Der Herr der Welt

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Zweites Kapitel

1.

Die Kor­re­spon­denz mit dem Kar­di­nal­pro­tek­tor von Eng­land be­schäf­tig­te Per­cy Fran­klin täg­lich di­rekt min­des­tens zwei Stun­den, und in­di­rekt na­he­zu acht.

In den letz­ten acht Jah­ren hat­te der Hei­li­ge Stuhl, den mo­der­nen Be­dürf­nis­sen ent­spre­chend, sei­ne ge­wohn­te Metho­de ei­ner Re­vi­si­on un­ter­zo­gen, und jede wich­ti­ge Kir­chen­pro­vinz des ge­sam­ten Erd­krei­ses be­saß nun nicht nur einen sie lei­ten­den Me­tro­po­li­ten, son­dern auch einen Ver­tre­ter in Rom, des­sen Auf­ga­be es war, ei­ner­seits mit dem Paps­te, and­rer­seits mit den Di­öze­sa­nen, die er ver­trat, in di­rek­ter Ver­bin­dung zu ste­hen. Mit an­de­ren Wor­ten, die Zen­tra­li­sa­ti­on hat­te, Hand in Hand mit den Ge­set­zen des Le­bens, ra­sche Fort­schrit­te ge­macht, und da­mit auch die Frei­heit in der Metho­de und die Aus­deh­nung der Macht. Eng­lands Kar­di­nal­pro­tek­tor war Abt Mar­tin, ein Be­ne­dik­ti­ner, und es war Per­cys Auf­ga­be, wie auch die ei­nes Dut­zend wei­te­rer Bi­schö­fe, Pries­ter und Lai­en (mit de­nen, bei­läu­fig er­wähnt, jede Form von Be­ra­tung ihm ver­bo­ten war), je­nem täg­lich in ei­nem lan­gen Brie­fe Be­richt zu er­stat­ten über die Din­ge, die zu sei­ner Kennt­nis ka­men.

Es war da­her ein merk­wür­di­ges Le­ben, das, Per­cy führ­te. Er hat­te im erz­bi­schöf­li­chen Palais zu West­mins­ter ein paar Zim­mer an­ge­wie­sen er­hal­ten und ge­hör­te, wenn ihm auch weit­ge­hen­de Frei­heit ge­las­sen war, zu dem Ka­pi­tel der Ka­the­dra­le. Er er­hob sich früh, wid­me­te eine Stun­de der Be­trach­tung, wor­auf er sei­ne Mes­se las. Dann früh­stück­te er, be­te­te ein we­nig Bre­vier und mach­te sich an den Ent­wurf sei­nes Be­rich­tes. Um zehn Uhr stand er Be­su­chern zur Ver­fü­gung und war dann ge­wöhn­lich bis Mit­tag in An­spruch ge­nom­men teils von je­nen, die frei­wil­lig ka­men und ihn zu spre­chen wünsch­ten, teils von sei­nem Sta­be, von ei­nem hal­b­en Dut­zend Be­richt­er­stat­tern, die ihm an­ge­zeich­ne­te Ar­ti­kel aus Zei­tun­gen nebst ih­ren ei­ge­nen Be­mer­kun­gen dazu zu be­sor­gen hat­ten. Dann speis­te er ge­mein­sam mit den üb­ri­gen Pries­tern des Hau­ses; nach Tisch ging er aus, Leu­te auf­zu­su­chen, de­ren An­sich­ten zu hö­ren ihm not­wen­dig er­schi­en; kurz nach sech­zehn Uhr pfleg­te er zu­rück­zu­keh­ren zu ei­ner Tas­se Tee. Nach Been­di­gung sei­nes Bre­viers und ei­nem Be­such beim hei­ligs­ten Al­tarssa­kra­ment schloss er sich ein, sei­nen Brief ab­zu­fas­sen, der bei al­ler Kür­ze doch be­deu­ten­de Auf­merk­sam­keit und ge­naue Ab­wä­gung er­for­der­te. Nach dem Abendes­sen mach­te er sich ei­ni­ge No­ti­zen für den nächs­ten Tag, emp­fing wie­der Be­su­che und ging bald nach zwei­und­zwan­zig Uhr zur Ruhe. Zwei­mal in der Wo­che war er ver­pflich­tet, nach­mit­tags an der Ve­s­per teil­zu­neh­men, und sams­tags hielt er ge­wöhn­lich das Hochamt.

Es war da­her ein ei­gen­tüm­lich zer­streu­en­des Le­ben, das er führ­te, ein Le­ben, nicht ohne Ge­fah­ren.

Ei­nes Ta­ges, kur­ze Zeit nach sei­nem Be­such in Brighton, als er eben sei­nen Brief be­en­de­te, teil­te ihm sein Die­ner, da Kopf zur Türe her­ein ste­ckend, mit, dass Fa­ther Fran­cis un­ten sei.

»In zehn Mi­nu­ten«, sag­te Per­cy, ohne auf­zu­se­hen.

Er schrieb die letz­ten Zei­len, ent­nahm den Bo­gen der Ma­schi­ne und be­gann, un­be­wusst das La­tein ins Eng­li­sche über­set­zend, das Ge­schrie­be­ne zu über­le­sen.

»West­mins­ter, den 14. Mai.

Emi­nenz!

Seit ges­tern bin ich in den Be­sitz ei­ni­ger wei­te­rer Nach­rich­ten ge­langt. Es er­scheint als ge­wiss, dass die Vor­la­ge, be­tref­fend den Ge­brauch des Es­pe­ran­to für alle staat­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, im Juni ein­ge­bracht wer­den wird. Ich habe dies durch John­son er­fah­ren. Wie ich schon frü­her aus­ein­an­der­setz­te, ist dies der letz­te Stein zur Be­fes­ti­gung un­se­rer Be­zie­hun­gen zum Kon­ti­nent, was in die­sem Au­gen­bli­cke zu be­dau­ern ist … Ein großer Zu­drang der Ju­den zum Frei­mau­rer­tum ist zu er­war­ten. Bis­her hat­ten sich die Ju­den bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de fern­ge­hal­ten, doch hat die Ab­schaf­fung der Got­tes­idee das Ih­ri­ge ge­tan, die­je­ni­gen Ju­den, wel­che nicht An­hän­ger der Idee ei­nes per­sön­li­chen Mes­si­as sind, und de­ren Zahl in der letz­ten Zeit be­deu­tend an­ge­wach­sen ist, in die Be­we­gung her­ein­zu­zie­hen. Auch hier ist es der Mensch­heits­glau­be, der am Wer­ke ist. Ich hör­te heu­te in die­sem Sin­ne den Rab­bi Si­me­on in der City spre­chen, und der Bei­fall, der ihm zu­teil­wur­de, hat einen tie­fen Ein­druck bei mir hin­ter­las­sen. Es be­steht auch eine sich im­mer mehr stei­gern­de Er­war­tung, dass das Auf­tre­ten des Man­nes un­mit­tel­bar be­vor­ste­he, der an die Spit­ze der kom­mu­nis­ti­schen Be­we­gung tre­ten und ihre Kräf­te en­ger zu­sam­menschlie­ßen wer­de. Ich schlie­ße einen um­fang­rei­chen dies­be­züg­li­chen Aus­schnitt aus dem ›Neu­en Vol­k‹ bei, der all­ge­mein Wi­der­hall ge­fun­den hat. Man sagt, dass die Um­stän­de hin­drän­gen auf das Er­schei­nen ei­nes sol­chen Man­nes in al­ler­nächs­ter Zeit, dass wäh­rend der letz­ten hun­dert Jah­re Pro­phe­ten und Vor­läu­fer er­stan­den sei­en, und sich ein Auf­hö­ren der­sel­ben in letz­ter Zeit fest­stel­len lässt. Es ist merk­wür­dig, wie dies im großen gan­zen sich mit den Leh­ren des Chris­ten­tums deckt. Ew. Emi­nenz wol­len be­mer­ken, dass das Bild der ›Neun­ten Wo­ge‹ mit ei­ner ge­wis­sen Be­rech­ti­gung an­ge­wandt wird … Ich hör­te heu­te von dem Ab­fall ei­ner al­ten, ka­tho­li­schen Fa­mi­lie, der War­gra­ves von Nor­folk, samt ih­rem Ka­plan Mick­lem, der, wie es scheint, seit län­ge­rem schon in die­ser Rich­tung tä­tig war. Die ›E­po­che‹ be­rich­tet dies in An­be­tracht der be­son­de­ren Um­stän­de mit Be­frie­di­gung; aber lei­der sind sol­che Fäl­le jetzt nicht mehr au­ßer­ge­wöhn­lich … Es be­steht viel Arg­wohn un­ter der Lai­en­welt. Sie­ben Pries­ter der Di­öze­se West­mins­ter ha­ben sich in den letz­ten drei Mo­na­ten von uns los­ge­sagt; and­rer­seits freut es mich, Eu­rer Emi­nenz zu be­rich­ten, dass Se. Erz­bi­schöf­li­che Gna­den die­sen Mor­gen den ex­an­gli­ka­ni­schen Bi­schof von Car­lis­le mit ei­nem hal­b­en Dut­zend sei­nes Kle­rus in die ka­tho­li­sche Ge­mein­schaft auf­ge­nom­men hat. Wir er­war­te­ten dies schon seit ei­ni­gen Wo­chen. Ich lege auch Aus­schnit­te bei aus der ›Tri­bü­ne‹, der ›Lon­do­ner Trom­pe­te‹ und dem ›Beo­b­ach­ter‹,1 mit mei­nen dies­be­züg­li­chen Be­mer­kun­gen. Eure Emi­nenz wol­len dar­aus er­se­hen, wie groß die Er­re­gung be­züg­lich die­ses Er­eig­nis­ses ist.

Es dürf­te sich emp­feh­len, die for­mel­le Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on der War­gra­ves und ge­nann­ter acht Pries­ter in Nor­folk, bzw. West­mins­ter, be­kannt zu ge­ben, im Üb­ri­gen je­doch wei­ter kei­ne No­tiz da­von zu neh­men.«

Per­cy leg­te den Bo­gen weg, raff­te die an­de­ren fünf oder sechs Pa­pie­re, die sei­ne Aus­zü­ge und Be­mer­kun­gen ent­hiel­ten, zu­sam­men, setz­te sei­ne Un­ter­schrift un­ter den Be­richt und steck­te al­les in den be­reit­lie­gen­den, be­druck­ten Um­schlag. Dann nahm er sein Bi­rett und be­gab sich zum Lift.

Der Mo­ment, als er durch die Gla­stü­re in das Sprech­zim­mer ein­ge­tre­ten war, ge­nüg­te ihm, um zu se­hen, dass die Kri­sis ge­kom­men, wenn nicht schon vor­über sei. Fa­ther Fran­cis sah elend und krank aus, aber es lag eine ei­gen­tüm­li­che Här­te um sei­ne Au­gen und sei­nen Mund, als er so war­tend da­stand. Er schüt­tel­te jäh den Kopf.

»Ich bin ge­kom­men, um Ih­nen Le­be­wohl zu sa­gen, Fa­ther. Ich kann es nicht län­ger er­tra­gen.«

Per­cy be­müh­te sich, kei­ner­lei Be­we­gung zu zei­gen. Er deu­te­te kurz nach dem Stuh­le hin und nahm auch selbst Platz.

»Al­les ist zu Ende«, sag­te sein Ge­gen­über mit voll­kom­men si­che­rer Stim­me. »Ich glau­be an nichts. Seit ei­nem Jah­re habe ich an nichts mehr ge­glaubt.«

»Sie ha­ben nichts ge­fühlt, wol­len Sie sa­gen«, ant­wor­te­te Per­cy.

»Das wäre nicht das Rich­ti­ge, Fa­ther«, fuhr der an­de­re fort. »Ich sage Ih­nen, dass kein Fun­ke von Glau­ben in mir ge­blie­ben ist. Ich kann dies nicht ein­mal mehr be­grün­den. Ich kann nur al­lem Le­be­wohl sa­gen.«

Per­cy hat­te nichts mehr zu sa­gen. Er hat­te dem Man­ne wäh­rend ei­nes Zeit­rau­mes von über acht Mo­na­ten zu­ge­spro­chen, seit Fa­ther Fran­cis ihm an­ver­traut hat­te, dass sein Glau­be im Schwin­den be­grif­fen sei. Er be­griff voll­kom­men, wie der Fall lag; er fühl­te in­ni­ges Mit­leid mit die­sem ar­men Mann, der hin­ein­ge­ris­sen wor­den war in den sinn­ver­wir­ren­den Wir­bel des Tri­um­phes des neu­en Men­schen­tums. Äu­ßer­lich­kei­ten hat­ten ge­ra­de in der Ge­gen­wart zum Er­schre­cken an Kraft ge­won­nen, so­dass es schwer war, sich ih­rem Zwan­ge zu ent­zie­hen, und der Glau­be war, aus­ge­nom­men für die­je­ni­gen, die sich in ih­rem In­ners­ten be­wusst wa­ren, dass Wil­le und Gna­de al­les und Ge­fühl nichts be­deu­te­ten, gleich ei­nem Kin­de, das in dem Rä­der­wer­ke ei­ner un­ge­heue­ren in Gang be­find­li­chen Ma­schi­ne her­um­krab­belt; es konn­te ja wohl le­bend da­von­kom­men, es konn­te dar­in aber auch eben­so gut zu nichts zer­malmt wer­den. Je­den­falls wa­ren Ner­ven aus Stahl er­for­der­lich, um un­ter sol­chen Um­stän­den noch aus­zu­hal­ten. Es war schwer zu ent­schei­den, in­wie­fern ein ei­ge­nes Ver­schul­den vor­lag, und doch sag­te es Per­cy sein Glau­be, dass ein sol­ches vor­lag. Zu Zei­ten des Glau­bens wür­de schließ­lich auch ein sehr un­zu­läng­li­ches Er­fas­sen der Re­li­gi­on ei­ner Pro­be stand­ge­hal­ten ha­ben; in die­ser Zeit ma­te­ri­el­len Stre­bens al­ler konn­te nur der De­mü­ti­ge und Rei­ne dau­ernd sei­nen Glau­ben be­wah­ren, es sei denn, dass ge­ra­de­zu ein Wun­der ge­sch­ah, ein Wun­der von Igno­ranz, die etwa noch Schutz ge­währ­te. Die Ver­bin­dung der Psy­cho­lo­gie mit dem Ma­te­ria­lis­mus schi­en in der Tat, von ei­ner Sei­te be­trach­tet, für al­les eine ge­nü­gen­de Er­klä­rung zu ge­ben; es be­durf­te ei­nes star­ken, über­na­tür­li­chen Emp­fin­dungs­ver­mö­gens, um in ihre prak­ti­sche Un­zu­läng­lich­keit ein­zu­drin­gen. Und so­weit Fa­ther Fran­cis’ per­sön­li­che Verant­wort­lich­keit in Fra­ge kam, konn­te er sich des Ge­füh­les nicht er­weh­ren, dass das Ze­re­mo­ni­el­le in sei­ner Re­li­gi­on einen zu brei­ten, das Ge­bet aber einen viel zu ge­rin­gen Raum ein­nahm. Äu­ßer­lich­kei­ten hat­ten al­les In­ner­li­che in ihm auf­ge­so­gen.

 

Per­cy ließ da­her kei­ner­lei Sym­pa­thie in sei­nen Au­gen zum Aus­druck kom­men.

»Sie glau­ben na­tür­lich, dass die Schuld an mir liegt?«, frag­te je­ner nicht ohne Schär­fe.

»Mein lie­ber Fa­ther«, ent­geg­ne­te Per­cy, be­we­gungs­los in sei­nem Stuh­le sit­zend, »ich weiß, es ist Ihre Schuld. Hö­ren Sie mich an. Sie sa­gen, das Chris­ten­tum ist et­was Ab­sur­des, Un­mög­li­ches. Nun wis­sen Sie aber, dass das nicht sein kann. Es mag un­wahr sein — da­von spre­che ich jetzt nicht, ob­wohl ich voll­kom­men ge­wiss bin, dass es ab­so­lut wahr ist —, aber so­lan­ge ge­bil­de­te und tu­gend­haf­te Leu­te fort­fah­ren, dar­an fest­zu­hal­ten, kann es nicht ab­surd sein. Sa­gen, es sei ab­surd, ist ein­fach Über­he­bung; es wür­de be­deu­ten, alle jene, die dar­an glau­ben, als nicht etwa nur im Irr­tum be­fan­gen, son­dern eben­so je­der In­tel­li­genz man­gelnd, als —« »Nun gut also«, un­ter­brach der an­de­re, »dann neh­men wir ein­mal an, ich wi­der­ru­fe und sage ein­fach, ich glau­be nicht, dass es wahr ist.«

»Sie wi­der­ru­fen nicht«, fuhr Per­cy ru­hig fort, »Sie glau­ben tat­säch­lich im­mer noch dar­an, dass es ab­surd ist; Sie ha­ben mir das min­des­tens ein dut­zend­mal schon ge­sagt. Und ich wie­der­ho­le Ih­nen, dass es Über­he­bung, dass es Stolz ist, und das reicht voll­kom­men hin, um al­les an­de­re zu er­klä­ren. Auf die mo­ra­li­sche Stel­lung, die man ein­nimmt, kommt es an. Es mö­gen dann noch an­de­re Din­ge Mit­wir­ken —« Fa­ther Fran­cis sah scharf auf.

»Na­tür­lich die alte Ge­schich­te«, sag­te er höh­nisch.

»Wenn Sie mir auf Ihr Ehren­wort ver­si­chern, dass kein weib­li­ches We­sen mit im Spiel ist, oder kein spe­zi­el­ler sünd­haf­ter Vor­satz, den Sie zur Aus­füh­rung brin­gen wol­len, so will ich Ih­nen glau­ben. Aber es ist, wie Sie sag­ten, eine alte Ge­schich­te.«

»Ich schwö­re Ih­nen, dass nichts der­glei­chen vor­liegt«, be­teu­er­te mit er­ho­be­ner Stim­me der an­de­re.

»Dann, Gott sei Dank«, sag­te Per­cy, »es sind dann doch we­ni­ger Hin­der­nis­se, um den Weg zum Glau­ben zu­rück­zu­fin­den.«

Schwei­gen herrsch­te eine Wei­le nach die­sen Wor­ten. Per­cy hat­te wirk­lich nichts mehr zu sa­gen. Wie­der und wie­der hat­te er ihm von dem in­ne­ren Le­ben ge­spro­chen, in dem Wahr­hei­ten als wahr er­kannt wer­den und Glau­bens­ak­te sich be­stä­ti­gen; er hat­te mit Nach­druck Ge­bet und De­mut emp­foh­len, im­mer und im­mer wie­der, bis er selbst ih­rer Na­men über­drüs­sig ge­wor­den war, und er war auf die Er­wi­de­rung ge­sto­ßen, dass dies nichts als ein Rat zur Au­to­sug­ge­s­ti­on sei. End­lich hat­te er dar­an ver­zwei­felt, ihm, der es selbst nicht ein­sah, klarzu­ma­chen, dass, wenn ei­ner­seits auch Lie­be und Glau­be Au­to­sug­ge­s­ti­on, Selbs­t­hyp­no­tis­mus ge­nannt wer­den mö­gen, die­se and­rer­seits doch eben­so sehr Wirk­lich­kei­ten sind, wie z. B. künst­le­ri­sche An­la­gen, und da­her ähn­li­che Pfle­ge er­for­dern; dass sie eine Über­zeu­gung ih­rer selbst her­vor­brin­gen; dass sie Din­ge er­wä­gen und prü­fen, wel­che, wenn ein­mal er­wo­gen und ge­prüft, sich un­ver­gleich­lich rea­ler und ob­jek­ti­ver er­wei­sen, als sinn­li­che Din­ge. Au­gen­schein­li­che Be­wei­se schie­nen für den Mann kei­ne Be­deu­tung zu ha­ben.

Da­rum schwieg er jetzt, nie­der­ge­drückt durch das Be­wusst­sein, sich der Kri­sis ge­gen­über zu be­fin­den, und ließ sei­ne Bli­cke, ei­gent­lich ohne et­was zu se­hen, in dem klei­nen, schlich­ten, alt­mo­di­schen Sprech­zim­mer mit sei­nem großen Fens­ter, sei­nem ein­fa­chen, ge­floch­te­nen Läu­fer Her­um­schwei­fen, nur durch­drun­gen von der schreck­li­chen Hoff­nungs­lo­sig­keit die­ses sei­nes mensch­li­chen Bru­ders, der Au­gen hat­te, aber nicht sah, Ohren hat­te, und doch taub war. Er wünsch­te, je­ner möch­te sich ver­ab­schie­den und ge­hen. Es war hier nichts mehr zu tun.

Fa­ther Fran­cis, der in nach­läs­si­ger Stel­lung da­ge­s­es­sen hat­te, schi­en Per­cys Ge­dan­ken zu er­ra­ten, und setz­te sich plötz­lich zu­recht.

»Sie sind mei­ner müde«, sag­te er, »ich will ge­hen.«

»Ich bin Ih­rer nicht müde, mein lie­ber Fa­ther«, gab Per­cy ru­hig zu­rück. »Ich bin nur schreck­lich trau­rig. Sie se­hen, ich weiß, dass al­les Wahr­heit ist.«

Der an­de­re blick­te ihn be­küm­mert an.

»Und ich weiß, es ist nicht«, sag­te die­ser. »Es ist al­les sehr schön, ich wünsch­te, ich könn­te es glau­ben. Ich be­zweifle, ob ich je­mals wie­der glück­lich sein wer­de — aber — es ist nun ein­mal so.«

Per­cy seufz­te. So oft hat­te er ihm ge­sagt, dass das Herz eben­so ein gött­li­ches Ge­schenk ist, wie der Ver­stand, und dass in dem Su­chen nach Gott je­nes zu ver­nach­läs­si­gen gleich­be­deu­tend sei mit dem si­che­ren Ruin, aber die­ser Pries­ter hat­te kaum je die An­wen­dung die­ser Wahr­heit bei sich selbst er­kannt. Er hat­te mit den al­ten psy­cho­lo­gi­schen Ar­gu­men­ten geant­wor­tet, dass, was durch die Er­zie­hung sug­ge­riert sei, al­les er­klär­lich und be­greif­lich ma­che.

»Ich ver­mu­te, Sie wer­den nichts mehr von mir wis­sen wol­len«, sag­te der an­de­re.

»Sie sind es, der von mir schei­det«, sag­te Per­cy. »Fol­gen kann ich nicht, wenn Sie etwa dies mei­nen soll­ten.«

»Aber — aber, kön­nen wir nicht Freun­de blei­ben?«

Des äl­te­ren Pries­ters Herz wur­de plötz­lich er­regt.

»Freun­de?«, sag­te er. »Ver­ste­hen Sie un­ter Freund­schaft nichts wei­ter als Sen­ti­men­ta­li­tät? Was für eine Freund­schaft könn­te zwi­schen uns be­ste­hen?«

Ein fins­te­rer Aus­druck kam plötz­lich auf das Ge­sicht des an­de­ren.

»Ich dach­te es mir.«

»John!«, rief Per­cy. »Sie se­hen es ein, nicht wahr? Wie kann zwi­schen uns ein Ver­kehr be­ste­hen, wenn Sie nicht an Gott glau­ben? Denn ich tue Ih­nen den Ge­fal­len, an­zu­neh­men, dass dies der Fall ist.«

Fran­cis sprang auf.

»Gut, —«, rief er wü­tend. »Ich hät­te es nie für mög­lich ge­hal­ten. Ich gehe.«

Er wand­te sich zur Türe.

»John!« wie­der­hol­te Per­cy. »Wol­len Sie so schei­den? Wol­len Sie mir nicht die Hand rei­chen?«

Der an­de­re wand­te sich noch­mals um, bit­te­ren Groll auf sei­nem Ant­litz.

»Nun, Sie sag­ten ja, Freun­de könn­ten wir nicht mehr sein.« —

Per­cy woll­te spre­chen; dann be­griff er und lä­chel­te.

»Ah, nur das ver­ste­hen Sie also un­ter Freund­schaft? Ich bit­te um Ent­schul­di­gung. Nun, höf­lich kön­nen wir schon zu­ein­an­der sein.«

Er hielt ihm noch sei­ne Hand ent­ge­gen. Fa­ther Fran­cis sah sie einen Mo­ment an, sei­ne Lip­pen zit­ter­ten: Noch ein­mal dreh­te er sich um, und ohne ein wei­te­res Wort ver­ließ er das Zim­mer.

1 im Ori­gi­nal: ›Tri­bu­ne‹, ›The Lon­don Trum­pet‹ und ›The Ob­ser­ver‹ <<<

2.

Per­cy stand re­gungs­los, bis ihm die au­ßen an­ge­brach­te au­to­ma­ti­sche Glo­cke ver­si­cher­te, dass Fa­ther Fran­cis wirk­lich ge­gan­gen war; dann ver­ließ auch er das Zim­mer und wand­te sich dem lan­gen Gan­ge zu, der in die Ka­the­dra­le führ­te. Wäh­rend er die Sa­kris­tei durch­schritt, dran­gen von fern her Or­gel­klän­ge an sein Ohr, und beim Ein­tritt in die als Pfarr­kir­che be­nütz­te Sei­ten­ka­pel­le be­merk­te er, dass im großen Chor noch Ve­s­per ge­sun­gen wur­de. Das Sei­ten­schiff ent­lang ge­hend, wand­te er sich nach rechts, durch­schritt das Mit­tel­schiff und knie­te nie­der.

Es war ge­gen Abend, und der große, dunkle Raum war da und dort durch röt­li­che Licht­fle­cken be­leuch­tet, die die un­ter­ge­hen­de Son­ne über den schim­mern­den Mar­mor und die, dank der Frei­ge­big­keit ei­nes rei­chen Kon­ver­ti­ten, nun­mehr in ih­rer Vollen­dung das Got­tes­haus schmücken­de Gol­dor­na­men­te ge­wor­fen hat­te. Ihm ge­gen­über er­hob sich der Chor mit je ei­ner Rei­he mit Chor­hemd und Her­me­lin­kra­gen be­klei­de­ter Ka­no­ni­ker, und in der Mit­te der mäch­ti­ge Bal­da­chin, un­ter dem die sechs Kan­de­la­ber brann­ten, wie sie seit nun­mehr über ei­nem Jahr­hun­dert Tag für Tag ge­brannt hat­ten. Da­hin­ter lag die hohe Ap­sis mit dem düstren, von Fens­tern durch­bro­che­nen Ge­wöl­be, über dem Chris­tus in sei­ner Ma­je­stät thron­te. Be­vor Per­cy sich in das Ge­bet ver­senk­te, ließ er sein Auge ein we­nig her­um­wan­dern, sich la­bend an der ihn um­ge­ben­den Pracht, lau­schend dem Don­ner des Cho­res, dem Rau­schen der Or­gel­klän­ge und der fei­nen, wei­chen Stim­me des Pries­ters. Dort zur Lin­ken grüß­te der ge­dämpf­te Schein der Lam­pen, die vor dem Al­ler­hei­ligs­ten Sa­kra­men­te brann­ten, zur Rech­ten fla­cker­ten ein Dut­zend Ker­zen vor den ha­ge­ren Hei­li­gen­fi­gu­ren, wäh­rend hoch oben das gi­gan­ti­sche Kreuz hing mit dem ab­ge­ma­ger­ten, ab­ge­zehr­ten ar­men Man­ne, der alle, die zu ihm auf­blick­ten, in die Arme Got­tes rief.

Dann ver­barg er sein Ge­sicht in den Hän­den, at­me­te ei­ni­ge Male tief auf und be­gann sein Ge­bet.

Wie er es stets beim be­trach­ten­den Ge­bet zu tun pfleg­te, be­gann er mit ei­nem frei­wil­li­gen Akt des Selbst­los­lö­sens von der Sin­nen­welt. Un­ter der Vor­stel­lung des Sin­kens un­ter eine Ober­flä­che dräng­te er sei­ne ge­sam­ten See­len­kräf­te nach in­nen, ver­senk­te sie förm­lich, bis der Klang der Or­gel, das Schlür­fen der Fuß­trit­te, die Här­te des Bet­stuh­les un­ter sei­nem Hand­ge­lenk — bis al­les los­ge­löst und ei­ner mit sei­ner Per­son in kei­ner­lei Ver­bin­dung mehr ste­hen­den Au­ßen­welt an­zu­ge­hö­ren schi­en, bis er sich ganz al­lein fühl­te mit sei­nem po­chen­den Her­zen, sei­nem Geis­te, der ihm Bild um Bild vor­führ­te und Re­gun­gen her­vor­rief, die zu schwach wa­ren, um sich selbst zu äu­ßern. Dann noch wei­ter nie­der­tau­chend und noch mehr sich los­lö­send von al­lem, was er be­saß und war, wur­de er sich be­wusst, dass selbst die Ver­bin­dung mit sei­nem Kör­per auf­hör­te, und dass sein Ge­müt und Herz, von Ehr­furcht durch­drun­gen durch die All­ge­gen­wart, die sie um­schweb­te, sich dem Wil­len an­schmieg­ten, der ih­nen Herr und Be­schüt­zer war, und sich ihm un­ter­ord­ne­ten. Noch ei­ni­ge tie­fe Atem­zü­ge, er fühl­te die Nähe des Al­ler­höchs­ten, stam­mel­te me­cha­nisch ei­ni­ge Wor­te und ver­sank in je­nen Frie­den, der dem Auf­ge­ben der ei­ge­nen Denk­tä­tig­keit folgt.

In die­sem Zu­stand ver­harr­te er eine Wei­le. Fern über ihm tön­te die hin­rei­ßen­de Mu­sik, der Schall der Trom­pe­ten und der schril­len Flö­ten, aber sie wirk­ten wie un­be­deu­ten­der Stra­ßen­lärm auf einen fest Schla­fen­den. Er fühl­te sich wie durch einen dich­ten Schlei­er von der Au­ßen­welt ge­trennt, jen­seits der Gren­zen der Sin­ne und Re­fle­xio­nen, an je­nem ver­bor­ge­nen Orte, zu dem er nach end­lo­sem Mü­hen erst den Weg sich ge­bahnt hat­te, in je­ner Re­gi­on, wo Vor­stel­lun­gen sich mit der Schnel­lig­keit des Lich­tes ab­lö­sen, wo der schwan­ken­de Wil­le bald die­sen, bald je­nen Akt er­fasst, ihn formt und wie­der fal­len lässt, wo alle Din­ge sich tref­fen, wo die Wahr­heit klar zu­ta­ge tritt, er­fasst und er­probt wird, wo der im­ma­nen­te Gott eins ist mit dem tran­szen­den­ten, wo die wah­re Be­deu­tung der äu­ße­ren Welt durch die Er­kennt­nis ih­res in­ne­ren We­sens sich er­schließt und die Kir­che und ihre Mys­te­ri­en sich dar­bie­ten, wie von ei­nem Glo­ri­en­schein um­ge­ben.

So lag er ei­ni­ge Au­gen­bli­cke, sich den Ein­drücken und der Ruhe hin­ge­bend. Dann sich zum Be­wusst­sein sei­ner selbst er­he­bend, be­gann er: »Herr, hier bin ich und hier bist du. Ich er­ken­ne dich. Nichts ist hier als du und ich All die­ses lege ich in dei­ne Hän­de nie­der, — dei­nen ab­trün­ni­gen Pries­ter, dein Volk, die Welt und mich selbst. Vor dir brei­te ich es aus, — vor dir brei­te ich es aus.«

Er hielt inne, ließ die gleich­mä­ßi­ge Ruhe sei­ner See­le sich wie­der­her­stel­len, bis al­les, was sein Den­ken be­schäf­tig­te, wie eine Ebe­ne am Fuße ei­nes Ber­ges dalag.

 

»… Ich, o Herr, ich wür­de ohne dei­ne Gna­de in Fins­ter­nis und Elend ver­fal­len. Du bist es, der mich be­hü­tet. Lass dein Werk in mei­ner See­le sich ver­voll­komm­nen und vollen­den. Gib nicht zu, dass ich auch nur einen Au­gen­blick wan­ke. Ziehst du dei­ne Hand von mir zu­rück, so sin­ke ich in Nichts.«

So er­hob sich sei­ne See­le, die Hän­de fle­hent­lich aus­ge­brei­tet, doch voll Ver­trau­en. Dann wur­de der zum Be­wusst­sein zu­rück­ge­kehr­te Wil­le schwan­kend, und er er­neu­er­te Akte des Glau­bens, der Hoff­nung und Lie­be, um ihn wie­der zu be­fes­ti­gen. Das Ge­fühl der All­ge­gen­wart, die ihn er­be­ben mach­te, ließ ihn tief auf­at­men, und er be­gann von Neu­em:

»Herr, bli­cke auf dein Volk her­ab! Vie­le ver­las­sen dich. Zür­ne uns nicht in Ewig­keit! Ich ver­ei­ni­ge mich mit al­len Hei­li­gen und En­geln und mit Ma­ria, der Him­mels­kö­ni­gin; bli­cke auf sie und mich und er­hö­re uns. Gie­ße aus dein Licht und dei­ne Wahr­heit. Lege uns nicht schwe­re­re Las­ten auf, als wir er­tra­gen kön­nen. Herr, warum schwei­gest du?«

In so lei­den­schaft­li­chem, er­war­tungs­vol­lem Ver­lan­gen press­te er sich nach vorn, dass er die Ge­len­ke sei­nes Kör­pers kra­chen hör­te. Aber­mals trat eine Er­schlaf­fung ein, und von Neu­em be­gann das sanf­te Spiel wort­lo­ser Akte, von de­nen er wuss­te, dass sie den Kern des Ge­be­tes bil­den. Das Auge sei­ner See­le wan­der­te hier­hin und dort­hin, von Kal­va­ria1 zum Him­mel und wie­der zu­rück, zur müh­sal­be­la­de­nen, rin­gen­den Erde. Er sah Chris­tus ster­bend in sei­ner Ver­las­sen­heit, wäh­rend die Erde beb­te und stöhn­te; Chris­tus als Pries­ter, herr­schend auf sei­nem Thro­ne, an­ge­tan mit ei­nem Ge­wän­de von Licht, Chris­tus, ge­dul­dig und in un­er­bitt­li­chem Schwei­gen un­ter den sa­kra­men­ta­len Ge­stal­ten, und zu je­dem der Rei­he nach such­te er den Blick des ewi­gen Va­ters zu len­ken …

Dann harr­te er der Ant­wort, und sie kam, so lei­se und zart, wie Schat­ten her­an­schwe­bend, so­dass die Be­mü­hung, sie zu er­fas­sen und zu er­wi­dern, sei­nem Wil­len Blutschweiß und Trä­nen ent­press­te.

Er sah den mys­ti­schen Leib in sei­nem To­des­kampf hin­ge­streckt, er sah die ein­zel­nen Seh­nen ge­zerrt und ge­krümmt, bis der Schmerz sie wie auf­lo­dern­des Feu­er zeig­te, Trop­fen um Trop­fen sah er das Le­bens­blut von sei­nem Haup­te, sei­nen Hän­den und Fü­ßen her­ab­rin­nen, und die Welt stand dar­un­ter, be­lus­tigt und spot­tend. »An­de­ren hat er ge­hol­fen, sich selbst kann er nicht hel­fen … Chris­tus, stei­ge nun her­ab vom Kreu­ze, dass wir se­hen und glau­ben.« Weit weg aber, hin­ter Bü­schen und aus Erd­höh­len blick­ten Jesu Freun­de her­vor und wein­ten; selbst Ma­ria schwieg, von sie­ben Schwer­tern durch­bohrt, und der Jün­ger, den er lieb­te, hat­te kein Wort, ihn zu trös­ten.

Auch schau­te er, wie kein Wort vom Him­mel wür­de her­ab­ge­spro­chen wer­den, selbst den En­geln war be­foh­len, das Schwert in die Schei­de zu ste­cken und der ewi­gen Ge­duld Got­tes zu har­ren, denn der To­des­kampf hat­te kaum erst be­gon­nen; tau­sen­der­lei Schre­cken stan­den noch be­vor, ehe das Ende ein­tre­ten soll­te, die Fül­le der Kreu­zi­gung … Ihm war nur be­schie­den, zu wa­chen und zu war­ten und sich da­mit zu be­gnü­gen, da­bei­zu­ste­hen und den Din­gen ih­ren Lauf zu las­sen, und die Au­fer­ste­hung soll­te für ihn nur eine Hoff­nung sein, eine Hoff­nung, von der er nur träu­men durf­te. Noch muss­te erst der Sab­bat kom­men, wäh­rend­des­sen der mys­ti­sche Leib in sei­nem dunklen Gra­be zu lie­gen hat­te, und selbst die Wür­de des Kreu­zes muss­te ent­schwin­den und die Kennt­nis, dass Je­sus ge­lebt hat­te. Die­se in­ne­re Welt, zu der er nach lan­ger Mühe den Weg ge­fun­den hat­te, war gänz­lich mit To­des­angst er­füllt, die Bit­ter­keit der Trä­nen herrsch­te dort und je­ner fah­le Glanz, den nur der äu­ßers­te Schmerz her­vor­ruft; in sei­nen Ohren gell­te es in ei­nem Ton, der sich bis zum Angst­schrei stei­ger­te, … er fühl­te sich nie­der­ge­drückt, sein In­ners­tes durch­bohrt, aus­ein­an­der­ge­ris­sen, wie auf ei­ner Fol­ter …

»Herr, ich kann es nicht er­tra­gen«, stöhn­te er.

Da wuss­te er sich wie­der an der Ober­flä­che des Le­bens, die Not sei­ner See­le äu­ßer­te sich in tie­fen Atem­zü­gen. Seins Zun­ge be­rühr­te sei­ne Lip­pen, und sei­ne ge­öff­ne­ten Au­gen fan­den sich der in Dun­kel gehüll­ten Ap­sis ge­gen­über. Die Or­gel war ver­stummt, und der Chor leer und die Lich­ter er­lo­schen. Die glü­hen­den Far­ben der un­ter­ge­hen­den Son­ne wa­ren ver­schwun­den, und mit stren­ger, kal­ter Mie­ne blick­ten die Sta­tu­en und Bil­der her­nie­der. Er ge­hör­te wie­der der Er­den­welt an; was er ge­schaut, war zer­flos­sen, kaum war er sich noch be­wusst, was er ge­se­hen hat­te.

Aber er muss­te die ein­zel­nen Frag­men­te sei­ner Erin­ne­rung zu­sam­men­stel­len und mit sei­nen Denk­kräf­ten ver­ar­bei­ten. Auch er muss­te dem Herm, der sich so­wohl sei­nen Sin­nen, als auch sei­nem Her­zen mit­ge­teilt hat­te, sei­nen Tri­but da­für be­zah­len. So stand er denn auf, steif und ge­zwun­gen, und schritt hin­über zur Ka­pel­le des hei­ligs­ten Sa­kra­men­tes.

Als er aus den Rei­hen der ihn um­ge­ben­den Stüh­le ru­hig und auf­recht her­austrat, das Bi­rett wie­der auf dem wei­ßen Haar, be­merk­te er eine alte Frau, die ihn auf­merk­sam be­ob­ach­te­te. Er zö­ger­te einen Mo­ment, un­ge­wiss, ob sie etwa zu beich­ten wünsch­te, und da sie die­ses Zö­gern ge­wahr­te, schritt sie auf ihn zu.

»Ver­zei­hen Sie, Herr«, be­gann sie.

Es schi­en also kei­ne Ka­tho­li­kin zu sein. Er lüf­te­te sein Bi­rett.

»Kann ich et­was für Sie tun?«, frag­te er.

»Ver­zei­hen Sie, Herr, aber wa­ren Sie in Brighton, bei dem Un­glück vor zwei Mo­na­ten?«

»Ge­wiss.«

»Ah, ich dach­te es mir; mei­ne Schwie­ger­toch­ter sah Sie da­mals.«

Per­cy fing an, un­ge­dul­dig zu wer­den; es är­ger­te ihn ein we­nig, so­gleich an sei­nem, zu sei­ner Ju­gend so stark kon­tras­tie­ren­den Haa­re wie­der­er­kannt zu wer­den.

»Wa­ren Sie dort, Ma­da­me?«

Zwei­felnd und neu­gie­rig blick­te sie ihn an, ihre al­ten Au­gen an sei­ner Fi­gur auf- und ab­glei­ten las­send. Dann sam­mel­te sie sich.

»Nein, Herr, es war mei­ne Schwie­ger­toch­ter, — ver­zei­hen Sie, Herr, aber —«

»Nun?«, frag­te Per­cy und gab sich Mühe, die Un­ge­duld aus sei­ner Stim­me fern­zu­hal­ten.

»Sind Sie der Erz­bi­schof, Herr?«

Der Pries­ter lä­chel­te, so­dass sei­ne wei­ßen Zäh­ne zwi­schen den Lip­pen sicht­bar wur­den.

»Nein, Ma­da­me, ich bin nur ein ein­fa­cher Pries­ter. Der Erz­bi­schof ist Dr. Chol­mon­de­ley. Mein Name ist Per­cy Fran­klin.«

Sie sag­te nichts, aber wäh­rend sie ihn noch an­blick­te, mach­te sie einen et­was alt­mo­di­schen Knicks, und Per­cy schritt der dunklen, reich ge­schmück­ten Ka­pel­le zu, um sei­ne An­dacht zu ver­rich­ten.

1 Cal­va­ria, die Schä­del­stät­te (Über­set­zung des he­bräi­schen »Gol­ga­tha«) <<<