Slow Dancing In A Burning Room

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11

Das Telefon riss sie aus einem traumlosen Schlaf. Das Diktiergerät war auf den Boden gefallen und aufgesprungen. Verdammt, es war also kein Traum gewesen. Die Kassette hatte sich aufgewickelt und Linnea fluchte, während sie es aufhob und gleichzeitig ihr Handy in ihrer Tasche suchte. „Hej flicka!“ Es war Kristina. Natürlich war es Kristina, wer sonst würde sie um diese Uhrzeit anrufen? „Hej, Kris. – Verdammt!“ Das Band war eingerissen und Linnea legte das Gerät frustriert auf den Tisch. „Wie ist es gestern gelaufen? Sag schon! Bist du in Ohnmacht gefallen?“ Das hätte sie wohl besser getan. „Ist er wirklich so umwerfend, wie man sagt?“ So würde sie das vielleicht nicht sagen… „Es ist ganz gut gelaufen – denke ich.“ Sie sah auf ihre Spickzettel die über das ganze Sofa verstreut waren und steckte das Ladegerät an ihren Laptop. „Hat er deine Fragen beantwortet?“ „Die meisten, ja.“ „Wahnsinn! Karla wird dich lieben!“ „Kris, solltest du nicht in der Arbeit sein?“ Wie spät war es eigentlich? „Oh, ich bin auf dem Flur. Recht ruhig heute. Aber jetzt erzähl schon: Hat er mit dir geflirtet? Bestimmt hat er das.“ Linnea zuckte zusammen, biss sich auf die Lippen bis sie Blut schmeckte und schüttelte das Bild von sich. „Oooooh, ich bin ja so neidisch auf dich! Warst du wenigstens ein klein bisschen versucht, mit ihm zu flirten? Ich hätte dieses Interview niemals führen können, ich wär nach dem ersten Satz schon auf seinen Schoß gesprungen.“ Linnea ließ sie reden. Sie hatte gar nicht vor, dazwischen zu gehen. Je weniger sie selbst erzählen musste und je mehr Kristina sich ausdachte, umso mehr konnte sie sich darauf konzentrieren, das Chaos um sie herum in Ordnung zu bringen. Albin war längst bei der Arbeit. Hatte er sie zum Abschied wenigstens geküsst? „Kris, ich bin echt beschäftigt.“ Und sie brauchte Kaffee. „Ich muss alles noch ordnen und formatieren und dann muss ich meiner Mutter noch das Kleid zurückbringen.“ Dieses furchtbare Kleid! „Ach, du hast es gut, dass du heute frei hast. – Was ziehst du denn heute Abend an? Kommt Albin mit? Ich wette, er hat gesagt…“ „Heute Abend?“ Was war denn heute Abend? „Zum Konzert! Ach, ich bin ja soooo neidisch! Ich hab ja keine Karten mehr gekriegt und eigentlich hätte ich schon erwartet, dass du deine beste Freundin mitnimmst, aber ich muss ja zu dieser dämlichen Jubiläumsfeier.“ Welches Konzert? Oh mein Gott, das Konzert! Linnea zog fieberhaft die Mappe aus einem Stapel auf dem Couchtisch, sodass alles andere auf den Boden rutschte und blätterte nach den zwei Karten, die Karla ihr für ihre Arbeit ebenfalls geschenkt hatte. Es waren keine Presse- oder gar VIP Tickets, dafür war Linnea nur eine zu einfache Mitarbeiterin, aber es waren Karten für das ausverkaufte Konzert von Agents Provocateurs im Annex an diesem Abend.

„Okay, ich muss jetzt, glaube ich, zurück ins Büro“, seufzte Kristina am anderen Ende der Leitung. „Aber wir treffen uns ja eh morgen Abend zum Essen und da will ich dann alles über das Konzert hören – und Haydn Cavendishs Augen.“ Linnea ließ die Karten sinken. „Ciao ciao, flicka!“ „Bis dann, Kris“, legte sie auf und lehnte sich seufzend zurück. Das Konzert. Sie konnte unmöglich auf dieses Konzert gehen. Nicht nach dem was die Musik mit ihr gemacht hatte – nicht nach dem was Haydn Cavendish mit ihr gemacht hatte. Aber es wäre ihr erstes richtiges Rockkonzert. Als Teenager hätte sie ihren linken Arm dafür gegeben, ein Live-Konzert zu erleben – außerhalb der Jugendclubs. Ihr Studium und ihre Beziehung hatten sie viel zu sehr gezähmt, sie war gar nie mehr auf die Idee gekommen, nachdem sie in die Stadt gezogen war, wo die Musik tatsächlich spielte. Es würde sie vielleicht nicht umbringen. Sie würde ihn ja wahrscheinlich nicht mal richtig sehen können. Und eigentlich würde sie schon gerne erleben, wie man solche Musik auf die Bühne bringen konnte. Nur weil Haydn Cavendish ein arroganter Snob war, musste sie ja nicht die Band bestrafen, indem sie ihre Karten verkommen ließ.

Okay, sie würde gehen, aber sie würde sich nicht amüsieren. Und sie wusste auch, wem sie mit der zweiten Karte ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk machen konnte.

12

„You are my sunshine, my only sunshine, you make me happyyy...!“ Ian sprang neben Haydn aufs Bett und rüttelte seinen Bandkollegen an der Schulter. „Rise and shine, mouse, rise and shine!“ „Hau ab!“, schlug der Angesprochene um sich und zog die Decke über den Kopf. „Oh, it’s such a beautiful day. The sun is out, the birds are singing…” „Would you stop that?” Haydn schlug die Decke wieder zurück und setzte sich auf. „Dir auch einen schönen guten Morgen, Maus.“ Ian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Woher kommt deine gute Laune so früh am Morgen?” „Zu viel Zucker im Kaffee.“ „Oh Gott!“ Haydn verkroch sich wieder unter der Decke und kniff die Augen zusammen. Aber er musste sich gar nicht bemühen, er war längst wach, sollte er überhaupt je wirklich müde gewesen sein. „Okay, jetzt hast du mich soweit. Also sei so gut und bestell Frühstück.“ „Right, boss!“ Ian kletterte wieder aus dem Bett und griff nach dem Telefon.

„Sind die anderen schon wach?“ Haydn tastete nach seinen Zigaretten und gähnte langgezogen. Er war tatsächlich eingeschlafen, wann war denn das passiert? „Wach und munter!“, nickte Ian und nahm sich die gebotene Zigarette. „Wie spät ist es?“ „Kurz vor zehn.“ „Was?!“ Das brennende Streichholz fraß sich in die Decke, bevor Ian es ausdrücken konnte. „Merde!“ „Jesus!“ Beide sprangen zurück und Haydn schüttete geistesgegenwärtig sein Wasser darüber. „Phew!“ „Mein Gott, wie zwei Mädchen“, grinste Ian dann und setzte sich wieder. „Du ja kennst meine feminine Seite“, zwinkerte Haydn und entzündete ein neues Streichholz. „Huch, ja“, winkte Ian fröhlich ab und zog fest, um die Zigarette zum Glühen zu bringen. „Und du quietscht immer noch wie meine Maus.“

Etwa eine Viertelstunde später klopfte es an der Tür. „Roomservice!“ „Na, endlich!“ Haydn stolperte aus dem Bett und warf einen Morgenmantel über. „Guten Morgen... G...“ Vor der Tür stand kein Zimmermädchen sondern ein junges französisches Model namens Gigi Angevine. „’ey, chéri!“ Sie küssten sich als müssten sie all die Zeit aufholen, die sie sich nicht gesehen hatten. „Wo kommst du denn auf einmal her?“ Haydn verschränkte seine Finger mit ihren und führte sie zu dem kleinen Sofa im Zimmer. Ian stand auf und lachte. „Also ich sehe, du hast dein Frühstück. – Ruf mich, wenn meines kommt.“ Damit schlüpfte er an dem Paar vorbei, das ihn längst nicht mehr wahrnahm.

„Ich habe einen Job in London und dort erfahre ich, dass du gerade durch bist und in Stockholm. Da bin ich in den nächsten Flieger und, voilá, hier bin ich.“ „Hmmm...“, küsste er sie. „Ich mag Überraschungen.“ „Menteur“, schubste sie ihn von sich. „Du hasst Überraschungen.“ „Und trotzdem stehst du plötzlich unangemeldet vor meiner Tür.“ „Nun ja, ich mag Überraschungen.“ „Rumservice!“ „Erwartest du noch jemanden, chéri?“ Gigi streifte die Schuhe von ihren delikaten Füßen und Haydn hievte sich hoch. „Du weißt, ich sage nie nein zu einer ménage à trois.“ Er öffnete die Tür und ließ den jungen Mann herein, der einen Servierwagen vor sich herschob. Gigi stützte ihren Arm auf die Lehne und ihren Kopf in die Hand. Dann blinzelte sie. „Na ja, ich finde ihn eigentlich ganz süß.“ Haydn steckte dem jungen Mann ein Trinkgeld zu, der zwar kein Französisch sprach, aber trotzdem genug verstand, um zu erröten. „Oh, G, du böses Mädchen, jetzt verunsicherst du den armen Jungen.“ „Deine Sexualität ist sowieso viel zu heftig für das liebe Kind.“ Sie winkte dem Jungen und warf ihm eine Kusshand zu, der er gar nicht schnell genug wieder nach draußen laufen konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.

„Gentil, en quelque sorte“, grinste Haydn und reichte Gigi eine Tasse Kaffee. „Oh bitte, Haydn“, winkte sie ab und legte ihm die Beine in den Schoß. „So gar nicht dein Typ.“ „Ja, wirklich?“ Er biss in eines der Croissants und sie wischte ihm die Krümel vom Kinn. „Viel zu schüchtern.“ „Er arbeitet für den Zimmerservice, ich glaube nicht, dass er den Clown machen soll.“ „Oooh, chéri, sollen wir anrufen und ihn noch mal raufkommen lassen?“ Er stopfte ihr einen Bissen in den Mund und presste seine Lippen darauf.

„Und du bist tatsächlich von London herübergeflogen?“, trank er seine Tasse schließlich aus und stellte sie auf den Couchtisch. „Mais oui“, nickte Gigi und leckte sich die Marmelade vom Zeigefinger. „Wenn du schon mal in Europa bist…“ „Nun tu doch nicht so, als würden wir uns nie sehen.“ Er nahm ihre Hand und ließ seine Zunge über die klebrigen Finger wandern, was sie kichern ließ. „Ah oui, cherie, continue!“ Sie rekelte sich genüsslich. „Wie lange kannst du bleiben?“, küsste er nun ihr Handgelenk. „Nur bis nach dem Konzert. Der Shoot wird morgen fortgesetzt.“ „Mon Dieu, ich liebe es, wenn du so unglaublich wichtig bist“, beugte er sich nun zu ihr, um sie richtig zu küssen. „Das ist ziemlich sexy.“ „Weißt du, was auch sexy ist?“ Sie schlang ihre Beine um seine Hüften. „Die Art wie du ‚sexy’ sagst?“ Sie lachte. „Nein, der Milchschaum auf deiner Nase.“ „Ich habe keinen Milchschaum auf der Nase.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Wir haben immer so unglaublich intelligente Vorspiele.“ „Ah, préliminaires! Ils sont surestimes.“

13

„Mamma?“ Linnea warf ihren Schlüssel auf die Garderobe und ging ins Wohnzimmer. „Mamma?“ „Im Wintergarten!“ Sie folgte der Stimme bis in den Wintergarten, wo ihre Mutter in einer ungewohnten Position vorzufinden war: Sie knipste verblühte Knospen von ihren Blumen. „Hej, Käresta! Wusste ich, dass du heute zu Besuch kommst?“ Oh mein Gott, die Gummihandschuhe! „Oh nein, ich wollte dich überraschen.“ Sie setzte sich und warf einen Blick auf die ausgebreiteten Zeitschriften. „Du kannst mich nicht überraschen, mein Kind“, schüttelte Agneta den Kopf und wandte sich wieder ihren Blumenköpfen zu. „Ich rechne immer damit, dass du wieder zu Mami nach Hause kommst.“ „Ich dachte, du hoffst, dass ich bald verheiratet bin und mein eigenes Haus habe, damit du mich überraschen kannst.“ „Das natürlich auch. – Hast du Hunger?“ Sie nickte heftig. „Oh ja, ich bin am Verhungern! Ich hatte keine Lust zu kochen.“ „Albin arbeitet?“, zog Agneta ihre Handschuhe aus. War das wirklich eine Frage? „Soll ich Alfons anrufen?“ Erneutes Nicken. „Ja, und sag ihm, er soll etwas mehr Extrakäse auf die Pizza tun, ich hab Lust auf Käse.“ „Extra Extrakäse, geht klar.“

 

Sie saßen im Wintergarten und Linnea pickte die letzten Pizzakrümel aus dem Karton vor ihr. Sie hatte auf dem Weg hierher eine perfekte Rede über den Vorabend eingeübt und sie fast ohne mit der Wimper zu zucken abgespult, aber natürlich hatte Agneta sich auch die eine oder andere Frage nicht verkneifen können. „Er ist ein junger Mann mit einer gehörigen Portion Hormonen“, hatte Linnea darauf hin geantwortet und damit war das Gespräch beendet. Bis Linnea der eigentliche Grund ihres Besuches einfiel und sie das Kleid und die Karten aus dem Flur holte.

„Hast du für heute Abend eigentlich schon irgendwelche Pläne?“, legte sie den Kleidersack über einen der Stühle und setzte sich dann wieder. „Mein Fernseher und ich haben ein heißes Date, falls du das meinst.“ „Nun, dann habe ich ja genau das richtige für dich“, schob sie ihr das Kuvert hin. Agneta nahm es und zog die beiden Karten heraus. „Nicht dein Ernst, oder?“, sah sie ihre Tochter dann mit großen Augen an. „Woher hast du die?“ „Karla hat sie mir geschenkt.“ „Und du willst mich mitnehmen? Deine Mutter?“ Sie strich mit der flachen Hand über das Papier als wäre es aus Gold. „Meine Mutter, die schon feuchte Hände bekommt, wenn sie nur an den Namen Cavendish denkt.“ „Oh, da werden noch ganz andere Stellen feucht!“ „Mamma!“ Agneta lachte. „Entschuldige, Älskling. Aber ich bin ganz überwältigt, dass du mir so ein Geschenk machst. Das habe ich ja gar nicht verdient.“ „Natürlich hast du das, Mamma“, küsste Linnea sie auf die Wange. „Du bist meine Mamma.“ „Ich hab dich lieb, mein Kind. – Oh mein Gott, was werde ich nur anziehen?“

14

Im Backstagebereich herrschte rege Hektik. Die erste Vorband war gerade auf die Bühne gegangen, um die Menge erst einmal zu beruhigen und die zweite Vorband lungerte halbherzig in ihrer Garderobe herum. Sam Pearson, der Sänger, lehnte an der Tür und unterhielt sich mit Barclay, der bereits halb in der Maske war. Überall waren Roadies und Techniker die Setpläne studierten, Instrumente hin- und herschleppten und Kabel zu entwirren versuchten. Lafayette hatte die Gitarre für die ersten beiden Songs umgehängt und zupfte darauf herum, während die Make-up Assistentin bemüht war, seine Haare in eine Frisur zu verwandeln.

Dazwischen gab es noch ein paar aufgeregte Fans, die sich unbedingt in eine Konversation einklinken wollten. Agents Provocateurs waren großzügig mit ihren Backstagepässen, genossen es, von Fans umringt zu sein und sich auf den Aftershowparties den einen oder anderen Spaß mit ihnen zu erlauben, aber in den letzten Minuten vor Showbeginn waren sie eher im Weg. Und es half auch nicht, dass sie einige der Musiker, Schauspieler, Models und VIPs belagerten, die am Anfang ihrer Karriere hauptsächlich Haydn hinter die Bühne gebracht hatte und die mit der Band jammten oder Anekdoten austauschten.

„Auf Tour mit Agents Provocateurs ist wie in einem Zirkuswagen voller Clowns“, wie Lewis, einer der Roadies, einmal anmerkte. „Only with infinitely more sex and elusive guests.“ Angeblich hatte eines der Models – „Ach, wenn ich mich nur an den Namen erinnern könnte, es waren so viele…“ – ihm schon mal ihr „Alles“ gezeigt, nur damit sie in die Umkleide durfte, obwohl es ihm verboten worden war und daraufhin hatten die Band ihn vom Unterdecksschrubber zum Aufseher über die Getränke befördert, nur um dann jedes Mal ihre Hosen runterzulassen, wenn sie ein Bier von ihm wollten.

Es kam auch schon mal vor, dass die Herrn sich ein Auto mieteten und danach durch, Gott sei Dank weniger befahrene, Straßen kurvten, ein Roadie am Steuer, die anderen auf dem Dach und/oder der Motorhaube. War es ein Pickup, so tanzten Ian und Haydn schon mal während der Fahrt auf der Ladefläche. Dass sie nie mit der Polizei in Berühung kamen grenzte an ein Wunder. Manchmal hatten die Roadies den Tourmanager schon mal zu sich selbst murmeln hören, dass er sich wünschte, die Polizeit würde sie kriegen, dann würden sie vielleicht endlich zur Vernuft kommen.

Eines Nachts, nachdem man die Jungs und ihre Gäste heil ins Hotel gebracht hatte, war die Band nur mit Schürzen bedeckt in die Poolarea gestürmt, wo man sich unter die unschuldigen Gäste gemischt hätte und „That’s Amore“ zum Besten gegeben hatte, wobei sie bei der Zeile „when the moon hits your eyes“ ihre blanken Hintern gezeigt hatten. Damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich ziehend, bemerkte niemand wirklich, dass Frankie, der für Haydns Gitarren verantwortlich war, dessen Platz eingenommen hatte, während sein Boss im Pool mit einer Schauspielerin beschäftigt war. Und natürlich sind da die zig Male in denen die Band die Rolle der Roadies übernommen hatte – inklusive Fahren des Tourbusses, um unerkannt herumstreunen zu können. So geschehen bei mehreren kleineren Auftritten und vor allem auf Festivals. „Interessant hierbei ist nur“, bemerkte Lewis, „dass sie es als Roadies fast leichter haben, an Mädels ranzukommen.“ „Ich glaube, die Crew braucht nach einer Tour dringender eine Pause als die Band“, lachte Thierry einmal. „Es gibt nur eine gewisse Zeitspanne, die man mit den Fünf zusammen sein kann, ohne sich aus dem nächsten Fenster stürzen zu wollen. Aber sie bezahlen sehr gut und sie lassen uns sogar ein paar von den guten Mädchen – oder Jungs – übrig und sie sind uns ehrlich ans Herz gewachsen.“

Linnea und Agneta schoben sich zu ihren Plätzen durch und Agneta blickten um sich. „Wow, das sind gute Sitze.“ Linnea setzte sich und warf einen Blick auf die Bühne. „Du weißt, dass wir das Konzert über wahrscheinlich stehen müssen, weil andere tanzen?“, verfluchte sie sich dafür, dass sie eine Handtasche mitgebracht hatte. In den Filmen brachte man nie Handtaschen zu einem Rockkonzert. Jetzt verstand sie so richtig warum. „Wieso haben wir dann Sitzplätze?“ Hallo, mein Name ist Linnea Lagerbielke und meine Mutter ist so peinlich...

Das Konzert war eine unglaublich aufwendig getimte Sache, denn es gab viele wechselnde Bühnenelemente und zumindest Haydn Cavendish zog sich zu jedem zweiten Song komplett um – und seine Outfits konnte man eigentlich nicht einfach in zwei Minuten überwerfen. So gut Linneas Vorsätze auch gewesen waren, sie konnte nicht verhindern, mitgerissen zu werden vom dem Zauberstaub, den Agents Provocateurs ins Publikum streute. Und sie konnte nicht verhindern, ihn zu beobachten. Als er Anlauf nahm und mit drei Flik-Flaks und einem Salto über die Bühne sprang, musste sie beinahe lachen. Sie kannte ihn nicht, sie hatte ihn nicht kennenlernen können, aber das gerade: Das war absolut er. Es war Zirkus, es war Rock, es war alles dazwischen und es verkörperte so absolut nicht, aber doch gekonnt übertrieben, den Inhalt der Songs. So musste sich ein Acid-Trip anfühlen – aber ein guter.

Pour some sugar on my skin

Lick it from my heart

Wrap my flesh in salt

Lick it from my bones

Kill my lust, my achin’

Drip some blood upon my lips

Draw it from my veins

Cover me with life

Draw it from my soul

Wind your body, break mine into bits

My flesh has found itself in you

Changing colours green to blue

Burning through your skin like fire

Masturbating hell’s desire

And when I reach your screaming climax

We’re left with nothing else to say

I twist around my phoney syntax

Before you’ll wake I’m on my way

„Ich bin verliebt.“ Der letzte der letzten Töne war verklungen und Agneta ließ sich zum ersten Mal seitdem der Vorhang aufgegangen war auf ihren Sitz fallen. Linnea strich sich die Haare aus der Stirn und suchte dann nach ihrer Handtasche, die sie irgendwo am Boden abgelegt hatte. „Gott musste einen überaus guten Tag gehabt haben, als er Haydn Cavendish geschaffen hat.“ „Vielmehr hatte Frau Gott ihn wohl endlich mal wieder so richtig befriedigt – oder wollte befriedigt werden.“ Oh, mein Gott, hatte sie das gerade wirklich gesagt? Linnea schlug sich die Hand vor den Mund und sah sich um. Niemand schien es gehört zu haben und Agneta und sie brachen in schallendes Gelächter aus.

„Und du bist sicher, dass wir nicht hinter die Bühne können? Du arbeitest doch für eine Musikzeitschrift.“ Sie hatten gewartet, bis die Gänge einigermaßen frei waren und suchten nun den Ausgang. „Ich fürchte, wir minderes Fußvolk besitzen keine solchen Privilegien“, zuckte Linnea die Schultern. „Und einfach so wird man uns bestimmt nicht nach hinten lassen. Dafür sind Backstagepässe erfunden worden.“ Manchmal war sie nah daran, an einen Gott zu glauben und der hatte gerade verhindert, dass sie Haydn Cavendish in seinem letzten Bühnenoutfit über den Weg laufen würde und sie eine weitere unruhige Nacht darüber würde verbringen müssen. Vielleicht war es nicht die beste Idee gewesen, ihre Mutter mitzubringen, die den Sänger anhimmelte und Linnea dadurch jede Sekunde daran erinnerte, wie gut sein Kuss geschmeckt hatte.

Die Band war verschwitzt, aber high und lärmte den Flur hinunter zur Garderobe, wo sie bereits von Journalisten und Fans erwartet wurden, die einen Backstagepass hatten ergattern können. Niemand konnte sagen, wo es lauter war, auf der Bühne oder hier und man brauchte schon seine Ellbogen, um in den kleinen Umkleideraum zu kommen. „Wow, fame sure has its downsides.” Bobby warf seine Sticks in die Richtung seiner Tasche und Barclay stürzte sich auf die bereitgestellten Wasserflaschen. „You just figured that out, didn’t you?”, keuchte er, nachdem er sich fast verschluckt hatte. „Hehe, got me! – Whoa, Mann, ich glaube, ich habe eine Blase auf meinem Arsch.“ Haydn kämpfte sich zum Sofa und ließ sich darauf fallen. „Wie lange, bis die Meute das Schloss geknackt hat?“ „Zehn Minuten.“ Thierry nahm sich ein Bier und setzte sich auf den Couchtisch. „Ach, wunderbar!“, prostete Ian ihm zu. „Bis dahin ist mein Puls vielleicht sogar wieder auf einer Geschwindigkeit gesunken bei der ich an Sex denken kann.“ „Ich kann immer an Sex denken“, zuckte Haydn die Schultern. „Vor allem, wenn der Puls hoch ist.“ „Natürlich, Maus“, küsste Ian ihn liebevoll.

„Aber können wir dann wenigstens noch irgendeinen anderen Spaß haben?“, hatten sie es endlich nach draußen geschafft und die Menge begann sich zu zerstreuen. „Ich bin so aufgeheizt, ich kann jetzt unmöglich schon nach Hause gehen.“ Haha, sollte nicht eigentlich Linnea das sagen? Sie war nicht nur das Kind hier, sie war auch eigentlich diejenige, die immer davon geträumt hatte, wie es wohl sein musste, auf ein echtes Rockkonzert zu gehen. Ein großes. „Na, wenn das keine Aussicht ist!“ Und auf einmal standen da zwei junge Männer vor ihnen und niemand wusste woher die gekommen waren. Sie dürften Ende zwanzig gewesen sein und musterten die beiden Frauen unverhohlen. „Habt du und deine Schwester zufällig Lust, auf einen Drink mitzukommen?“ Nummer zwei in der Sammlung schlechter Anmachsprüche. „Eigentlich…“, wollte Linnea ihre Mutter wegziehen, bevor diese noch eine Dummheit begehen konnte. „Eigentlich hatten wir genau das vor.“ Zu spät, das sah sie leider nur zu genau. Agneta hatte Blut geleckt. Und die nackten Oberkörper von Haydn Cavendish und Lafayette Roche hatten ihr eigenes Blut in Wallungen gebracht. Linnea kannte den Ablauf.

„Na wunderbar. Die Bar ist nur ein paar Straßen weiter“, lachte der eine von ihnen und bot nun Agneta seinen Arm. „Wer könnte da schon ‚Nein‘ sagen?“, lächelte Agneta zurück und nahm an. „Oh erm, ich kann!“, warf Linnea ein und küsste eilig ihre Mutter auf die Wange. Sie sahen nicht unbedingt aus wie Schwerverbrecher und ihre Mutter war immerhin erwachsen – meistens jedenfalls. Sie würde sich schon keine Sorgen machen müssen, Agneta ließ sich ja nicht zum ersten Mal abschleppen, so nuttig das auch klang. „Ich muss noch ein paar Korrekturen durcharbeiten, damit ich morgen das Interview einreichen kann.“ Sie küsste ihre Mutter auf die andere Wange. „Sorry, boys. Beim nächsten Mal vielleicht. Hat mich auf jeden Fall gefreut, euch kennen zu lernen.“ Oh, der Sarkasmus in ihrer Stimme! „Mamma?“, sah sie dann ihre Mutter sehr eindringlich an. „Friss sie nicht gleich beide auf.“ Und das meinte sie auch so.