­sche Le­bens­be­schrei­bun­gen des­sel­ben. Ver­lie­ren Sie noch im­mer Ka­tho­li­ken durch die Loge?«

Er durch­las auch die üb­ri­gen Fra­gen. Sie be­zo­gen sich haupt­säch­lich auf frü­he­re Be­mer­kun­gen von ihm selbst, aber auch in ih­nen kehr­te Fel­sen­bur­ghs Name zwei­mal wie­der.

Per­cy leg­te das Blatt weg und sann ein we­nig nach.

Es war doch merk­wür­dig, dach­te er, wie der Name die­ses Man­nes sich in al­ler Mun­de be­fand, trotz­dem so we­nig über ihn be­kannt war. Er hat­te auf der Stra­ße, rein aus Neu­gier, drei Fo­to­gra­fi­en ge­kauft, wel­che die­se merk­wür­di­ge Per­son dar­stel­len soll­ten, und wenn auch eine der­sel­ben echt sein moch­te, alle drei konn­ten es nicht sein. Er ent­nahm sie dem Schreib­tisch­fa­che und leg­te sie ne­ben­ein­an­der vor sich hin.

Die eine stell­te einen grim­mi­gen, bär­ti­gen Mann von dem Aus­se­hen ei­nes Ko­sa­ken, mit großen star­ren Au­gen, dar. Nein: In­ne­re Grün­de lehn­ten dies Bild ab; es war ge­nau das, was eine rohe Fan­ta­sie sich un­ter ei­nem Man­ne vor­stellt, der einen großen Ein­fluss im Os­ten be­saß. Die Zwei­te zeig­te ein vol­les Ge­sicht mit klei­nen Au­gen und ei­nem Kne­bel­bar­te; sie konn­te mög­li­cher­wei­se echt sein. Er dreh­te sie um und las auf der Rück­sei­te den Na­men ei­ner New Yor­ker Fir­ma. Dann wand­te er sich der Drit­ten zu. Die­se zeig­te ein lan­ges, glat­tra­sier­tes Ge­sicht von un­leug­bar klu­gem, aber kaum star­kem Aus­druck, mit Pin­ce­nez,1 wäh­rend Fel­sen­bur­gh zwei­felsoh­ne ein wil­lens­star­ker Mann sein muss­te.

Per­cy neig­te zu der An­nah­me, dass das zwei­te Bild die größ­te Wahr­schein­lich­keit für sich habe, aber si­cher konn­te man bei kei­nem der­sel­ben sein, und so schob er sie acht­los wie­der zu­sam­men und leg­te sie in das Fach zu­rück.

Dann stütz­te er die El­len­bo­gen auf den Tisch und be­gann nach­zu­den­ken.

Er gab sich Mühe, sich ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen, was Mr. Var­haus, der ame­ri­ka­ni­sche Se­na­tor, ihm über Fel­sen­bur­gh ge­sagt hat­te, und doch schi­en es nicht ge­nü­gend, um als Tat­sa­che gel­ten zu kön­nen. Fel­sen­bur­gh schi­en kei­ne der in der mo­der­nen Po­li­tik ge­bräuch­li­chen Metho­den in An­wen­dung ge­bracht zu ha­ben. Er be­ach­te­te kei­ner­lei Zei­tung, ta­del­te nie­man­den und trat auch für nie­man­den ein; er hat­te kei­ne Mit­hel­fer und mach­te kei­nen Ge­brauch von den ge­wohn­ten Mit­teln, sich durch Be­ste­chung An­hän­ger zu ver­schaf­fen; es gab kei­ner­lei Be­schul­di­gung, die ge­gen ihn hät­te er­ho­ben wer­den kön­nen. Es schi­en eher, als ob sei­ne Ori­gi­na­li­tät in sei­nen rei­nen Hän­den und in sei­ner ma­kel­lo­sen Ver­gan­gen­heit läge — dar­in, und in sei­nem ma­gne­ti­schen Cha­rak­ter. Er war eine Er­schei­nung, wie sie eher dem Zeit­al­ter des rit­ter­li­chen Sin­nes an­ge­hör­te, eine rei­ne, of­fe­ne Per­sön­lich­keit, die gleich ei­nem fro­hen, un­schul­di­gen Kin­de so­fort für sich ein­nahm. Er hat­te das Volk über­rascht, als er da­mals wie eine Vi­si­on den fins­te­ren, wo­gen­den Was­sern des ame­ri­ka­ni­schen So­zia­lis­mus ent­stie­gen war — je­nen Was­sern, die seit ei­nem Jahr­hun­dert, seit der Zeit der grund­stür­zen­den, so­zia­len Re­vo­lu­ti­on un­ter den Nach­fol­gern und Jün­gern Hearsts, nur mit Ge­walt zu­rück­ge­hal­ten wer­den konn­ten, um nicht in ei­nem neu­en Stur­me sich zu ent­fes­seln. Der Er­folg je­ner Re­vo­lu­ti­on war das Ende der Plu­to­kra­tie ge­we­sen; die be­kann­ten al­ten Ge­set­ze von 1914 hat­ten ei­ni­ge der Ei­ter­beu­len je­ner Zeit zum Bers­ten ge­bracht, und die Ver­ord­nun­gen von 1915 und 1916 hat­ten die Neu­bil­dung sol­cher in ei­ner, der ehe­ma­li­gen ähn­li­chen, Stär­ke ver­hin­dert. Das war ohne Zwei­fel die Ret­tung Ame­ri­kas ge­we­sen, wenn die­se Ret­tung auch von ei­ner nichts we­ni­ger als be­geis­tern­den, son­dern ge­ra­de­zu trost­lo­sen Art war; und nun war die­ser ab­ge­stan­de­nen, so­zia­lis­ti­schen Hefe die­se ro­man­ti­sche Er­schei­nung, die ih­res­glei­chen bis­her nicht auf­zu­wei­sen hat­te, ent­stie­gen … So hat­te es we­nigs­tens der Se­na­tor dar­ge­stellt. Die Sa­che bot bis­her zu we­nig si­cher­ge­stell­te Mo­men­te für Per­cy, und so ließ er sie vor­läu­fig fal­len.

Es war doch eine lei­di­ge Welt, sag­te er zu sich selbst, in­dem sei­ne Ge­dan­ken sich der Hei­mat zu­wand­ten. Al­les schi­en so hoff­nungs- und wir­kungs­los. Auch wenn er sich be­müh­te, sei­ne geist­li­chen Mit­brü­der au­ßer Er­wä­gung zu las­sen, so muss­te er sich doch im­mer wie­der sa­gen, dass sie nicht die Män­ner wa­ren, wie die ge­gen­wär­ti­ge Lage sie er­for­der­te. Nicht, als ob er sich selbst über sie stell­te, nein, er war sich voll­kom­men be­wusst, dass auch er durch­aus un­taug­lich sei. Hat­te er das nicht eben dem ar­men Fa­ther Fran­cis ge­gen­über be­wie­sen, und vor­her bei un­ge­zähl­ten an­de­ren, die sich wäh­rend der letz­ten zehn Jah­re in dem To­des­kamp­fe ih­res Glau­bens an ihn ge­klam­mert hat­ten? So­gar der Erz­bi­schof, ein so hei­lig­mä­ßi­ger Mann er auch sein moch­te, mit sei­nem kin­der­from­men Glau­ben — war das der Mann, wie er zur Füh­rung der eng­li­schen Ka­tho­li­ken und zur Ver­nich­tung ih­rer Geg­ner not­wen­dig war? Es schi­en auf die­ser Erde kei­ne Rie­sen mehr zu ge­ben.

 

Was, was, um des Him­mels wil­len, war zu tun? Er ver­grub sein Ge­sicht in sei­ne Hän­de …

Ja, was die Kir­che brauch­te, das war ein neu­er Or­den; die al­ten wa­ren, wenn auch nicht durch ihre ei­ge­ne Schuld, an ihre Re­gel ge­bun­den. Ein Or­den war not­wen­dig, ein Or­den ohne Ha­bit und Ton­sur, ohne Tra­di­tio­nen und Ge­wohn­hei­ten, ein Or­den mit nichts als ei­ner voll­stän­di­gen, rück­halt­lo­sen Hin­ga­be und ohne Stolz selbst auf die hei­ligs­ten Pri­vi­le­gi­en, ohne Ver­gan­gen­heit und da­mit ohne die Mög­lich­keit, sich selbst­ge­fäl­lig in jene zu­rück­zu­zie­hen. Sei­ne An­ge­hö­ri­gen müss­ten die Frank­ti­reurs2 der Ar­mee Chris­ti bil­den, den Je­sui­ten ähn­lich … Aber ein Grün­der muss­te sich fin­den. — Doch wer, um Got­tes wil­len, wer? — ein Grün­der, nackt dem nack­ten Chris­tus fol­gend. Ja, Frank­ti­reurs aus al­len Stän­den, Pries­ter, Bi­schö­fe, Lai­en und Frau­en, mit den drei Ge­lüb­den na­tür­lich, und ei­ner be­son­de­ren Klau­sel, durch wel­che für im­mer und in je­der Form auch kor­po­ra­ti­ves Be­sitz­recht ver­bo­ten wür­de. — Jede emp­fan­ge­ne Gabe müss­te dem Bi­schof über­ge­ben wer­den, aus des­sen Di­öze­se sie stamm­te, und die­ser müss­te für den Un­ter­halt und et­wai­ge durch Rei­sen ver­ur­sach­te Aus­ga­ben auf­kom­men. O, was könn­te da nicht al­les ge­wirkt wer­den! … Er war ganz hin­ge­ris­sen von sei­ner Idee.

Dann wie­der rief er sich in die Wirk­lich­keit zu­rück und nann­te sich einen Nar­ren. War nicht die­se Idee so alt wie die Welt, und auch eben­so nutz­los für prak­ti­sche Zwe­cke? Und war es nicht der Traum ei­nes je­den see­le­n­eif­ri­gen Man­nes seit dem ers­ten Jah­re der Er­lö­sung ge­we­sen, dass solch ein Or­den ge­grün­det wer­den soll­te? … Er war ein Narr …

Und wie­der­um be­gann er, al­les zu über­den­ken. Si­cher, das war es, was er­for­der­lich war, um mit Er­folg den Kampf ge­gen die Frei­mau­rer auf­zu­neh­men. Und Frau­en, auch Frau­en! — War nicht ein Ver­such nach dem an­de­ren miss­lun­gen, weil die Men­schen der Macht der Frau­en ver­ges­sen hat­ten? Die­ser Feh­ler war es, der einst Na­po­le­on zu Fall ge­bracht hat­te; er hat­te einst Jo­se­phi­ne ver­traut und sie hat­te ihn ent­täuscht; des­halb trau­te er kei­ner an­de­ren Frau mehr. Auch in der ka­tho­li­schen Kir­che war der Frau kein an­de­rer ak­ti­ver An­teil über­tra­gen wor­den, als ent­we­der Ar­beit ganz nied­ri­ger Art, oder die mit der Er­zie­hung ver­bun­de­ne, und gab es denn sonst kei­ner­lei Feld für an­de­re Be­tä­ti­gung als die­ses? Nun, es war ja doch nutz­los, sich dar­über Ge­dan­ken zu ma­chen. Und ihn ging die Sa­che ja schließ­lich nichts an. Wenn Papst An­ge­li­cus, der jetzt in Rom re­gier­te, es nicht für gut fand, den Ge­dan­ken auf­zu­neh­men, wie konn­te ein ein­ge­bil­de­ter Narr von ei­nem Pries­ter in West­mins­ter sich un­ter­fan­gen, es zu tun?

Und sich an die Brust schla­gend, nahm er sein Bre­vier zur Hand.

Nach ei­ner hal­b­en Stun­de war er da­mit zu Ende und ver­sank wie­der in Nach­sin­nen, aber dies­mal galt es dem be­dau­erns­wer­ten Fa­ther Fran­cis. Was er wohl jetzt tun moch­te? Ob er wohl schon das rö­mi­sche Pries­ter­ge­wand der Die­ner Chris­ti ab­ge­legt hat­te? Der arme Mann! Und in­wie­weit war er, Per­cy Fran­klin, da­für ver­ant­wort­lich?

Als in die­sem Au­gen­bli­cke ein leich­tes Klop­fen an die Türe er­folg­te und Fa­ther Black­mo­re er­schi­en, um vor dem Schla­fen­ge­hen noch ein biss­chen zu plau­dern, sag­te ihm Per­cy, was vor­ge­fal­len war. Fa­ther Black­mo­re nahm sei­ne Pfei­fe aus dem Mun­de und seufz­te.

»Ich wuss­te, es wür­de so kom­men«, sag­te er. »Ja, ja!«

»Er war üb­ri­gens durch­aus auf­rich­tig«, er­klär­te Per­cy. »Vor acht Mo­na­ten schon sag­te er mir von sei­nen Schwie­rig­kei­ten.«

Fa­ther Black­mo­re zog be­däch­tig an sei­ner Pfei­fe.

»Fa­ther Fran­klin«, be­gann er dann, »die Din­ge lie­gen wirk­lich sehr ernst. Es ist die­sel­be Ge­schich­te, wo man nur hin­blickt. Was in al­ler Welt geht denn ei­gent­lich vor?«

Per­cy sann ein we­nig nach, ehe er ant­wor­te­te: »Ich glau­be, es wird zu ei­nem Sturm kom­men«, er­wi­der­te er.

»Ei­nen Sturm, mei­nen Sie?«, frag­te der an­de­re.

»Was sonst?«

Fa­ther Black­mo­re sah ihn ge­spannt an.

»Mir scheint es, als ob wir uns in ei­ner Wind­stil­le be­fän­den«, sag­te er. »Ha­ben Sie sich je in ei­nem Tai­fun be­fun­den?«

Per­cy schüt­tel­te den Kopf.

»Nun«, fuhr der an­de­re fort, »das Ver­häng­nis­volls­te da­bei ist die Ruhe. Die See ist wie Öl, man fühlt sich halb tot, kann nichts tun, und dann bricht der Sturm los.«

Per­cy blick­te über­rascht auf. Nie zu­vor hat­te er bei dem Pries­ter eine der­ar­ti­ge An­sicht wahr­ge­nom­men.

»Je­der Ka­ta­stro­phe geht die­se Ruhe vor­aus. In der Ge­schich­te war es im­mer so. Es war so vor dem Krieg im Os­ten, es war so vor der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on. Auch vor der Re­for­ma­ti­on war es so. Es ist da eine Art Gä­rung, und al­les ist er­schlafft. So war es al­lent­hal­ben auch in Ame­ri­ka wäh­rend mehr als acht­zig Jah­ren … Fa­ther Fran­klin, ich glau­be, dass sich et­was vor­be­rei­tet.«

»Spre­chen Sie«, sag­te Per­cy, in­dem er sich vor­wärts beug­te.

»Nun, ich sah Tem­ple­ton eine Wo­che, be­vor er starb, und er setz­te mir die­se Idee in den Kopf. Se­hen Sie, Fa­ther, es mag sein, dass die Ge­schich­te mit dem Os­ten über uns her­ein­bricht, aber an­de­rer­seits glau­be ich es auch wie­der nicht. Auf re­li­gi­ösem Ge­biet wird et­was ge­sche­hen. We­nigs­tens bin ich die­ser Mei­nung … Fa­ther, für wen hal­ten Sie Fel­sen­bur­gh?«

Per­cy war so ver­blüfft über die un­er­war­te­te Nen­nung die­ses Na­mens, dass er einen Au­gen­blick sprach­los vor sich hin­starr­te.

Es war drau­ßen eine stil­le Som­mer­nacht. Von der zwan­zig Yards vom Haus ent­fernt lau­fen­den Un­ter­grund­bahn her mach­te sich ab und zu ein schwa­ches Zit­tern be­merk­bar; im Üb­ri­gen herrsch­te in den um­lie­gen­den Stra­ßen voll­kom­me­ne Ruhe.

Manch­mal drang von fer­ne her ein Ge­heul, als ob ir­gend­ein un­heil­ver­kün­den­der Zug­vo­gel zwi­schen Lon­don und den Ster­nen kreuz­te; manch­mal er­scholl aus der Rich­tung des Flus­ses her der hohe, schril­le Schrei ei­nes weib­li­chen We­sens. Sonst ver­nahm man nur das ein­för­mi­ge, schwa­che Sum­men, wel­ches nun­mehr we­der bei Tag noch bei Nacht zur Ruhe kam.

»Ja, Fel­sen­bur­gh«, wie­der­hol­te Fa­ther Black­mo­re noch ein­mal. »Ich kann die­sen Mann nicht mehr aus mei­nem Kopf brin­gen. Und doch, was weiß ich von ihm? Wer weiß denn über­haupt et­was von ihm?«

Per­cy war im Be­griff zu ant­wor­ten, be­müh­te sich aber, sein po­chen­des Herz zu be­ru­hi­gen. Er konn­te nicht be­grei­fen, wes­halb er sich so er­regt fühl­te. Und schließ­lich, wer war denn auch die­ser alte Black­mo­re, dass er ihm auf ein­mal Furcht ein­jag­te? Aber be­vor er noch spre­chen konn­te, fuhr Black­mo­re fort: »Se­hen Sie, wie das Volk sich von der Kir­che los­sagt! Die War­gra­ves, die Hen­der­sons, Sir Ja­mes Bart­let, Lady Ma­gnier und so vie­le an­de­re. Nun kann man aber nicht sa­gen, dass alle die­se Men­schen cha­rak­ter­los sei­en — ich woll­te, sie wä­ren es; es lie­ße sich leich­ter dar­über re­den. Und ver­gan­ge­nen Mo­nat Sir Ja­mes Bart­let! Da ha­ben Sie einen Mann, der sein hal­b­es Ver­mö­gen für kirch­li­che Zwe­cke her­ge­ge­ben hat, und auch jetzt noch be­dau­ert er es nicht. Er gibt zu, dass es im­mer­hin bes­ser ist, ir­gend­ei­ne Re­li­gi­on zu ha­ben, als gar kei­ne, aber so weit es auf ihn an­kom­me, kön­ne er nicht län­ger an eine sol­che glau­ben. Was hat nun al­les das zu be­deu­ten? Ich sage Ih­nen, et­was be­rei­tet sich vor. Gott weiß was! Und ich kann da­bei die­sen Fel­sen­bur­gh nicht aus dem Kop­fe brin­gen … Fa­ther Fran­klin —« »Ja?«

»Ha­ben Sie be­merkt, wie we­nig her­vor­ra­gen­de Män­ner wir ha­ben? Es ist nicht mehr, wie vor fünf­zig oder selbst wie vor drei­ßig Jah­ren. Da­mals hat­ten wir Ma­son, Sel­bor­ne, Sher­brook und ein hal­b­es Dut­zend an­de­rer. Da gab es auch noch einen Bright­man als Erz­bi­schof, — und jetzt! Und dann die Kom­mu­nis­ten! Braithwai­te ist seit fünf­zehn Jah­ren tot. Ge­wiss, er war kein un­be­deu­ten­der Mann, aber er sprach im­mer nur von der Zu­kunft, nie von der Ge­gen­wart, und nun sa­gen Sie mir, wel­chen her­vor­ra­gen­den Mann ha­ben wir seit­dem auf­zu­wei­sen? Und da kommt die­ser Neu­ling, den nie­mand kennt, der vor we­ni­gen Mo­na­ten in Ame­ri­ka auf­tauch­te, und des­sen Name be­reits in je­der­manns Mun­de ist. Nun gut, also!«

Per­cy run­zel­te die Stirn.

»Ich kann nicht be­haup­ten, dass ich es ver­ste­he«, sag­te er.

Fa­ther Black­mo­re klopf­te sei­ne Pfei­fe aus, be­vor er ant­wor­te­te.

»Well«, sag­te er, in­dem er auf­stand, »ich kann mir nicht hel­fen, aber ich glau­be, Fel­sen­bur­gh ist im Be­grif­fe, et­was zu un­ter­neh­men. Was es ist, weiß ich nicht; es kann et­was für uns sein, oder ge­gen uns. Aber er ist Frei­mau­rer, ver­ges­sen Sie das nicht … Hm, mag auch sein, dass ich ein al­ter Narr bin. Gute Nacht!« —

»Ei­nen Au­gen­blick, Fa­ther«, sag­te Per­cy lang­sam. »Mei­nen Sie —? Gu­ter Gott! Spre­chen Sie, was mei­nen Sie?« Er zö­ger­te und blick­te sein Ge­gen­über an.

Der alte Geist­li­che ant­wor­te­te nur mit ei­nem Blick un­ter den bu­schi­gen Au­gen­brau­en her­vor; es schi­en Per­cy, als ob auch je­ner, trotz sei­nes leich­ten Plau­der­to­nes, von Furcht vor ei­nem un­be­stimm­ten Et­was er­füllt wäre. Aber kein äu­ße­res An­zei­chen deu­te­te dar­auf hin.

Per­cy stand re­gungs­los da, auch nach­dem sich die Türe be­reits ge­schlos­sen hat­te. Dann schritt er nach sei­nem Bet­sche­mel hin­über.

1 Knei­fer, Zwi­cker <<<

2 Als Fran­cs-ti­reurs bzw. Frank­ti­reur wur­den die wäh­rend des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges 1870/71 auf­ge­stell­ten fran­zö­si­schen Frei­korps be­zeich­net. Auch wäh­rend des Ers­ten und Zwei­ten Welt­kriegs wur­den fran­zö­si­sche und bel­gi­sche Par­ti­sa­nen als Fran­cs-ti­reurs be­zeich­net. <<<