Mauerblume

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Die Lust auf ein Angestelltenverhältnis war mir wieder einmal vergangen. Ich zog mich zurück und jobbte im Glühlampenwerk. Wenn keine besonderen finanziellen Ausgaben wie Urlaub oder Wintermantel anstanden, reichten zwei Nachtschichten in der Woche. Das Leben in der DDR war billig, wenn man von allen bürgerlichen Differenzierungen des Geschmacks absah. Und die bürgerlichen Standards, die an Essen, Trinken, Wohnen und an Kleidung und geknüpft waren, hatte ich ohnehin längst als Krimskrams verworfen. Essen hatte ich zur Nahrungsaufnahme degradiert, wobei ich mich an die sogenannten Grundnahrungsmittel hielt, wie sie von den DDR-Behörden so treffend benannt wurden. Diese Grundnahrungsmittel gab es beinahe gratis, das Wohnen auch. Die Mieten hatten eher einen Symbolwert. Eine Neubauwohnung mit Bad, Warmwasser und Zentralheizung war von Familien mit Kindern sehr begehrt. Daß diese Wohnungen im Lego-Baukasten-System des Plattenbaus gebaut waren, wurde seiner Eintönigkeit wegen, wenn überhaupt, nur von Intellektuellen bemäkelt.

Dieses Erlebnis, daß Essen, Trinken und Wohnen nahezu gratis sein können, wenn man von allem anderen absieht, gehört zu meinen wichtigsten Erlebnissen in der DDR. Im einfachen Wortsinn konnte in der DDR niemand verhungern, nicht einmal aus Protest. Man konnte schlecht essen und wohnen, aber wenn jemand auf der Parkbank schlafen wollte oder gar auf irgend einem Bahnhof, wurde er von der Polizei aufgegriffen und kam unter das polizeiliche Obdach.

Doch daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, war nicht erst seit Brecht bekannt. Einen Teil dessen, was der Mensch außer einem Obdach noch brauchen könnte, schwirrte an den DDR-Bürgern allabendlich auf der Mattscheibe in der Reklamezeit des Westfernsehens vorbei. Zunächst in schwarz-weiß, später in Farbe. Ich erzog mich in dieser Zeit zur Bedürfnislosigkeit gegenüber den alltäglichen Dingen. Dafür konsumierte ich, wie viele Intellektuelle im “Leseland DDR”, Bücher.

Ich wog mein spartanisches Leben auf mit dem Konsum philosophischer Literatur. Gierig verschlang ich ein Buch nach dem anderen: Heidegger, Nietzsche und Sartre. Alex’ Schwester hatte gerade diese Philosophie vor dem Mauerbau kontinuierlich gekauft. Zunächst aber las ich wie gebannt Heideggers “Holzwege” und war begeistert von jedem neuen Satz, den ich mir eroberte. Ich verstand nicht viel von dem, was ich las. Aber ich war getroffen von dem Rhythmus der Heideggerschen Sprache. Und mit jedem Satz traf er mich erneut, versetzte mir einen Schlag und schürte die Angst. Ja, die Panik war es, die sich angestaut hatte, und die Verzweiflung, die keinen anderen Weg aus mir fand als den der Selbstzerstörung. Für eben diese Existenzpanik gab es bei Heidegger bereits einen sprachlichen Ausdruck. Meine verrückte Angst hatte also einen Ort auch außerhalb von mir. Sie war kommunizierbar. Insofern beruhigten mich Heideggers Sätze auch, selbst wenn sie mich immer tiefer in die Verzweiflung trieben. Auszudrücken, was geschehen war und die eigene Leere durch Sprache zu überbrücken war die Absicht, die ich so erst wieder auszudrücken vermochte, als ich Sprache schon wieder gefunden hatte.

Alex mochte meine Nachdenklichkeit, zu der er keinen Zugang hatte. Sie brachten mich in die Nähe seiner älteren Schwester, die er über alles liebte. Alex fühlte sich auf eine unheimliche Weise von metaphysischen Fragen angezogen, hatte aber, bis er mich kennenlernte, eine Distanz zu ihnen halten können, auch weil seine Schwester gegenüber dem jüngeren Bruder Distanz wahrte, wozu ich in gar keiner Weise fähig war.

Neben Heidegger las ich Hölderlins “Hyperion”. Ich las ihn täglich, wie eine Bibel. Die Trauer um unwiederbringlich Verlorenes, die aus jeder Seite seines Romans sprach, brachte mir die Gewißheit, daß ich mit einem Verlust nicht allein war. Eher zufällig griff ich in dieser Zeit auch zu einer Taschenbuchausgabe von Hegels “Phänomenologie des Geistes”, die ich bei Alex’ Schwester fand. Es war das erste Buch, das ich von Hegel las. Der Rhythmus, in dem Hegel schrieb, war mir vertraut, die Satzmelodie bekannt. Sie erinnerte mich an Bach, genauer an die Struktur der Bachschen Fuge, an die Schrittfolge der Verknüpfung von Ton und Ton und daran, daß die Auslassung eines einzigen Schritts die ganze Komposition zum Einsturz zu bringen vermochte. Ja, an die “Kunst der Fuge” wurde ich beim Lesen der Hegelschen Sätze erinnert. Endlich widerschien da etwas aus meiner zerbrochenen musikalischen Existenz, das mir vertraut war, ein Rhythmus, ein Klang, an denen ich festhalten wollte, unbedingt. Ich war übervoll von Erlebtem und konnte die Erfahrung des Lebensbruchs dazugeben, mußte sie dazugeben, denn irgendwie mußte ich, um weiterzuleben, mit dem fertigwerden, was ich erlebt hatte. Läßt sich der Bruch berechnen, entsteht die Chance, nie wieder durch alle Raster ins Bodenlose zu fallen. Wenn es Regeln für Kontinuität gab, gab es auch Regeln, die ihren Abbruch berechenbar machten.

Ich hatte also endlich eine Frequenz gefunden, in der Kommunikation versucht werden konnte, Verständigung, die meine Sprachlosigkeit vielleicht aufzuheben vermochte. Weit ab von der wirklichen Welt, in der ich umherlief, hörte ich eine Wellenlänge, die für mich kommunizierbar schien. Den Heideggerschen Satzrhythmus setzte ich gegen den Hegels. Daß bei Hegel der Bruch nicht Abbruch war wie bei Heidegger, ließ mich immer wieder aufhorchen. Das war eine Art Trance, in die mich diese Sätze versetzen konnten. Entrückt vom Alltag, ging ich in meine Nachtschichten zum Glühlampenwerk und packte die Glühbirnen in ihre blauen Pappschachteln und war mit Sein und Nichts beschäftigt.

Ich hatte ein mir verträgliches Maß zwischen Bandarbeit und Existenzphilosophie gefunden und war einigermaßen im Lot mit mir, da trat Alex’ Schwester auf mich zu. Sie meinte, ich hätte nun wohl genügend Kraft geschöpft, um es doch noch darauf ankommen zu lassen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Sie habe sich in der Medizinischen Fachschule des Krankenhauses erkundigt, in dem sie als Medizinische Assistentin arbeitete. In jenem Jahr waren noch Studienplätze für den Beruf als Diätassistentin frei. Ich sollte mich doch bewerben. Da Alex ihre Meinung teilte, schaute ich mir an, um was es ging. In einer Lehrküche der medizinischen Schule wurde mir der Beruf praktisch vorgeführt: In unzählig kleinen Töpfen wurde Essen für Leberkranke, Gallendiäten, Brei für Magenkranke und Schonkost für Nierenpatienten angerührt. Schülerinnen mit weißen Haarnetzen versuchten ihre Suppen.

Die Idee, ab September auch vor solchen Töpfchen zu stehen und salzarme Diäten zu rühren, mobilisierte meine tatsächlich wiedergekehrten Lebenskräfte. Energisch kümmerte ich mich um einen Studienplatz im Fach Philosophie. Alex war nicht begeistert. Er wollte, daß ich einen ordentlichen Beruf erlernte. Ordentlich war für ihn, was seine Schwester tat, wenn ich nicht wie er ein Ingenieurstudium auf mich nehmen wollte. Meine Neigung zur Mathematik hatte er längst herausgefunden.

Ich blieb bei der Philosophie. Alex’ Schwester verstand mich und half. Sie kannte jemanden in Leipzig, der jemanden in Leipzig kannte, und der wieder kannte den Dekan der Philosophischen Fakultät. Eben diesem Dekan erzählte ich von dem traurigen Niedergang meiner musikalischen Existenz. Da er selbst musisch interessiert war und eine Schwester hatte, die ganz und gar in Musik aufging, wie er sagte, hatte er einiges Verständnis für musikalische Talente. Wir saßen lange in einer Speisegaststätte zusammen, wie Restaurants in der DDR hießen. Geduldig hörte er sich an, was ich zu sagen hatte über Sprache und Musik. Bei Sauerbraten mit Thüringer Klößen und Rotkohl erzählte ich ausführlich über den Zusammenhang des Bachschen Kontrapunktes mit der Hegelschen Satzmelodie und versuchte, ihn zu überzeugen, daß da strukturelle Gemeinsamkeiten bestünden, die ich spürte, aber unfähig war, sprachlich zu formulieren, was sich natürlich ändern würde, sobald ich Philosophie studierte. Ein Zusammenhang bestünde, ich hörte ihn ganz deutlich. Er könne mir schon glauben. Und was Bach betraf, glaubte er mir auch. Was er nicht glauben konnte, wie er mir später gestand, war, daß ich nicht wußte, was Philosophie in einem sozialistischen Land war.

Aber erst einmal versprach er, sich zu kümmern. Er wußte von den Schwierigkeiten der Immatrikulation für Studenten, die wie ich gestrauchelt waren, gab er mir zu verstehen. Ich solle inzwischen aber zumindest in ein Lehrbuch für marxistisch-leninistische Philosophie hineinsehen. Meinen Immatrikulationsbescheid bekam ich später von ihm persönlich zugeschickt und ging nach Leipzig.

Den an einzelne Personen gebundenen politischen Machtbefugnissen und der Möglichkeit ihrer willkürlichen Handhabe verdanke ich es, daß ich als Quereinsteigerin irgendwann immer da landete, wo ich landen wollte. Irgendeine der zuständigen Autoritäten hatte sich letztlich für mich persönlich eingesetzt und politische Verantwortung für mein Tun übernommen. Innerhalb der politischen Führungsschicht gab es immer wieder Menschen, die sich für mich einsetzten und auch ein Risiko übernommen haben, da sie damit rechnen mußten, daß ich mich politisch nicht korrekt verhielt, schon weil ich nicht wußte, was in der DDR politisch korrekt war. Damals begriff ich die Zivilcourage dieser Führungskader als menschliche Handlungen von Edelkommunisten. Daß ich politisch auch entmündigt war, begriff ich erst viel später.

In der Einführungsvorlesung für marxistisch-leninistische Philosophie erfuhr ich von einem blond und blauäugigen Professor mit Specknacken, daß hier niemand abginge, der nicht Mitglied der SED geworden sei und nicht verantwortungsvoll gegenüber dem Arbeiter-und-Bauern-Staat handeln würde. Ich hatte alle Mühe, keine Panikattacke zu bekommen.

Er sprach von der Arbeiterklasse, der zu dienen meine oberste Pflicht als Philosoph sei. Ich schluckte heftig, denn aus der Arbeiterklasse hatte sich gerade mein Vater bei der Universität gemeldet. Er hatte von meiner Mutter gehört, daß ich zum Studium nach Leipzig gegangen war. Bei der Universitätsleitung hatte er vorgesprochen. Er wollte klarstellen, daß ich erstens nicht normal sei, das könne bei den Psychiatern in Berlin nachgefragt werden, und daß ich zweitens politisch-moralisch eine Null sei. Dem Dekan erklärte er, er sähe überhaupt nicht ein, warum er für mich ein Stipendium zahle sollte. Er denke nicht im Traum daran. Er habe schließlich auch nicht studieren können. Mir erklärte der Dekan, daß meine Eltern zahlen müßten, ich könnte sie verklagen. Eltern, die über eine bestimmte Grenze hinaus Geld verdienten, müßten für das Stipendium ihrer Kinder aufkommen. Schließlich gäbe es Gesetze. Die Universität würde hinter mir stehen. Im Prorektorat für Studienangelegenheiten könnte ich die Einzelheiten erfahren.

 

Mir fehlte es an Kraft und Mut zu solch einem Gerichtsverfahren. Ich entschied, meine Nachtschichten in Leipzig weiterzuführen. Wenn auch nicht im Großbetrieb, sondern in der Nachtbar eines Interhotels, in der ich als Bardame vorsprach. Meine Kenntnisse von Wein, Weinbränden, einschließlich des Wissens, welches Glas für welches Getränk zu benutzen war, überzeugte das Barpersonal in einer Probeschicht. Daß ich bei meiner Großmutter für Abendgesellschaften mit dem Hauspersonal oft den Tisch decken mußte, kam mir also hier zugute. Da es ein Interhotel war, waren die meisten Getränke Import, das heißt aus dem Westen. Bei den Weinen hatte ich zu lernen, daß es ungarische, bulgarische und rumänische gab.

Da hatte ich also wieder mein Kontrastprogramm. Am Tage hörte ich Vorlesungen über die Vorzüge des dialektischen Materialismus und darüber, daß der Sozialismus siegen würde. Nachts mixte ich Cocktails und kokettierte mit den feindlichen Devisenbringern im Hotel Deutschland. Ich lernte meine Schweigsamkeit funktional einzusetzen. Ich sagte nichts, wenn ich aus meiner Buntlicht-Bar übernächtigt in die Vorlesung für Sozialismustheorie ging und hörte, daß es im Sozialismus keine entfremdete Arbeit gäbe. Ich hatte zum ersten Mal seit dem Niedergang meines musikalischen Talents wieder ein Ziel. Ich wollte wissen, was der Sinn des Lebens und der Welt war.

Damals faßte ich den Entschluß, nie Kinder zu gebären. Ich wollte zu jeder Zeit meine Zeit abbrechen können. Für den Fall, daß es nicht weiterging, wollte ich aus dem Leben gehen können, ohne daß ich Verantwortung zurückgelassen hatte, der ich hätte nachkommen müssen. Von meiner Familie hatte ich mich getrennt. Dabei wollte ich es belassen.

Die Familie, auf die ich zuging, war groß und unbestimmt, die Verantwortung praktisch folgenlos. Die Philosophen des Abendlandes, zu ihnen war ich auf dem Weg.

In Leipzig gab es einen exzellenten Gastprofessor aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, der Logik las. Die faszinierte mich: Dem Erlebten einen Wert zusprechen. Das bedeutete ein Maß für Erleben und Erlebtes zu finden. Ich vertiefte mich bis über den Kopf zunächst in Aussagenlogik, später dann in Widerspruchslogik. Bald hieß das Zauberwort dialektische Logik, das mich durch den Tag brachte. Die Dialektik ist die Logik der Widersprüche. Das war großartig. “Wahr” und “falsch” in einem Wert nehmen. Den Bruch zum Prinzip erheben. Was für ein Maß! Die Widersprüche benennen und sie in eine Logik bringen können. Ihnen eine Reihenfolge aufzwingen, damit sie beherrschbar werden.

Endlich hatte ich also einen zeitlosen Raum gefunden, in dem ich mich niederlassen und den ich sichermachen konnte gegen jene Wirklichkeit, in der ich mich nicht zurechtgefunden hatte. Ich war bereit, den Weg in die rationale Philosophie zu gehen. Ich war dabei, einen Faden aufzunehmen, einen, der lief, unbedingt.

Ich war fasziniert von der Methode, die mir emotional so sehr entgegenkam. Sie wurde die dialektische genannt: “Alles ist, alles ist nicht. Alles ist, in dem es nicht ist. Sein und Nichts wird zu Etwas. Was ich setzte, hebe ich, indem ich es setze, wieder auf.” Was für eine Dynamik, was für ein Klang! Das waren auch Tanzschritte: was ich in einem Schritt setze, hebe ich im nächsten Schritt wieder auf und komme trotzdem weiter. Es könnte also auch alles anders sein, als ich bisher annahm. Die Antworten, die ich bisher hatte, könnten auch Fragen sein. Wenn dem so ist, stimmte vielleicht selbst die Angst und ihre Größe nicht. Nach solcher Unschärferelation hatte ich gesucht. Sie war weit genug, damit mein Erleben einen Platz in ihr fand.

Den “Rest des Studiums” verschob ich auf äußere Bahnen. Das heißt, ich versuchte seine ganze Widrigkeit inhaltlich nicht an mich herankommen zu lassen. Zunächst gelang mir das nicht. Über den ersten Versuch einer Teilung meiner Person in eine wesentliche und eine un-wesentliche wurde ich krank. Bald konnte ich nicht mehr in meiner Buntlicht-Bar arbeiten. Die Kommilitonen des Studienjahres sammelten Geld, damit ich über die Runden kam. Das war gut gemeint, aber unerträglich für mich. Ich schmiß das Studium und ging nach Berlin zurück.

Alex in seiner nüchternen Art gab seinen Kommentar: Das habe ich dir ja gleich gesagt, Philosophie zu studieren ist ein absoluter Quatsch und macht krank. Ich diskutierte nicht. Ich war froh, wenn mir Alex eine warme Suppe brachte. Es dauerte, bis ich mich von mir erholt hatte und als Schulsekretärin in einer Grundschule vorsprach. Die Arbeit selbst war nicht besonders schwierig, aber man mußte sich auf sie konzentrieren. Das schaffte ich nicht. Ich war zu sehr mit Sein und Nichts beschäftigt, das unter bestimmten Bedingungen dasselbe sein konnte. Ich machte bei der Arbeit unverzeihliche Fehler. Nachdem ich irgendwelche Einladungen für den Elternbeirat zum Milchhof und die Rechnungen für die Schulmilch zu den Eltern geschickt hatte, gab es einen ziemlichen Krach mit dem Direktor. Er wollte mich als Sachbearbeiterin in den Rat des Stadtbezirks befördern lassen. Da könnte ich weniger Unheil anrichten. In seiner Schule könne er mich nicht länger ertragen. Ich kündigte und ging wieder ins Glühlampenwerk zur Nachtschicht. Bei dieser Arbeit konnte ich zumindest meinen Kopf frei halten.

Aber es lag auf der Hand, beim Sortieren der Glühlampen und ihrem Verpacken am Fließband kam ich nicht weiter mit meiner Frage nach Sein und Nichts und ihrem Klang. Bald drehten sich die Wörter im Kreis und nahmen zeitweilig den Takt des Laufbandes an, auf dem die Glühlampen mir entgegenkamen.

Ich verstand, ich mußte noch einmal von vorne beginnen. Nach einigem Zögern beschäftigte ich mich daher endlich mit den politischen Prämissen eines Philosophiestudiums in der DDR, um diesmal klüger und effizienter mit meiner Kraft umzugehen.

Ich ging zur Humboldt-Universität, ließ meine Immatrikulation von Leipzig nach Berlin umschreiben und begann 1966 noch einmal im ersten Studienjahr. Zuvor hatte ich allerdings das Problem des Stipendiums zu regeln. Mit den Eltern zu verhandeln war aussichtslos. Die Lösung fand ich in den Verordnungen für den Erhalt eines Stipendiums selbst. Da stand nämlich, als Verheiratete bekomme ich unabhängig vom Einkommen der Eltern ein Stipendium. Ich heiratete daraufhin meinen homosexuellen Freund Dieter. Ihm war der Status ”Verheiratet” auch willkommen, da Schwulsein in der DDR zu dieser Zeit noch verboten war und nicht nur politisch verfolgt wurde. Für zehn Mark Schreibgebühren schlossen Dieter und ich also die Ehe. Wir bestanden auf einem Doppelnamen. Nach diesem formellen Akt unterschrieben wir beide ein persönliches Schriftstück, in dem wir uns verpflichteten, nach einem Jahr die Scheidung einzureichen. Grund: “Sexuelle Unverträglichkeit”. Das taten wir auch, ohne dem hohen Gericht mit Einzelheiten aufzuwarten. Die Scheidung kostete 200 Mark. Der Status: “Geschieden” garantierte mir weiterhin ein Grundstipendium von 185 Mark im Monat. Das war nicht viel, reichte aber zum Überleben.

Danach heirateten Alex und ich, obwohl Alex nach wie vor mit meinem Philosophiestudium nicht einverstanden war.

4

Das Studienjahr in Berlin begann mit der Einberufung zur vormilitärischen Ausbildung, die in der Mark Brandenburg stattfand. Zynischerweise wurde sie Zivilverteidigung genannt. Da aus meinen Studienunterlagen hervorging, daß ich als Hilfsschwester gearbeitet hatte, wurde ich ohne irgendwelche Rückfragen als Sanitäterin eingesetzt. In grauer Uniform und mit einer Rot-Kreuz-Binde am Arm marschierte ich im Gleichschritt auf märkischem Sand. Links, zwei, drei, vier, links, zwo, drei... Ich war ziemlich entsetzt, doch es machte überhaupt keinen Sinn, öffentlich zu protestieren. Ich wäre auf der Stelle exmatrikuliert worden. Ich beschloß, mich auf mein Wissen als Hilfsschwester zu konzentrieren, und zog meine persönliche Notbremse. Ich simulierte Ohnmachtsanfälle und kam auf die Krankenstation. Da ich Zeit meines Lebens zu niedrigen Blutdruck hatte und jeder Arzt nach der Messung erschrak, war eine medizinisch plausible Erklärung bald gefunden, außerhalb aller politischen Koordinaten. Nach dem dritten Ohnmachtsanfall im vormilitärischen Lager wurde ich für die Zivilverteidigung als untauglich befunden, an meinen Hausarzt überwiesen und im Krankenwagen nach Berlin zurückgefahren.

Alex war sehr erschrocken. Zwei Rot-Kreuz-Helfer hatten mich bis zur Wohnung gebracht. Als sie fort waren, klatschte ich in die Hände und begann vor Freude zu singen: Wehruntauglich, wehruntauglich, verstehst du? Alex stand blaß und sprachlos im Flur. Er verstand nicht.

Das war also geblieben von meinem Leben mit dem Klavier: die Fähigkeit zum abrupten Wechsel, den ich zu erlernen hatte, um innerhalb eines Konzerts von einem Klavierstück zum anderen zu kommen. Mich von einer Minute zur nächsten auf ein neues Stück zu konzentrieren, um es dann mit höchster Intensität spielen zu können. Alex verunsicherten diese plötzlichen Umschwünge, wie er sie nannte, zutiefst. Ich verstand damals nicht, warum er sie fürchtete und nicht als Leistung anzuerkennen vermochte. Sein Unverständnis entschuldigte ich naiv mit mangelndem künstlerischem Sinn. Seine trockene Sachlichkeit, die ich ansonsten sehr mochte, standen ihm hier im Weg, glaubte ich. Ich ahnte nicht, daß meine Sprünge zwischen den Welten ihm bedrohlich werden konnten.

Das Studienjahr, in das ich geraten war, war von der sozialen Zusammensetzung auch für einen Studiengang im Fach Philosophie ungewöhnlich. Es war eine nie wieder erreichte hohe Konzentration von Prominentenkindern. Das heißt, mehr als ein Drittel der Kinder kamen aus dem DDR-Establishment. Es waren Kinder von Altkommunisten, antifaschistischen Widerstandskämpfern, wie es in der politischen Sprachreglung der DDR hieß, um nicht Kämpfer gegen den National-Sozialismus sagen zu müssen. Letzteres lag assoziativ sehr in der Nähe von Sozialismus. Diese Altkommunisten waren Mitglieder der KPD gewesen und mit dem Machtantritt Hitlers zumeist aus Deutschland emigriert oder es waren Überlebende von Konzentrationslagern. In der DDR waren die Altkommunisten besonders geachtet und privilegiert und gehörten mehrheitlich zur Führungsriege der DDR-Nomenklatura. Bis ich unter den Kindern der Antifaschisten Esther, eine Schulfreundin aus tiefster Kinder- und Grundschulzeit, wiederfand, wußte ich von der Existenz dieser Antifa-Kinder, wie sie sich selbst gern nannten, so gut wie nichts. Esther war erfreut, dann aber irritiert, mich ich in diesem Studienjahr wiederzusehen. Sie dachte, ich würde als Pianistin durch die Welt fahren, nachdem ich bei meiner Großmutter in Westberlin verschwunden war, wie sie sagte. Die Dozenten behandelten meine Schulfreundin Esther mit viel Vorsicht und Respekt. Ihr Vater war Generalmajor der Deutschen Volkspolizei, was mir nichts sagte.

Ich erzählte ihr von meiner Geschichte mit der Mauer und dem Klavierspiel. Esther fühlte sich sofort verantwortlich für mich. Sie verstand, daß ich politisch wenig verstand und half mir von Stund an, wo sie konnte. Und Esther konnte viel, auf Grund der Position ihres Vaters. Sie wollte nicht zulassen, daß ein Mensch unglücklich war in ihrem Sozialismus.

Esther war einige Kilometer von Moskau geboren und von einer russischen Amme aufgezogen worden. Ihre Eltern kämpften als Partisanen in der Roten Armee, und nach Kriegsende waren sie als Politoffiziere in Umerziehungslagern für deutsche Kriegsgefangene tätig. Als Esther nach Deutschland kam, war sie fünf Jahre alt und sprach russisch so gut wie deutsch. Esther war nie in Westberlin oder in Westdeutschland gewesen. Darauf war sie stolz. Sie war von der Richtigkeit der DDR-Politik zutiefst überzeugt. Über alles liebte sie ihren Vater, dessen politische Überzeugung sie voll und ganz teilte.

 

Bald lud sie mich zu sich nach Hause ein. Ihr Vater würde sich freuen, mich wiederzusehen. Er hatte mich in der 3. Klasse zu einer Schulfeier Klavier spielen gehört. Er hätte es nicht vergessen, hat Esther gesagt.

Esthers Zuhause lag hinter einem von Polizei und Sicherheitskräften streng bewachten Gelände in Berlin-Pankow. Es war der Wohnsitz für die Führer des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staats, bevor Wandlitz erbaut wurde. Esthers Familie bewohnte dort ein mittelgroßes Haus, aus dem mir bei meinem ersten Besuch ihr Vater entgegentrat. Er trug eine hochdekorierte Uniform der deutschen Volkspolizei. Ich zuckte zusammen. Er kam mir entgegen, war sehr freundlich, beinahe zärtlich. Letzteres irritierte mich. Für mich waren Polizisten Bullen und weiter nichts. Und Esthers Vater Jonas war ein Bulle, selbst dann, wenn er auch noch Humor hatte. Jonas paßte nicht in das Bild, das ich von einem DDR-Bonzen hatte, vor dessen Haus Sicherheitsposten auf- und abgingen. Als ich ihn beim Abschied bat, meinen Passierschein zu unterschreiben, damit ich aus dem gesicherten Gelände wieder herauskam, sagte er, ich könnte, wann immer ich mich in einer Notsituation befände oder in Panik geriete, zu ihm kommen, auch nachts. Er schlafe ohnehin zu viel. Dem Wachdienst werde er meinen Namen als Dauerbesucher angeben. Das tat er dann auch.

Ich bin wieder hingegangen, auch wenn mich Esthers Mutter nicht ausstehen konnte, weil sie eigentlich niemanden ausstehen konnte, dessen Eltern nicht im antifaschistischen Widerstand gewesen waren. Ich mochte sie ebensowenig. Sie verachtete mich, auch weil mein politisches Bewußtsein, wie sie sagte, unter jedem ernstzunehmenden Niveau lag. Esther und Jonas verteidigten mich immer vor ihr. Ich habe das Angebot von Jonas auf Schutz angenommen. Jonas wurde für mich d e r Edelkommunist. Die Ausnahme von der Regel. Bald liebte ich ihn wie einen Vater, der mich beschützte. Und in der Tat: Ohne seine politische Macht, die auf Grund seines militärischen Ranges auch eine persönliche war, hätte ich das Studium am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität nicht überstanden.

Ich lebte also die Paradoxien, die mich philosophisch mehr und mehr in ihren Bann zogen. Ich fühlte mich sicher unter dem Schutz von Jonas, der in seiner Funktion als Generalmajor der deutschen Volkspolizei wesentlichen Anteil daran hatte, daß ich festsaß, in diesem Land, aus dem ich nicht herauskam.

Ich fühlte mich sicher in seinem Haus, das bewacht wurde, vor dem Volk, das er als oberster Volkspolizist beschützen sollte. “Städtchen” nannten die Funktionärssiedler liebevoll ihren durchs Militär geschützten Ort. Ich fühlte mich sicher in dem Haus eines Parteifunktionärs, der maßgeblich dafür sorgte, daß ich lebend nicht hinüberkam über den antifaschistischen Schutzwall, wie er die Mauer, nie ohne Stolz in der Stimme, nannte. Er erklärte mir, daß es ein Glück für mich sei, nicht herauszukommen aus der DDR. Ich trennte die Person Jonas, der meine Zuneigung gehörte, von ihrem politischen Amt.

Sich wider das Erwartete zu bewegen wurde meine Überlebensstrategie in der DDR. Lange konnte ich sie nicht benennen, was nichts an meiner Vorgehensweise änderte. Wider den gesunden Menschenverstand studierte ich nicht Botanik, um aus der DDR-Wirklichkeit in den deutschen Wald zu emigrieren, sondern Philosophie. Ausgerechnet im Zentrum apologetischer Bräustuben suchte ich nach neuem Sinn für mein Leben und wollte der real-sozialistischen Wirklichkeit entfliehen. Und wider Erwarten: Die Flucht gelang mir. Denn ehe ich zu Bewußtsein kam, war ich schon abgetaucht in die dialektische Methodologie und ihre Logik. Denn darum ging es doch, jedenfalls für mich. Ich suchte für mich nach einer Logik für das Erlebte, in der all die Widersprüche ihren Platz und ein Auskommen miteinander fanden. Von solch existentiellem Verlangen nach Harmonie durch Theorie in die Philosophie der Widersprüche getrieben, war es zu Hegel für mich nur ein Schritt. Von seiner “Wissenschaft der Logik” zur DDR-Wirklichkeit zurück, umständlich und, wenn man es nur ordentlich einrichtete, nahezu unmöglich. Also arbeitete ich mich ein in die reinen Theorien, mitten in den marxistisch-leninistischen Schulen für Staatsphilosophie.

Wider das Erwartete leben. Wider das Gewohnte sich bewegen. Sich so verstecken, daß das Versteck als Versteck nicht zu erkennen ist. Daß das Versteck als Versteck nicht nachweisbar wird. Sich in aller Öffentlichkeit verbergen! Das war eine Möglichkeit zu überleben. Sie kam mir entgegen. Ich hatte das Versteckspiel als Kind mit dem Vater trainiert. An mindestens zwei Orten zur gleichen Zeit leben. In dem Ost-West-Karussell des Berliner S-Bahn-Rings hatte ich angefangen diesen Zustand zu üben. Hatte gelernt, gegen das Schwindelgefühl beim Übergang von einem Zustand zum anderen anzugehen und das Gleichgewicht zwischen beiden Zuständen aufzufinden. Und als Musikerin, die ich immer geblieben war, gehörte es zum Einmaleins des Spielens, zwei Themen in einem handhaben zu können.

Die Übergänge unerläßlich üben, ohne die Wirklichkeit zu berühren. Das wurde mein erstrebtes Klassenziel zum philosophischen Staatsexamen. Nur konnte ich das damals so noch nicht formulieren.

Zunächst aber ging ich zu den Kindern der Altkommunisten, den Kindern der Antifaschisten, die, wie ich bald erfuhr, vornehmlich jüdischer Herkunft waren. Sie sprachen viel vom Heldenkampf ihrer Eltern und hielten auf eine Weise zusammen, die mich draußen ließ, obwohl ich mitten unter ihnen war. Sie tolerierten mich in ihrem Kreis, weil ich Esthers Freundin war. Abends sangen die Kinder der Antifaschisten oft zur Gitarre Partisanenlieder oder Kampflieder der Arbeiterklasse. Irgendwann sehr spät am Abend sangen sie jüdische Lieder, wie: “Es brennt Brüder, es brennt”, “Sag nie, du gehst den allerletzten Weg”oder: “Auf dem Wagen liegt ein Kälbchen.”

Zum Ausklang des Abends sangen die jüdischen Kinder der Altkommunisten ausgerechnet Ghettolieder und lange wußte ich nicht, daß es Ghettolieder waren. Denn ich wußte, bis ich in dieses Studienjahr geriet, so gut wie nichts von jüdischen Kindern, die in der DDR lebten. Aber ich fühlte mich wohl, auch weil ich immer fremd blieb unter ihnen. Später bemerkte ich die Kluft, die zwischen diesen Kindern und dem “Rest” des Studienjahres bestand. Noch später hörte ich, daß ich mit den Funktionärskindern, die die Kinder der Antifaschisten auch waren, anzubändeln versuchte. Meine Affinität zu den antifaschistischen Kindern hing aber zuerst und zuletzt mit Esther zusammen. Ich liebte sie und fühlte mich sicher in ihrer Nähe. Erst viel später wurde mir klar, daß ein weiterer Grund für meine Affinität zu den Kindern der Antifaschisten ihre Identitätsschwierigkeiten waren, die sie in der DDR hatten, auch wenn diese Schwierigkeiten recht unterschiedliche Bezugspunkte hatten. Denn immerhin waren es Deutsche, die die Massenvernichtung europäischer Juden aus tiefster Überzeugung und mit deutscher Gründlichkeit organisiert hatten. Es waren Deutsche, die ihre Familien vergast hatten. Auch wenn die politisch moralische Existenzberechtigung der DDR von Seiten der SED-Führung aus dem Antifaschismus hergeleitet wurde, hatten die nachkriegsdeutschen Kommunisten bzw. kommunistischen Nachkriegsdeutschen ihre Schwierigkeiten mit den kommunistischen Juden, die in die DDR zurückgegangen waren, und die kommunistischen Juden hatten Schwierigkeiten mit ihrem Judentum, dessen sie sich durch Assimilation zu entledigen versucht hatten. Der Versuch ihr Judentum in der kommunistischen Bewegung aufheben zu können und diese Form der Assimilation auch noch durch die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu begründen, schien für die kommunistischen Juden die Judenfrage in besonders konsequenter Weise zu lösen, denn sie schloß eine supranationale Aufhebung der Judenfrage durch internationale Solidarität und Verbrüderung ein.

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