Der Herr der Welt

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Al­les an­de­re Geräusch war in die­ser kau­tschuk­ge­pflas­ter­ten Stadt un­ter­drückt; die Zir­ku­la­ti­ons­we­ge für Fuß­gän­ger wa­ren hun­dert Yards ent­fernt, und der Un­ter­grund­ver­kehr lag zu tief, um sich an­ders als durch ein schwa­ches Vi­brie­ren fühl­bar zu ma­chen. Die­se Vi­bra­ti­on zu be­sei­ti­gen und den Lärm der ge­wöhn­li­chen Fahr­zeu­ge ab­zu­schwä­chen, das war wäh­rend der letz­ten zwan­zig Jah­re das Stre­ben der staat­li­chen Sach­ver­stän­di­gen ge­we­sen.

Und ehe er wei­ter­ging, ver­nahm er wie­der über sich einen lang ge­zo­ge­nen, auf­fal­lend wohl­klin­gen­den und durch­drin­gen­den Laut, und als er sein Auge von dem Schim­mer des ru­hig da­hin­flie­ßen­den Stro­mes, der al­lein al­len Wand­lun­gen stand­ge­hal­ten hat­te, er­hob, sah er hoch über sich in den schwe­ren, lich­ten Wol­ken einen lan­gen, schlan­ken Ge­gen­stand von sanf­tem Licht um­ge­ben gen Nor­den schwe­ben und auf aus­ge­spann­ten Schwin­gen ent­schwin­den. Die­ser wohl­tö­nen­de Klang ging von ei­nem der Luft­schif­fe der eu­ro­päi­schen Li­nie aus, das sei­ne An­kunft in der Haupt­stadt Groß­bri­tan­ni­ens an­zeig­te.

»Bis un­ser Hei­land wie­der­kehrt«, dach­te er bei sich selbst, und das Elend über­kam einen Mo­ment sein Herz. Wie schwer war es doch, den Blick auf je­nen fer­nen Ho­ri­zont ge­rich­tet zu hal­ten, wäh­rend die­se Welt vor ihm lag, so be­stri­ckend in ih­rem Glan­ze und ih­rer Kraft. O, noch vor ei­ner Stun­de hat­te er sich mit Fa­ther Fran­cis dar­über un­ter­hal­ten, dass ein Un­ter­schied be­ste­he zwi­schen äu­ße­rer und in­ne­rer Grö­ße, und dass ein im­po­nie­ren­des Äu­ße­res nicht ein un­be­deu­ten­des In­ne­res aus­schlie­ße; und er war so fest über­zeugt von die­sem sei­nem Stand­punk­te, — und den­noch blieb ein Zwei­fel, bis er ihn end­lich selbst zum Schwei­gen zwang, in­dem er in sei­nem Her­zen zu dem ar­men Man­ne von Na­za­reth em­por­fleh­te, er möge sein Herz dem Her­zen ei­nes Kin­des gleich be­wah­ren.

Sei­ne Züge nah­men den Aus­druck der Ent­schlos­sen­heit an. Wie lan­ge wohl Fa­ther Fran­cis sei­nen Stand­punkt wür­de auf­recht­er­hal­ten kön­nen, dach­te er bei sich und stieg die Trep­pe hin­ab. —

1 Stadt­teil in der In­nen­stadt Lon­d­ons <<<

2 Die eng­li­schen Ka­tho­li­ken le­gen den Welt­geist­li­chen den Ti­tel: Fa­ther (Va­ter) bei. <<<

3 an­ti­mi­li­ta­ris­ti­sche Be­we­gung, be­nannt nach ih­rem Be­grün­der Gu­sta­ve Her­vé <<<

4 kon­ser­va­ti­ve Par­tei des bri­ti­schen Par­la­ments <<<

5 Ver­zicht auf gött­li­che At­tri­bu­te bei der Men­sch­wer­dung Je­sus Chris­tus <<<

6 Meeren­ge zwi­schen der öst­lichs­ten Stel­le Asi­ens und dem west­lichs­ten Punkt des ame­ri­ka­ni­schen Fest­lands <<<

7 Grie­chisch ›sein‹ und ›nicht‹ <<<

Erstes Buch – Die Ankunft
Erstes Kapitel

1.

Oli­ver Brand, der neue Ab­ge­ord­ne­te für Croy­don, saß in sei­nem Stu­dier­zim­mer und sah über sei­ne Schreib­ma­schi­ne hin­weg aus dem Fens­ter. Sein Haus, ge­gen Nor­den ge­rich­tet, war am äu­ßers­ten Ende ei­nes Aus­läu­fers der Sur­rey­hü­gel, die jetzt in­fol­ge der Tun­nels und Durch­brü­che kaum mehr zu er­ken­nen wa­ren; nur einen Kom­mu­nis­ten konn­te die jet­zi­ge Aus­sicht noch be­geis­tern. Un­mit­tel­bar un­ter­halb der brei­ten Fens­ter fiel das um­grenz­te Ge­län­de auf etwa hun­dert Fuß hin und in eine Mau­er aus­ge­hend steil ab, wäh­rend jen­seits der­sel­ben, so­weit das Auge reich­te, die Welt — der Mensch und sei­ne Wer­ke — Tri­um­phe fei­er­te. Zwei brei­te Schie­nen­we­ge, ei­ner Renn­bahn glei­chend, je­der min­des­tens eine Vier­tel­mei­le breit und zwan­zig Fuß tiefer als das um­lie­gen­de Ge­län­de ge­legt, lie­fen nach ei­nem, eine Mei­le wei­ter ent­fern­ten Ve­rei­ni­gungs­punkt, wo sie sich kreuz­ten. Der eine der­sel­ben, der lin­ke, war die Haupt­li­nie nach Brighton, im Kurs­buch mit großen Buch­sta­ben be­zeich­net, der rech­te die Ne­ben­li­nie nach Tun­bridge und Has­tings. Jede die­ser bei­den Li­ni­en war in ih­rer Mit­te durch eine Ze­ment­mau­er ge­teilt, auf de­ren ei­ner Sei­te auf Stahl­schie­nen die elek­tri­sche Tram­bahn hin­führ­te; die an­de­re Sei­te bil­de­te den in drei Tei­le ge­teil­ten Au­to­mo­bil­fahr­weg. In dem Ers­ten fuh­ren, mit ei­ner Schnel­lig­keit von hun­dert­fünf­zig eng­li­schen Mei­len in der Stun­de, die staat­li­chen Wa­gen, im zwei­ten Pri­vat­au­to­mo­bil, de­nen nicht mehr als sech­zig Mei­len in der Stun­de ge­stat­tet wa­ren, im Drit­ten war der bil­li­ge Staats­wa­gen­ver­kehr, mit drei­ßig Mei­len, un­ter­ge­bracht, mit Sta­tio­nen nach je fünf Mei­len. Da­ran schloss sich der für Fuß­gän­ger, Rad­fah­rer und ge­wöhn­li­che Fuhr­wer­ke be­stimm­te Weg, auf wel­chem kein Fahr­zeug die Schnel­lig­keit von zwölf Mei­len in der Stun­de über­schrei­ten durf­te. Jen­seits die­ser großen Strän­ge dehn­te sich ein un­ab­seh­ba­res Meer von Dä­chern hin, aus dem hier und da nie­de­re Tür­me als Kenn­zei­chen der öf­fent­li­chen Ge­bäu­de her­vor­tra­ten, und von Ca­ter­ham zur Lin­ken bis zu dem ge­ra­de­aus lie­gen­den Croy­don er­schi­en al­les rein und klar in der rauch­frei­en Luft; fern ge­gen Wes­ten und Nor­den ho­ben sich die nie­de­ren Vor­stadt­hü­gel vom April­him­mel ab.

In An­be­tracht der zahl­rei­chen Be­völ­ke­rung hör­te man er­staun­lich we­nig Geräusch; ab­ge­se­hen von dem Krei­schen der Stahl­schie­nen bei dem je­des­ma­li­gen Vor­bei­sau­sen ei­nes Zu­ges nach dem Nor­den oder Sü­den und dem zeit­wei­li­gen an­ge­neh­men Laut der dem Kreu­zungs­punk­te zu­ei­len­den großen Mo­to­ren, konn­te man in die­sem Ar­beits­zim­mer we­nig mehr wahr­neh­men, als viel­leicht ein sanf­tes, lei­ses, dem Bie­nen­sum­men in ei­nem Gar­ten glei­chen­des Mur­meln.

Oli­ver war ein Freund jeg­li­cher Art mensch­li­cher Tä­tig­keit, von al­lem, was da­nach aus­sah oder klang, und so horch­te er jetzt auf­merk­sam und lä­chel­te, in die kla­re Luft hin­aus­star­rend, vor sich hin. Dann kehr­te die ge­wöhn­li­che Ent­schlos­sen­heit in sei­ne Züge zu­rück, sei­ne Fin­ger be­rühr­ten von Neu­em die Tas­ten und fuh­ren in der Vor­be­rei­tung der Rede fort.

Er hat­te es mit der Lage sei­nes Hau­ses sehr güns­tig ge­trof­fen. Es stand in dem Mit­tel­punkt ei­nes je­ner ko­los­sa­len Spinn­ge­we­be, die das Land be­deck­ten, und hät­te sei­nen Zwe­cken nicht bes­ser ent­spre­chen kön­nen. Es be­fand sich nahe ge­nug bei Lon­don, um au­ßer­or­dent­lich bil­lig zu sein, — denn alle wohl­ha­ben­den Leu­te hat­ten sich we­nigs­tens hun­dert Mei­len weit von dem ge­räusch­voll pul­sie­ren­den Her­zen Eng­lands nie­der­ge­las­sen — und doch hät­te er es sich nicht ru­hi­ger wün­schen kön­nen. Nach der einen Sei­te hin war er zehn Mi­nu­ten von West­mins­ter, nach der an­de­ren zwan­zig Mi­nu­ten von der See ent­fernt, und sein Wahl­kreis lag wie eine Re­lief­kar­te vor ihm aus­ge­brei­tet. Da au­ßer­dem die großen Lon­do­ner End­sta­tio­nen nur zehn Mi­nu­ten weit weg la­gen, hat­te er die Haupt­li­ni­en nach je­der grö­ße­ren Stadt Eng­lands be­quem zur Hand. Für einen nicht ge­ra­de sehr be­mit­tel­ten Po­li­ti­ker, der heu­te in Edin­bur­gh und mor­gen in Mar­seil­le spre­chen soll­te, wohn­te wohl kaum ein Mann in Eu­ro­pa so güns­tig wie er.

Er war von an­ge­neh­mem Äu­ße­ren, ein be­gin­nen­der Drei­ßi­ger, mit schwar­zem, straf­fem Haar, glat­tra­siert, ma­ger, männ­lich, sym­pa­thisch, hat­te blaue Au­gen und wei­ßen Teint. Heu­te nun schi­en er mit sich selbst und der Welt ganz be­son­ders zu­frie­den zu sein. Sei­ne Lip­pen be­weg­ten sich ab und zu wäh­rend der Ar­beit, sei­ne Au­gen wur­den bald grö­ßer, bald klei­ner vor Er­re­gung, und mehr als ein­mal hielt er inne, starr­te hin­aus, lä­chel­te und er­rö­te­te.

Eine Türe öff­ne­te sich; ein Mann mitt­le­ren Al­ters trat et­was ängst­lich mit ei­nem Stoß Pa­pie­re her­ein, leg­te die­se, ohne ein Wort zu sa­gen, auf den Tisch und wand­te sich wie­der der Türe zu. Oli­ver mach­te ihm mit der Hand ein Zei­chen, nach­dem er noch die letz­te Tas­te ge­drückt hat­te.

»Nun, Mr. Phil­lips?«, be­gann er.

»Es sind Nach­rich­ten aus dem Os­ten ein­ge­gan­gen, Sir«, er­wi­der­te der Se­kre­tär.

Oli­ver warf einen Blick nach der Sei­te und leg­te sei­ne Hand auf die Pa­pie­re.

»Ir­gend­wel­che voll­stän­di­ge Nach­richt?«, frag­te er.

»Nein, es gab wie­der eine Un­ter­bre­chung; Mr. Fel­sen­bur­ghs Name wird ge­nannt.«

Oli­ver schi­en es nicht ge­hört zu ha­ben; er nahm die dün­nen, be­druck­ten Blät­ter plötz­lich auf und fing an, sie durch­zu­se­hen.

»Der Vier­te von oben, Mr. Brand«, sag­te der Se­kre­tär.

Oli­ver mach­te eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, und wie auf ein ge­ge­be­nes Zei­chen ver­ließ der an­de­re das Zim­mer.

Der vier­te Bo­gen von oben, grün mit ro­tem Druck, schi­en Oli­vers vol­le Auf­merk­sam­keit in An­spruch zu neh­men, denn zwei- oder drei­mal las er ihn durch, wäh­rend er re­gungs­los in sei­nem Stuhl zu­rück­lehn­te. Dann seufz­te er und ließ sei­nen Blick wie­der durchs Fens­ter schwei­fen, als sich aber­mals die Türe öff­ne­te, und eine jun­ge Dame von statt­li­cher Er­schei­nung ein­trat.

»Nun, mein Lie­ber?«, be­gann sie.

Oli­ver schüt­tel­te den Kopf und biss die Lip­pen zu­sam­men.

 

»Nichts Be­stimm­tes«, sag­te er, »so­gar we­ni­ger als sonst. Höre.«

Den grü­nen Bo­gen zur Hand neh­mend, fing er an, laut zu le­sen, wäh­rend die jun­ge Dame zu sei­ner Lin­ken in ei­nem Stuhl am Fens­ter Platz nahm. Sie war ein Ge­schöpf von aus­neh­men­der An­mut, groß und schlank, mit erns­ten, see­len­vol­len, grau­en Au­gen, wohl­ge­form­ten Lip­pen und ei­ner wür­de­vol­len Hal­tung in Kopf und Schul­tern. Sie hat­te lang­sam das Zim­mer durch­schrit­ten, als Oli­ver das Pa­pier zur Hand nahm, und lehn­te sich nun in ih­rem brau­nen Klei­de zu­rück, ein Bild vollen­de­ter Vor­nehm­heit und Gra­zie. Sie schi­en mit ei­nem wohl­über­leg­ten Aus­druck der Ge­duld zu­zu­hö­ren, aber aus ih­ren Au­gen sprach ein re­ges In­ter­es­se.

»Ir­kutsk, — 14. April. — Ges­tern — wie — ge­wöhn­lich — aber — mut­maß­li­cher — Ab­fall — von Sufi — Par­tei. — Trup­pen — wei­ter — zu­sam­men­zie­hen. — Fel­sen­bur­gh — An­spra­che — Bud­dhis­ten — Men­ge. — Vo­ri­gen Frei­tag — An­schlag — auf — Lla­ma — durch — An­ar­chis­ten. — Fel­sen­bur­gh — ab­ge­reist — nach — Mos­kau — wie — ver­ab­re­det, — er — so, das ist al­les«, schloss Oli­ver är­ger­lich. »Wie ge­wöhn­lich, eine Un­ter­bre­chung.«

»Ich ver­ste­he nicht das min­des­te«, sag­te sie, »wer ist ei­gent­lich Fel­sen­bur­gh?«

»Mein lie­bes Kind, das fragt man sich all­ge­mein. Man weiß nur, dass er im letz­ten Mo­ment der ame­ri­ka­ni­schen Ab­ord­nung bei­ge­ge­ben wur­de. Der ›He­rald‹ brach­te vo­ri­ge Wo­che sei­ne Le­bens­be­schrei­bung, die aber als nicht den Tat­sa­chen ent­spre­chend be­zeich­net wur­de. So viel ist ge­wiss, dass er noch sehr jung und bis­her nie her­vor­ge­tre­ten ist.«

»Nun, jetzt ist er her­vor­ge­tre­ten.«

»Ge­wiss, es scheint, als wäre er der Ma­cher der gan­zen Sa­che. Von den an­de­ren hört man nie ein Wort. Es ist ein Glück, dass er auf der rich­ti­gen Sei­te steht.«

»Und was ist dei­ne Mei­nung?«

Oli­ver blick­te wie­der nach­denk­lich durch das Fens­ter. »Ich glau­be, es ist ein Ver­steck­spiel«, sag­te er. »Das ein­zi­ge Ei­gen­tüm­li­che an der Sa­che ist nur, dass kaum je­mand sie sich wirk­lich vor­zu­stel­len scheint. Sie über­steigt al­lem Ver­mu­ten nach jede Ein­bil­dungs­kraft. Da­ran ist nicht zu zwei­feln, dass der Os­ten wäh­rend der letz­ten fünf Jah­re sich zu ei­nem Ein­fall in Eu­ro­pa ge­rüs­tet hat. Nur durch Ame­ri­ka wur­de er da­von zu­rück­ge­hal­ten; es ist ein letz­ter Ver­such, ihn we­nigs­tens zu hem­men. Wa­rum aber Fel­sen­bur­gh sich vor­drängt —« brach er ab. »Je­den­falls muss er ein gu­ter Lin­guist sein. Dies ist we­nigs­tens das fünf­te Mal, dass er zu ei­ner Men­ge spricht. Vi­el­leicht ist er nur der ame­ri­ka­ni­sche Dol­met­scher. Gott! Ich möch­te wis­sen, wer er ist.«

»Hat er noch einen an­de­ren Na­men?«

»Ju­li­an, glau­be ich, eine De­pe­sche sag­te es.«

»Wie ge­lang­te die­se her?«

Oli­ver schüt­tel­te den Kopf.

»Pri­vat­un­ter­neh­men«, sag­te er. »Die eu­ro­päi­schen Agen­tu­ren ha­ben die Ar­beit ein­ge­stellt. Je­des Te­le­gra­fen­amt wird Tag und Nacht be­wacht. Scha­ren von Flug­schif­fen kreu­zen an je­der Gren­ze. Das Reich hat of­fen­bar die Ab­sicht, die An­ge­le­gen­heit ohne uns zu ord­nen.«

»Und wenn es schlimm geht?«

»Mei­ne lie­be Ma­bel, — wenn die Höl­le los­bricht —« er mach­te eine ab­weh­ren­de Be­we­gung.

»Und was tut die Re­gie­rung?«

»Man ar­bei­tet Tag und Nacht; eben­so das üb­ri­ge Eu­ro­pa; es wäre fürch­ter­lich, wenn es zum Krie­ge käme.«

»Und stehst du kei­nen Aus­weg?«

»Ich sehe zwei Wege«, ant­wor­te­te Oli­ver lang­sam. »Ent­we­der sie fürch­ten sich vor Ame­ri­ka und über­le­gen es sich, das Feu­er zu schü­ren, oder Sie wer­den durch die Nächs­ten­lie­be dazu ge­bracht, ihre Hand zu­rück­zu­hal­ten; wenn man sie nur dazu brin­gen könn­te, zu be­grei­fen, dass im Zu­sam­men­ar­bei­ten die ein­zi­ge Hoff­nung für die Welt liegt. Aber ihre ver­damm­ten Re­li­gio­nen —«

Die jun­ge Frau seufz­te und sah hin­aus über das wei­te Dä­cher­meer zu ih­ren Fü­ßen.

Die Lage war in der Tat so ernst, als sie nur sein konn­te. Je­nes ge­wal­ti­ge Reich, be­ste­hend aus ei­nem Staa­ten­bund un­ter der Lei­tung des Soh­nes des Him­mels — es war durch Ver­schmel­zung der ja­pa­ni­schen mit der chi­ne­si­schen Dy­nas­tie und den Fall Russ­lands ent­stan­den —, hat­te sei­ne Kräf­te ge­fes­tigt und war sich sei­ner ei­ge­nen Macht wäh­rend der letz­ten fünf­und­drei­ßig Jah­re be­wusst ge­wor­den, seit­dem in der Tat es sei­ne dür­re gel­be Hand auf Aus­tra­li­en und In­di­en ge­legt hat­te. Wäh­rend die üb­ri­ge Welt die Un­ver­nunft des Krieg­füh­rens ken­nen ge­lernt, hat­te jene, nach­dem die rus­si­sche Re­pu­blik dem ver­ein­ten An­griff der gel­ben Ras­se un­ter­le­gen war, an sich ge­ris­sen, was ihr er­reich­bar war. Es schi­en jetzt, als ob die Zi­vi­li­sa­ti­on des ab­ge­lau­fe­nen Jahr­hun­derts noch­mals in das Cha­os zu­rück­ge­schwemmt wer­den soll­te, aus dem sie ent­stan­den. Nicht, als ob man sich Sor­ge mach­te we­gen der gel­ben Ras­se. Es wa­ren de­ren Herr­scher, wel­che, nach ei­ner na­he­zu ewig dau­ern­den Lethar­gie be­gon­nen hat­ten, sich zu re­gen, und es war schwer, ein­zu­se­hen, wo­durch die­se nun­mehr wie­der hät­ten zur Ruhe ge­bracht wer­den kön­nen. Es lag au­ßer­dem et­was Grim­mer­re­gen­des in dem Gerücht, dass re­li­gi­öser Fa­na­tis­mus die Trieb­fe­der der Be­we­gung sei, und dass der so lan­ge ge­dul­di­ge Os­ten sich end­lich dar­an ma­che, durch die mo­der­nen Aus­gleichs­mit­tel von Feu­er und Schwert die­je­ni­gen zu be­keh­ren, die zum größ­ten Tei­le je­den re­li­gi­ösen Glau­ben, au­ßer den an die Mensch­heit, ab­ge­legt hat­ten.

Für Oli­ver war die Sa­che ein­fach zum Ver­stan­des­ver­lie­ren. Wenn er aus sei­nem Fens­ter her­nie­der­blick­te und, so­weit der Ho­ri­zont reich­te, die­ses Lon­don so fried­lich vor sich lie­gen sah, wenn sei­ne Ge­dan­ken über Eu­ro­pa hin­flo­gen und über­all dem voll­kom­me­nen Tri­umph des Men­schen­ver­stan­des und sei­ner Wer­ke über die un­ge­nieß­ba­ren Am­men­mär­chen des Chris­ten­tums be­geg­ne­ten, da schi­en es ihm un­er­träg­lich, dass es auch nur eine Mög­lich­keit ge­ben soll­te, all das wie­der zu­rück­zu­wer­fen in das un­mo­der­ne, ja bar­ba­ri­sche Ge­strei­te der Sek­ten und Dog­men, denn nichts an­de­res als die­ses wür­de die Fol­ge sein, wenn der Os­ten sei­ne Hand auch noch auf Eu­ro­pa leg­te. Ja, selbst der Ka­tho­li­zis­mus wür­de wie­der auf­le­ben, sag­te er sich, die­ser ei­gen­tüm­li­che Glau­be, der stets neu auf­ge­flammt war, so oft die Ver­fol­gung zum ver­nich­ten­den Schla­ge ge­gen ihn aus­ge­holt hat­te; und nach Oli­vers Da­für­hal­ten war von al­len Glau­bens­for­men der Ka­tho­li­zis­mus die gro­tes­kes­te und er­nied­ri­gends­te. Die­se Aus­sicht be­un­ru­hig­te ihn in sei­nem In­ners­ten weit mehr als der Ge­dan­ke an die phy­si­sche Ka­ta­stro­phe und das Blut­ver­gie­ßen, das über Eu­ro­pa her­ein­bre­chen muss­te mit dem Her­auf­zie­hen des Os­tens. Es gab nur eine Hoff­nung, von re­li­gi­öser Sei­te her, wie er Ma­bel dut­zend­mal aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te, und sie be­stand dar­in, dass es dem quie­tis­ti­schen Pan­the­is­mus, der im Ver­lau­fe des letz­ten Jahr­hun­derts im Os­ten wie im Wes­ten, un­ter Mo­ham­me­da­nern, Bud­dhis­ten, Hin­dus, un­ter den An­hän­gern des Kon­fu­zi­us und an­de­rer Re­li­gio­nen sol­che Rie­sen­fort­schrit­te ge­macht hat­te, ge­lin­gen wür­de, den re­li­gi­ösen Wahn­sinn, von dem die­se exo­te­ri­schen Brü­der des Os­tens be­fal­len wa­ren, zu be­sie­gen. Pan­the­is­mus war nach Oli­vers Be­grif­fen das, was er selbst war; ihm war »Gott« die Sum­me des in ste­ter Wei­ter­ent­wick­lung be­grif­fe­nen, ge­schaf­fe­nen Le­bens, und un­per­sön­li­che Ein­heit war das We­sen des Seins die­ses »Got­tes«. Ehr­geiz war ihm die große Hä­re­sie, wel­che die Men­schen im Ge­gen­satz zu­ein­an­der brach­te und den Fort­schritt hin­der­te, denn nach sei­ner Mei­nung lag der Fort­schritt in dem voll­kom­me­nen Auf­ge­hen des Ein­zel­nen in der Fa­mi­lie, der Fa­mi­lie im Ge­mein­we­sen, im Staa­te, des Staa­tes im Kon­ti­nent, und des Kon­tin­ents in der Welt. Die Welt end­lich war selbst und zu je­der Zeit nicht mehr als der Aus­druck un­per­sön­li­chen Le­bens. Es war in der Tat der ka­tho­li­sche Ge­dan­ke un­ter Bei­sei­te­las­sung des über­na­tür­li­chen, eine Zu­sam­men­fas­sung ir­di­scher Schick­sa­le, ein Auf­ge­ben des In­di­vi­dua­lis­mus auf der einen Sei­te und des über­na­tür­li­chen auf der än­dern. Es war ein Ver­rat, ein Ap­pell von dem im­ma­nen­ten an den tran­szen­den­ten Gott. Es gab kei­nen tran­szen­den­ten Gott, Gott war, so­weit er er­kannt wer­den konn­te — der Mensch.

Und doch wa­ren die­se bei­den Ehe­gat­ten in ge­wis­sem Sin­ne — sie hat­ten den nun­mehr vom Staa­te aus­drück­lich als lös­bar an­er­kann­ten Ver­trag ein­ge­gan­gen — sehr weit ent­fernt von der dump­fen Träg­heit, die man bei rei­nen Ma­te­ria­lis­ten zu fin­den pflegt. Für sie pul­sier­te in der Welt ein ein­zi­ges hei­ßes, glü­hen­des Le­ben, das, je nach­dem, zu Blu­men und Tie­ren und Men­schen er­blüht, ein Strom herr­li­cher Le­bens­kraft, der, ei­ner tie­fen Quel­le ent­sprin­gend, al­les be­wäs­sert, was Be­we­gung und Ge­fühl in sich trägt. Die­se Wel­t­an­schau­ung war umso be­ste­chen­der, fand umso mehr An­klang, als sie den Sin­nen de­rer ver­ständ­lich war, die aus ihr ge­bo­ren wa­ren. Wohl hat­te auch sie Ge­heim­nis­se auf­zu­wei­sen, aber es wa­ren Ge­heim­nis­se, die eher an­lock­ten als ab­schreck­ten, denn aus ih­nen för­der­te jede neue Ent­de­ckung, die der Mensch ma­chen konn­te, stets neue Herr­lich­kei­ten zu­ta­ge. Selbst un­be­seel­te, leb­lo­se Ob­jek­te, wie die Fos­si­li­en, der elek­tri­sche Strom, die fer­nen Ster­ne, all dies wur­de vom Welt­geis­te als Staub ein­fach bei­sei­te ge­wor­fen, al­les, was für Got­tes All­ge­gen­wart zeug­te und sei­ne Na­tur ver­kün­de­te. Wie gründ­lich hat­te z. B. nur die von dem Astro­no­men Klein vor zwan­zig Jah­ren ge­mach­te An­kün­di­gung, dass das Be­wohnt­sein ge­wis­ser Pla­ne­ten eine fest­ste­hen­de Tat­sa­che ge­wor­den sei, die Mei­nung der Mensch­heit von sich selbst ge­än­dert! Aber die ein­zi­ge Be­din­gung des Fort­schrit­tes und des Wie­der­auf­bau­es von Je­ru­sa­lem war für den Pla­ne­ten, den der Zu­fall zur Wohn­stät­te der Mensch­heit be­stimmt hat­te, nicht das Schwert, das Chris­tus ge­bracht oder das Mo­ham­med schwang, son­dern der Frie­de, der ein Pro­dukt der Ver­nunft, de­ren Gren­zen er nicht über­stieg, der Frie­de, der aus dem Be­wusst­sein her­vor­ging, dass der Mensch al­les sei und nur durch ge­gen­sei­ti­ges Ver­tra­gen und Ent­ge­gen­kom­men im­stan­de sei, sich wei­ter zu ent­wi­ckeln. Für Oli­ver und sein Weib er­schi­en das ab­ge­lau­fe­ne Jahr­hun­dert wie eine Of­fen­ba­rung; im­mer mehr wa­ren die al­ten, aber­gläu­bi­schen Vor­stel­lun­gen ab­ge­brö­ckelt, im­mer wei­ter war das neue Licht ge­drun­gen; der Geist der Welt war auf­ge­gan­gen, die Son­ne war im Wes­ten ver­sun­ken und nun — mit Schre­cken und Ab­scheu muss­ten sie von Neu­em die Wol­ken sich zu­sam­men­zie­hen se­hen, dort, von wo al­ler Aber­glau­be aus­ge­gan­gen war.

Ma­bel stand plötz­lich auf und kam zu ih­rem Man­ne her­über.

»Mein Lie­ber«, sag­te sie, »du musst nicht ver­zagt sein; es wird auch das vor­über­ge­hen, wie al­les an­de­re vor­über­ge­gan­gen ist. Es ist schon sehr viel ge­won­nen, dass sie auf Ame­ri­ka über­haupt hö­ren, und die­ser Mr. Fel­sen­bur­gh scheint mir auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen.«

Oli­ver er­griff ihre Hand und küss­te sie.