Slow Dancing In A Burning Room

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„Mein lieber, liebster Haydn...“ Conny schloss die Tür hinter sich und steckte den Stift an ihr Klemmbrett. „Darf ich dich bitten, dich bei deinem Einzelinterview endlich mal von deiner Schokoladenseite zu zeigen?“ „Die Schokoladenseite hat Lafayette“, sah Haydn von seinen Karten auf und Conny verdrehte die Augen, während die anderen grinsten. „Es bringt dich bestimmt nicht um.“ „Ihn nicht“, legte Ian eine Karte ab, „aber die Journalistin vielleicht.“ Haydn und er klatschten ab und Conny warf dabei einen schnellen Blick in seine Karten. „Entweder du bluffst hoch oder du lässt die anderen gleich gewinnen.“ „Conny!“, warf er die Karten auf den Tisch und sie zuckte mit einem süffisanten Lächeln die Schultern. „Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, du bist eifersüchtig“, verschränkte Haydn die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Wieso sollte ich eifersüchtig sein?“, nahm sie einen Bissen von seinem Sandwich. „Ich bin wahrscheinlich die einzige Frau in deinem Umfeld mit der du nicht geschlafen hast. Das macht mich zu etwas Besonderem.“ Sie küsste ihn auf die Stirn und sah dann in die Runde. „Okay, Jungs, die nächste Gruppe ist da.“ „Verdammt!“, flogen die Karten in ihre Richtung.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Fröken?“ Ja, einen Stuhl und ein Seil an dem sie sich erhängen konnte. Aber nachdem sie es bereits durch die ganze Halle bis zur Rezeption geschafft hatte, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern, konnte sie bestimmt auch noch den Rest ihres Stolzes zusammenkratzen und die Sache durchziehen. Ihr „Ding“, was auch immer das sein mochte. „Erm ja... Linnea Lagerbielke, Sonic Tidskrift. Ich habe… erm... einen Termin mit Conny Lowe.“ Der Herr hinter der Rezeption zog eine Augenbraue hoch und schüttelte dann den Kopf. „Tut mir leid, Fröken, wir haben keinen Gast dieses Namens.“ „Linnea, du musst ihm deinen Presseausweis zeigen“, trat Oscar ihr in dem Moment gegen das Schienbein. Oh...! Ach so. „Erm... Hier ist mein Ausweis.“ Sie fummelte an ihrer Handtasche herum, bekam schließlich ihre Geldtasche zu fassen und zog mit zitternden Fingern ihren Ausweis heraus. Verdammt. Die ganze Woche hatte sie damit zugebracht, Filme zu studieren, in denen Journalisten Hauptrollen spielten, um professionelles Auftreten zu üben und dann versagte sie schon bei der ersten Prüfung. „Das ist mein Fotograf, Oscar Jonsson.“ „Einen Moment bitte“, wirkte dies sofort wie eine Art Zauberspruch und der Rezeptionist griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Linnea spürte ihren Herzschlag bis zum Hals. „Hier spricht die Rezeption. Eine Miss Linnea Lagerbielke von Sonic ist hier und sagt, sie hätte einen Termin mit Ihnen. – In Ordnung. Danke. Auf Wiederhören.“ Er legte auf und nickte Linnea zu. „Der Termin wurde bestätigt. Sie können nach oben. Zimmer 322.“ Oh mein Gott, nur drei Stockwerke trennten sie von einem echten Rockstar!

„Das hier oder doch das kleine Schwarze?“, hielt Haydn zwei Outfits hoch und Jean-Marie, Chefgarderobiere, rieb sich das Kinn. „Die sind beide sehr aufreizend, mon chouchou.“ „Na und?“, zuckte Haydn die Schultern und warf sie zu den anderen aufs Bett. „Wenn sie einen Herzinfarkt bekommt, dann brauche ich das Interview wenigstens nicht zu geben.“ „Dafür dass du keine Publicity willst, machst du aber ziemlich viel öffentlichen Unsinn“, kritzelte Conny auf ihrem Klemmbrett herum, während sie darauf wartete, dass Haydn sich endlich etwas anzog. Er würde wieder einmal zu spät kommen und wenn sie noch länger auf seinen Hintern starrte, würde sie ihren Freund anrufen müssen.

„Ich nehme einfach das hier und damit basta“, nahm er eines seiner Bühnenoutfits von der Garderobenstange und Jean-Marie nickte: „Okay, das wollte ich sowieso aus der Show nehmen.“ „Du hast Recht“, besah Haydn es sich genauer. „Es ist ein bisschen zu unbequem. – Aber ich sehe heiß darin aus.“ „Du siehst noch heißer aus, wenn du nackt bist, aber trotzdem solltest du dich endlich anziehen“, stöhnte Conny und stand auf. „Ich schicke Thierry um dich zu holen, wenn sie da ist.“

Als der Aufzug sich in Bewegung setzte, fühlte Linnea einen Moment dieses Ziehen in der Magengegend, aber als es beim zweiten Stock nicht verflogen war, wusste sie, dass es ihre Nervosität war, die ihre Übelkeit verursachte. Am liebsten hätte sie sich übergeben, aber das hätte ihr gerade noch gefehlt. Vielleicht auch noch geradewegs in Haydn Cavendish’ Schoß. Nur wahrscheinlich würde sie damit nicht einmal eine bleibende Erinnerung hinterlassen, das hatten sicher schon andere Mädchen vor ihr getan.

„Bereit?“ Sie standen vor dem genannten Zimmer und Oscar zwinkerte Linnea aufmunternd zu. Nein! Nein! Sie war nicht bereit! Überhaupt nicht! So unbereit war bestimmt noch niemand vor ihr gewesen! Nur was half es ihr? Sie wurden erwartet, jetzt konnte sie doch unmöglich wieder kehrtmachen. Wie würde das denn aussehen? Die Blamage wäre vielleicht sogar noch größer als die, wenn sie das Interview tatsächlich durchzog. Also nahm sie einen tiefen Atemzug und schloss für eine Sekunde die Augen. Sie würde sich nicht von sich selbst fertig machen lassen! Nicht jetzt! Also straffte sie ihren Rücken und nickte. „Bereit.“ Dann hob sie ihre Hand und klopfte. Einen Moment geschah nichts, und sie spürte schon den Funken Hoffnung in sich aufglimmen, dass er vielleicht doch nicht da war und alles ein Missverständnis war, da hörte sie etwas klicken und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Vor ihr stand ein junger Mann in Jeans und T-Shirt, mit stacheligen Haaren und Kopfhörern. Wer war denn das, um Gotteswillen? Nicht von einem professionell aussehenden Assistenten mit Klemmbrett begrüßt zu werden warf Linnea erneut aus der Bahn. Das war doch in den Filmen immer so! Die hatten doch immer alle Manager und so Zeug, ohne die sie keinen Schritt taten. „Miss Lagerbielke?“ Oder vielleicht war es ja der Manager. Conny war ein Unisexname. Wer weiß. Haydn Cavendish war ein unkonventioneller Mensch, es würde sogar ein bisschen zu ihm passen. Außerdem war es fast süß, wie komisch er ihren Namen aussprach. Linnea hätte nicht einmal sagen können, ob es tatsächlich ihrer war, aber er sah sie dabei an, also war sie wohl auch gemeint. „Ja.“ „Kommen Sie herein. Haydn ist noch im Nebenzimmer, aber er wird gleich hier sein.“

Thierry kam zur Tür herein und kickte seinem Boss in die Seite, der gerade einen vollendeten Lidstrich gezogen hatte. „Hey, Cav, dein Date wartet in deinem Zimmer auf dich. Ich habe sie gut festgebunden, genau wie du es magst.“ „Handschellen oder Seile?“, richtete Haydn sich auf und rieb die Lippen aufeinander, bevor er aus dem Badezimmer ging und sich aufs Bett fallen ließ, um in die Stiefel zu steigen. „Seidenschals.“ „Ooohooh!“ „Marsch, marsch, Verdammter“, lächelte Jean-Marie und zog ihn wieder hoch. „Beuge dich deinem Schicksal“, schob er ihn zur Tür. „Keine Sorge: Sie ist ziemlich süß.“ „Wer?“ Thierry klopfte ihm auf die Schulter. „Deine Henkerin.“

Linnea versuchte verzweifelt, es sich auf dem Sofa bequem zu machen. Oscar neben ihr spielte an seiner Kamera herum und das Klicken und Knacken brachte Linneas Nerven fast auf die Palme. Sie begann fieberhaft nach ihrem Diktiergerät zu suchen und platzierte es dann in der Mitte des Tischs. Um es dann eine Sekunde später etwas nach links zu rücken. Und eine weitere Sekunde später etwas nach rechts. Dann zog sie die Karten mit den Fragen heraus und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, aber ihr Kopf summte viel zu laut. Außerdem hatte sie sich schon vor Prüfungen nichts mehr in letzter Sekunde merken können, also gab sie auf und legte die Hände in den Schoß.

„Thierry hatte Recht: Du bist ziemlich süß.“ Ihre Nervosität hatte sie in eine Art Wachkoma fallen lassen, aus dem sie jetzt äußerst unsanft geweckt wurde. Sie wirbelte herum und sah sich plötzlich Haydn Cavandish gegenüber. Sein sehniger Körper steckte in einem unanständig engen Lederoverall und Nietenstiefeln, die seine Beine unendlich wirken ließen. Er trug eine blutrote Perücke á la David Bowie und Make-up, das beneidenswert natürlich wirkte, obwohl es viel zu dick aufgetragen war. Er war ohne Zweifel eine Erscheinung, aber Linnea wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als er zu lachen begann. „Linnea, nehme ich an?“ Die Hand, die er ihr reichte, steckte in einem Lederhandschuh und es fühlte sich irgendwie komisch an, als sie sich endlich von seinem Anblick losreißen konnte und sich den Ruck geben konnte, ihm die Hand zu geben. Diesen ersten Händedruck würde sie noch tagelang auf ihrer Handfläche spüren, den Blick in seine Augen dabei nie vergessen. „Erm, ja. Linnea Lagerbielke, Sonic Tidskript.“ Sie hielt immer noch seine Hand, aber er schien auch keine Anstalten zu machen, sie loszulassen. Er zählte gerade jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase. „Gesundheit.“ Wie bitte? Oh... ach so! Ha-ha. „Und das erm...“ Sie machte ihre Hand los und deutete auf Oscar. „Das ist Oscar Jonsson, mein Fotograf.“ „Freut mich sehr“, machte er wirklich keinen Hehl daraus, dass er keineswegs erfreut war. „Also gut, dann können wir ja anfangen.“ Er ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen, legte die Beine auf den Tisch und griff nach der Packung Zigaretten auf dem Beistelltisch. „Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen“, zündete er sich eine Zigarette an, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Ich bin Kettenraucher.“ Er sagte das so, als wäre das damit zu vergleichen, sich jeden Tag zu duschen. „Erm... Nein, kein Problem.“ Um ehrlich zu sein hätte sie sich auch gar nicht getraut, ihm zu widersprechen.

„Gut, dann schieß mal los“, stieß er den Rauch durch die Nase und lehnte sich zurück. Linnea war einem Moment unglaublich fasziniert von seinen schlanken Fingern und musste von Oscar angetippt werden, um wieder aufzuwachen. „Ja, erm... Natürlich. Dafür bin ich ja hergekommen.“ Er sagte es nicht, aber Linnea wusste, dass er es sich dachte: ‚Ah ja, wirklich dafür?’

 

Während sie sich hinter ihren Cue-Cards versteckte, hatte er Zeit, sie sich genauer anzusehen. Das Kleid, das sie trug, ließ genug Raum für Phantasie, aber es passte überhaupt nicht zu ihr. Sie war ein Mädchen, kein Vamp, das war nur zu deutlich. Und sie hätte einen Haarschnitt vertragen können. Ansonsten war sie im Großen und Ganzen wirklich ganz nett anzusehen. Viel interessanter war allerdings ihr Benehmen, die Art, wie sie seinen Blicken auswich, wie sie artikulierte, um ihre Nervosität zu überspielen – und ihr Lachen das darüber hinwegtäuschen sollte, wenn er sie etwas aus dem Konzept brachte. Trotzdem gelang es ihr, natürlich zu bleiben und sie verwandelte sich dabei in so etwas wie eine attraktive junge Frau. Das fand er sehr interessant.

Er war eine harte Nuss – das ließ sich weder bestreiten noch ausblenden. Und er hatte ein Ego höher als seine Stiefel. Aber er hatte Charme und einen sehr eigenen Humor, an den man sich erst mal gewöhnen musste. Wirklich auffallend aber war die Tatsache, dass er sich selbst gar nicht richtig ernst zu nehmen schien. Er war unglaublich selbstbewusst, grenzte an arrogant, aber gerade das gab ihm genügend Spielraum, sich von sich selbst zu distanzieren und Dinge zu tun oder zu sagen, die bei anderen lächerlich gewirkt hätten. Von dem Outfit gar nicht zu reden.

Ob sie es wollte oder nicht: Sie begann langsam zu sehen, was die restliche Frauenwelt in ihm zu sehen schien. Wahrscheinlich, oder ganz bestimmt, war er furchtbar gelangweilt und von ihrer Anwesenheit wenig erfreut und die Art, wie er sich in den Stuhl ihr gegenüber gekuschelt hatte, unterstrich diese Annahme, aber er wirkte trotzdem äußerst aufgeweckt und machte es ihr irgendwie so einfach mit ihm in eine Art Plauderton zu verfallen.

Innerlich amüsierte er sich königlich über die Art, wie sie seinen Blicken auswich, aber er musste zugeben, er respektierte ihre Bemühungen, dieses Interview von A nach Z durchzuziehen, egal wie oft er sie offensichtlich aus dem Konzept brachte. Es war nicht so, dass er es in diesem Fall unbedingt darauf anlegte, sie ins Bett zu kriegen, aber er wollte dennoch herausfinden, ob er es könnte. Und dass er es offensichtlich nicht so einfach konnte wie sonst, machte sie in seinen Augen umso attraktiver. Das war mal was anderes. Er hatte eigentlich nicht einmal so wirklich Lust genervt zu sein.

„Du hast das noch nicht besonders oft gemacht, oder?“ Er stellte das leere Glas zurück auf den Tisch und zwinkerte ihr zu. Linnea, die noch in dem Interview feststeckte obwohl ihr längst die Fragen ausgegangen waren, sah nicht auf. „Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“ So konnte sie auch nicht sehen, dass er grinste. „Beides – nehme ich an.“ Sie seufzte und hob den Kopf, um ihn doch etwas schief anzusehen. „Und was bringt dich zu dem Schluss?“ Hatte sie sich tatsächlich so daneben benommen? Eigentlich hatte doch alles ganz gut funktioniert. „Nun, sagen wir es so“, zündete er sich eine weitere Zigarette an. „Ich hatte schon so manche Journalistin mir gegenüber und du bist ihnen nicht annähernd ähnlich.“ Irgendwie wurde sie den Gedanken nicht los, dass er eigentlich hatte sagen wollen, dass er sie im Bett gehabt hatte. „Okay... ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment“, schloss sie, doch Haydn grinste wieder und schüttelte langsam den Kopf. „Das solltest du auch“, antwortete er dann und rieb sich die Nase. „Ich gestehe, ich war nicht so genervt von deiner Anwesenheit wie es vielleicht gewirkt hat.“ „Du musst immer das letzte Wort haben, richtig?“ Sie rieb sich die Augen. „Mit Vorliebe, ja. Dumm nur, dass mein Bruder Christian auch darauf besteht.“ „Na, dann kannst du das jetzt haben“, nickte sie langsam. „Auf meinen Karten stehen keine Fragen mehr.“ Damit warf sie die Karten achtlos auf den Tisch und griff nach ihrem Glas. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Zu spät sah sie, dass Haydn sie sich holte. Oh verdammt, die Dinger sahen ja furchtbar aus! „Huh, ich sitze hier eindeutig einer geborenen Ärztin gegenüber – die verdammt feuchte Hände hat.“ „Eigentlich“, streckte sie ihm die Hand entgegen, „waren sie ja auch nicht für deine Augen gedacht.“ Sie wollte damit bewirken, dass er sie ihr wiedergab, aber er erheiterte sich gerade zu sehr damit, sie durchzusehen.

„Hey“, rief er dann plötzlich aus und hielt eine Karte hoch. „Die Frage hast du mir ja gar nicht gestellt!“, setzte er sich auf. „Welche?“ Sie hatte sich über den Tisch gebeugt, um ihm die Karten nötigenfalls mit Gewalt zu entreißen, doch er schlug ihr einfach auf die Finger. „Glaubst du an die große Liebe?“ „Wie bitte?“ „Das steht da“, stand er auf und ging zum Fenster. „Glaubst du an die große Liebe. – Wieso hast du mich das nicht gefragt?“ Sie stand ebenfalls auf und ging um den Tisch herum. „Es hat sich nicht ergeben.“ Sie schaffte es, ihm die Karten wegzunehmen und stopfte sie eilig in ihre Tasche. „Wie?“, nahm er einen tiefen Zug. „Du willst gar nicht wissen, wie es um mein Liebesleben steht? Himmel, kann das denn wahr sein?“ Er stieß den Rauch ganz langsam durch die Nase aus und musterte sie, um ein Zeichen von Ertapptheit zu finden. „Wieso sollte ich dich etwas fragen“, zuckte sie die Schultern, „worauf du sowieso keine ehrliche Antwort gibst?“ Sie hörte Oscar leise lachen, während er seine Kamera wegpackte. „Hmm, das ist natürlich eine gute Frage“, nickte Haydn und schnippte Asche in den Aschenbecher auf dem Fensterbrett. „Okay, das sehe ich ein. – Aber falls dein Boss dich fragen sollte, sag ihm einfach: ja.“ Sie hob den Kopf. „Ja, was?“ „Einfach: ja!“ „Ooookaaay...“ Sie nahm das Diktiergerät vom Tisch, um es ebenfalls in ihre Tasche zu stecken. Oscar und sie waren nun bereit zu gehen – und je früher desto besser.

„Wartet, ich komme noch schnell mit runter“, drückte Haydn eilig seine Zigarette aus. „Ich brauche einen Spaziergang.“ Noch bevor Linnea etwas sagen konnte hatte er die Stiefel von sich gekickt und warf einen viel zu großen Wollpullover über. „Den habe ich mir jetzt verdient“, stieg er in ein Paar ausgetretene Sneakers und öffnete die Tür. Oscar und Linnea folgten ihm etwas verdutzt den Gang hinauf zum Lift. War das gerade Traum oder tatsächlich Wirklichkeit? Es war, als hätte er gerade innerhalb einer Sekunde die Persönlichkeiten gewechselt. Und obwohl er sein Outfit aufgelöst hatte, sah er immer noch unglaublich sexy aus wo jeder andere lächerlich gewirkt hätte.

Auf der Fahrt nach unten studierte Haydn sein Spiegelbild und zupfte an seinen Haaren. „Gott, ich sehe aus wie ein Clown, der von der Arbeit kommt“, stieß er aus und fuhr dann herum, als hätte er tatsächlich für einen Moment vergessen, dass er nicht alleine war. „Findest du, ich habe die Figur für solche Hosen?“ „Erm… ?“ Redete er jetzt tatsächlich mit ihr? „Ach nichts.“ Der Lift war unten angekommen und Haydn ließ ihnen den Vortritt. „Danke für das Interview“, drehte Linnea sich eilig um und streckte ihm die Hand entgegen. Jetzt war er es, der für einen Moment stutzte und zögerte, auf ihre rasche Verabschiedung einzugehen. „Erm, ja... Gern geschehen“, nahm er an, nur um sich dann wieder zusammen zu reißen und ihr die Hand zu küssen. Linnea entzog sie ihm schnell, bevor sich ihre Blicke trafen und steuerte eilig auf die Ausgangstür zu, wo Oscar bereits auf sie wartete. Nur nicht wieder umdrehen!

Haydn blieb am Aufzug stehen und sah ihr nach. Als sie etwa die Hälfte der Empfangshalle durchquert hatte, kam plötzlich Bewegung in ihn. „Hey“, rief er ihr nach. „Muss ich noch mal so ein langweiliges Interview über mich ergehen lassen, oder können wir das auch so wiederholen?“ Sie schluckte und zwang sich stehen zu bleiben. Wider besseren Wissens drehte sie sich halb zu ihm herum. „Ich arbeite im Musikbusiness“, setzte sie an, „und du arbeitest im Musikbusiness.“ Sie musste raus hier! „Irgendwann läuft man sich da bestimmt wieder über den Weg.“ Bevor sie sich erneut zum Gehen wenden konnte, spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, die sie zurück hielt. „Eigentlich habe ich nicht das gemeint...“ Er war ihr so nah, dass sie sein Aftershave riechen konnte und obwohl alles in ihr sich dagegen wehrte, drehte sie sich ganz zu ihm. „Und was hast du dann gemeint?“ „Na ja...“, legte er seine Arme um ihre Hüften. „Ich will es mal so ausdrücken...“

„Wow, was für ein Kuss!“ Oscar stieg neben ihr ins Taxi und drückte einen Knopf auf seiner Kamera. Linnea, die den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen hatte, schnellte hoch. „Hast du davon etwa Fotos gemacht?“, kam sie augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. „Hey“, zuckte er die Schultern, „solche Bilder kriegt man nicht oft.“ „Gib das sofort her!“ Sie riss ihm die Kamera aus der Hand, wurde aber sofort von den vielen Knöpfen zurückgeworfen und musste sie sich von Oscar wieder abnehmen lassen. „Keine Sorge“, beruhigte er sie. „Die wird niemand zu sehen kriegen. – Ich dachte nur, du willst vielleicht ein hübsches Andenken haben.“ Andenken? Wollte er gerade lustig sein? „Bist du wahnsinnig? Du weißt, dass ich eine Beziehung habe! Ich glaube nicht, dass Albin sich darüber freuen würde.“ „Na und?“ Der junge Mann stopfte die Kamera zurück in seine Tasche und lehnte sich zurück. „Er hat dich doch nur geküsst. Sieh es einfach als nette Zugabe. – Oder küsst er etwa so schlecht?“ Nein... „Das ist doch völlig egal!“, wehrte sie eilig das Gefühl ab, das in ihr aufsteigen wollte. „Tatsache ist, dass er es getan hat, ohne mich um Erlaubnis zu bitten.“ „Denkst du, ein Haydn Cavendish fragt, ob er ein Mädchen küssen darf? Sein Ruf kommt nicht von irgendwo!“ „Ja genau!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Er ist ein arroganter... Ach, ich finde gar keine Worte!“ „Wenn du das sagst...“

Die Wohnung lag längst im Dunkeln, als Linnea die Tür aufschloss und ins Zimmer schlich. Leise zog sie die Schuhe aus und legte die Tasche auf die Couch, bevor sie sich eilig ins Badezimmer zurückzog, um laut aufseufzen zu können. „Ooooooh Gott!“, sank sie auf den Rand der Badewanne und legte den Kopf in den Nacken. Das war wohl der verrückteste Abend ihres Lebens gewesen und das Schlimmste war, dass sie seine Lippen immer noch auf den ihren spürte. Sie hievte sich hoch und rieb sich das Gesicht mit Seife ab, bevor sie das Kleid unachtsam über den Kopf zog und unter die Dusche stieg, wo sie sich einfach heißes Wasser über den Körper laufen ließ, bis sie vor Übermüdung beinahe umgekippt wäre. Dann griff sie nach einen Badetuch und rieb sich ab, bis ihre Haut gerötet war, bevor sie sich die Zähne putzte und ins Badetuch gewickelt zum Bett huschte, wo sie ein Paar Unterhosen aus dem Schrank suchte und dann ihr Nachthemd überzog. Wenn sie den Anfall von Müdigkeit ausnutzte, würde sie vielleicht gleich einschlafen und morgen war das alles nicht passiert. Albin hatte das Gesicht zur Wand gedreht und schien nicht mitzubekommen, dass seine Freundin hinter ihm unter die Decke schlüpfte.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Obwohl sie bestimmt eine Schicht Haut von sich geschrubbt hatte, spürte sie immer noch seine Hand auf ihrem Arm, in ihrem Nacken, seine Lippen auf den ihren. Auf der Decke, auf die sie starrte, projizierten sich Bilder und Gedanken und erhöhten ihren Puls bis zu einem Punkt, an dem sie das Gefühl hatte zu ersticken. Ihre Ohren begannen zu rauschen und sie musste die Decke loswerden. Was war bloß los mit ihr? Warum machte sie sich so viele Gedanken darüber, was passiert war? Oscar hatte ganz Recht: Es war nur ein Kuss - es hatte nichts zu bedeuten, wenn er von Haydn Cavendish kam. Aber das war es nicht allein. Es war nicht nur, dass sie verstört und verärgert war. Dazu waren ihre Gedanken viel zu unanständig. Der Teenager in ihr jubilierte geradezu: Sie hatte einen Rockstar geküsst!

Sie drehte sich zu Albin und folgte dem Umriss seines schlafenden Körpers im Zwielicht der Straßenlaternen, die selbst hier oben noch durchs Fenster schienen. Zu gerne hätte sie sich jetzt in seine Arme gekuschelt, um sich wieder sicher zu fühlen, aber da gab es ein gravierendes Problem: Sie hatte genau das getan, wovor er sie gewarnt hatte – sie war auf Haydn Cavendishs Charme hereingefallen. Albin und sie hatten kaum mehr ein Wort darüber verloren, seit sie das Interview angenommen hatte, aber wenn sie ihm jetzt sagte, dass sie sich hatte küssen lassen, konnte sie gleich aufstehen und anfangen ihre Sachen zusammenzupacken.

„Ah förbannat!“ Sie warf die Beine über die Bettkante und versuchte durch Gähnen ihre Ohren freizukriegen. Halblind tappte sie zum Sofa und ließ sich darauf fallen. Ächzend nahm sie ihre Tasche und kramte nach ihren Notizen und dem Diktiergerät. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, konnte sie ebenso gut ein bisschen Arbeit erledigen. Vielleicht würden dann die Bilder in ihrem Kopf verschwinden, wenn dieser Alptraum endlich abgeschlossen auf Karlas Tisch lag.

 

Sie knipste das Licht neben dem Sofa an und steckte ihre Kopfhörer ans Diktiergerät, um Albin nicht zu wecken. Doch je länger sie zuhörte, desto unruhiger wurde sie. Nicht, weil es tatsächlich ein ganz anständiges Interview geworden war, vielmehr begann sie plötzlich zwischen den Zeilen zu lesen. Du lieber Himmel, das konnte sie unmöglich alles drucken! Sie klang ja manchmal wie ein blauäugiger Teenager! Niemand, niemand, durfte das je zu hören bekommen!