Slow Dancing In A Burning Room

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5

Linnea lag im Bett und starrte wachen Auges an die Decke. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so munter gefühlt, obwohl sie eigentlich unglaublich erschöpft war. Aber ihr Kopf wollte sich einfach nicht zur Ruhe betten und sie wälzte sich so lange hin und her, bis sie Angst bekam, Albin aufzuwecken und seufzend die Decke zurückschlug. Ihre Füße tasteten nach ihren Pantoffeln und sie tapste zur Couch. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, dann konnte sie die Zeit genauso gut nutzen und sich ein bisschen mit ihrem Job vertraut machen. Auch wenn sie für die Universitätszeitung geschrieben hatte, so wusste sie doch viel zu wenig darüber, wie man ein Interview führte. Man konnte ja nicht einfach irgendwelche Fragen stellen. Und was, wenn man vom Thema abkam? Etwas, das bei ihrem Partner mehr als zu erwarten war.

Das Büro hatte ganze Arbeit geleistet. Die Mappe, die Karla ihr so bestimmt zugeschoben hatte, war voll mit Zeitungsartikeln, Interviews und Fotos des kanadischen Topmodels und Sängers, der so viele Gerüchte auslöste und über den man doch so wenig wusste. Außerdem fand Linnea auch die Special Edition des ersten Albums Murders They Sang. Ihre Mutter hatte die Cd eines Tages mit in ihre Wohnung gebracht und erklärt, sie hätte noch nie einen derart heftigen Orgasmus gehabt. Allein diese Aussage hatte Linnea bislang davon abgehalten, die Musik tatsächlich zu hören. Das und die Tatsache, dass ihre Mutter ihre unsterbliche Liebe zu ihrem Sänger geäußert hatte. Aber wenn sie nicht gefeuert werden wollte, musste sie dem Album wohl oder übel eine zweite Chance geben. Und jetzt war genauso gut Zeit dafür.

Sie beugte sich also erneut nach ihrer Tasche und holte ihren treuen Begleiter – ihren Discman – heraus. Ihre Zehen wickelte sie in die alte Häkeldecke, die ihr ihre Oma geschenkt hatte und sie schob sich ein Kissen ins Kreuz. Vielleicht würde die Musik ihr bei ihrem Auftrag helfen.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, völlig davon abgelenkt zu werden. Es war unmöglich, sich auf Interviewfragen zu konzentrieren, sobald Haydn Cavendish zum ersten Mal den Mund öffnete. Seine Stimme in all ihren Facetten, Höhen und Tiefen, hatte etwas Hypnotisierendes. Sie war voll, wie die eines Opernsängers, rau, wie die eines Rockstars und weich wie die eines Folksängers und es war fast unmöglich zu glauben, dass es immer ein und dieselbe Person war. Agents Provocateurs schienen sowieso in kein Muster zu passen: Sie waren zu flamboyant für Rock, aber kein Glam; viel Flöte und Violine, aber kein Folk; Alternative Riffs, aber kein Indie. Und jeder Einzelne von den Mitgliedern beherrschte seine Sache beinahe schon zu perfekt. Diese perfekte Illusion wurde allerdings durch die Texte zerstört, die leidenschaftlich, roh und metaphorisch daherkamen.

6

„Linn?“ Etwas berührte ihre Schulter und sie schreckte hoch. „Oh, sorry“, setzte Albin sich zu ihr. „Habe ich dich geweckt?“ War sie eingeschlafen? Hatte sie geträumt? „Erm… Ich…“ „Was hast du denn mit Haydn Cavendish zu schaffen?“, hob Albin die Ausgabe des Spin Magazins vom Boden auf und Linnea nahm die Kopfhörer ab. „Oh, erm… Er ist mein Interviewpartner.“ „Cavendish?“ „Ja. Seine Band gibt am Wochenende ein Konzert in Stockholm.“ Sie konnte das alles ja selbst noch nicht ganz begreifen, aber es klang einfach viel zu gut, um es nicht auszusprechen, auch wenn sie gleichzeitig hoffte, dass er die Panik in ihrer Stimme überhörte. „Karla hat dich ausgesucht, um Haydn Cavendish zu interviewen?“, war es aber mehr seine Stimme, die etwas panisch klang und Linnea zog die Stirn kraus und musterte ihren Freund einen Augenblick. Dann lachte sie. „Du bist eifersüchtig.“ „Eifersüchtig?“, warf Albin das Magazin etwas zu heftig auf den Couchtisch. „Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Ich bin wütend.“ Ja, aber… „Albin…“, verstand sie im Moment überhaupt nichts mehr. „Wie kann Karla nur von dir verlangen, dass du Haydn Cavendish interviewst? Du weißt, dass ich mal bei einem seiner Shoots für Cartier anwesend war.“ Ja, sie erinnerte sich, auch wenn sie den Namen damals nicht wirklich in irgendeinen Zusammenhang gebracht hatte. „Und er ist danach mit zwei der Assistentinnen einfach aus der Tür marschiert.“ „Aber, Käraste“, legte Linnea da fast so etwas wie erleichtert ihre Arme um ihn. „Hast du etwa Angst, dass ich auch mit ihm ins Bett gehen würde?“ „Er schafft das, Linn“, wehrte Albin warnend ab. „Er ist unglaublich charmant, er hat sogar mich für sich eingenommen – bis zu dem Augenblick, als die Kameras aus waren.“ „Du denkst also wirklich“, ließ sie wieder von ihm ab, „dass ich mit einem Haydn Cavendish ins Bett gehen würde, nur weil er glaubt er kann? Vielen Dank auch“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und Albin seufzte und streichelte flüchtig über ihre Wange. „Natürlich nicht. Aber ich will nicht, dass er mit meiner Freundin auch nur flirtet!“ Er stand auf und sah bestimmt auf sie hinunter. „Du wirst Karla sagen, dass du das Interview nicht machen kannst!“ „Albin!“ „Und sie soll sich jemanden suchen, der professionell genug ist!“ „Albin, das könnte mich meinen Job kosten!“ „Dann bewirbst du dich eben wo anders. Aber du wirst nicht allein mit Haydn Cavendish in einem Raum sein!“




7

„Haydn!“ Er lag auf der Bank, die Augen hinter der Sonnenbrille geschlossen und klopfte mit den Fingern im Takt zu „You Shook Me All Night Long“ auf seinem Bauch. „Haydn! Hoch mit dir, das Meeting hat längst begonnen!“ Freddy Hampton versetzte seinem Schützling einfach einen Tritt gegen die Hüfte, was diesen hochschrecken ließ. „Autsch! Das hat wehgetan!“ Haydn rieb sich die Stelle und Freddy nahm ihm die Hörer ab. „Das sollte es auch, Graf Dracula. Wir haben hier eine Besprechung bei der du auch geistig anwesend sein solltest und nicht deinen weiblich bedingten Schlafmangel aufholen.“ Die anderen im Raum grinsten und Haydn gähnte lange. „Ja ja, schon klar.“ Er rappelte sich hoch und schleppte sich dann zu Lafayette, vor dem er auf den Boden sank und sich an dessen Knie lehnte. Freddy schüttelte nur den Kopf und setzte sich wieder. Er liebte den Jungen, das Leben wäre nur manchmal viel einfacher ohne ihn – wenn auch langweiliger.

„Okay, also Folgendes...“ Conny Lowe, Presseagentin, klappte ihren Notizblock auf, in dem sie alle Termine und Pläne festhielt. „Ihr habt morgen Vormittag frei...“ Leises Johlen aus den Reihen der Musiker. „Zwischen eins und vier gebt ihr dann Interviews an verschiedene Magazine“, ignorierte sie es professionell. „Sagt ein paar nette Dinge über Europa und Schweden – so Zeug eben. Und rührt ein bisschen die Werbetrommel für euer neues Album. – Haydn, du hast um fünf ein Einzelinterview mit einer Journalistin von Sonic.“ „Wie bitte?“ Der Angesprochene schob die Sonnenbrille nach oben und blinzelte. „Die schicken jemanden, um dich persönlich zu interviewen. Über Mode und Musik – das Übliche eben.“ „Ah merde! Muss das denn sein?“ Die Brille rutschte wieder nach unten und er lehnte seufzend den Kopf zurück. Lafayette fuhr ihm durch die Haare und beugte sich dann nach vor, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. „Ja, Teddybär, das muss sein.“

„Ich würde sagen, ihr schlaft euch heute Nacht mal aus.“ Dabei warf Freddy einen Seitenblick auf Haydn, der sich daraufhin mit dem Mittelfinger die Nase rieb. „Ihr hattet schon länger keine zwei freien Abende mehr hintereinander, aber da ihr die nicht freien immer bis zum Exzess ausnützt, könntet ihr euch heute und morgen ausnahmsweise ein bisschen erholen.“ „Und was sagen wir, wenn man uns zu Hause fragt, was wir von Stockholm gesehen haben?“, hob Barclay Stewart, Bassist, die Hand. „Die Hotelbetten?“ „Vielleicht gibt es an der Rezeption passende Ansichtskarten“, feixte Bobby und die anderen lachten. „Dürfen wir uns wenigstens ein bisschen Gesellschaft holen?“, fragte Ian dann und zog an seiner Zigarette. Freddy seufzte und schlug seine Mappe zu. „Wäre es wirklich zu viel verlangt, wenn ihr euch einmal anständig benehmen würdet?“ Ja, das wäre es. Freddy hatte schon als Jungspund in den Achtzigern mit Rockbands gearbeitet und die Jungs vor ihm füllten deren Fußstapfen sehr gut. Der Grund warum er bei ihnen blieb und sich bedingungslos um sie kümmerte war, dass sie ihn abgöttisch liebten und sie ihn letztlich immer am längeren Ast sitzen ließen.

„Also, ich hätte jetzt nichts gegen ein paar hübsche Mädchen einzuwenden.“ Haydn stützte sich auf Bobby und sie folgten den anderen aus dem Zimmer, um sich in der Stadt auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. „Daran zweifelt niemand“, grinste der Schlagzeuger und schubste seinen Bandleader den Gang hinunter.

Sie fanden ein kleines Pub in der Hinterstraße, in die sie geflüchtet waren, nachdem sie dem Menschenauflauf vor dem Hotel entkommen waren. Gott sei Dank waren sie noch nicht so berühmt, dass sie nicht ein paar Ecken weiter nur mehr eine Gruppe Jungs waren, die zusammen den Nachmittag durchbrachten.

„Ich hab gelesen, dass die Skandinavier ihre Hauptgänge süßen und ihre Nachspeisen salzen“, schlug Thierry Carey, Kopf der Roadie-Truppe und persönlicher Freund der Band, die Speisekarte auf. „Du solltest nicht immer so viel lesen“, stieß ihn Barclay an und blätterte sich durch die Karte. „Aber hier kann ich schon mal gar nichts lesen. Was soll denn das für eine Sprache sein?“ „Schwedisch“, lachte der restliche Tisch unisono. „Ja ja“, zuckte Barclay nur die Schultern und sah auf. „Du, Cav, du kannst doch eine Sprache. Lies mal vor.“ Haydn zog die Augenbrauen hoch. „Ja, du hörst sie mich gerade sprechen.“ Wieder lachten alle und Barclay zeigte ihm die Zunge. „Ich meine doch so irgendwas Ähnliches wie Schwedisch.“ „Holländisch.“ „Ja, genau. Holländisch.“ „Hier steht’s doch auch auf Englisch.“ „Aber ich möchte mal hören, wie diese Sprache klingt.“ Haydn grinste und seufzte resignierend. „Okay... Aber auf eure Verantwortung.“ Er beugte sich über die Karte und versuchte dann, das Kauderwelsch vor ihm mit aufgesetztem Akzent auszusprechen, was den ganzen Tisch in erneutes Gelächter versetzte und die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zog, der dann doch besser Englisch sprach als Haydn Schwedisch.

 

Später am Abend waren sie alle brav auf dem Zimmer – auf Haydns, wenn man es so genau nehmen musste. Thierry hatte ihnen tatsächlich ein paar Mädchen organisiert und die Jungs jammten ein bisschen und gruben alte Klassiker aus, während die Mädchen kreischend und johlend durchs Zimmer tanzten und keinen Hehl daraus machten, dass sie zu haben waren. Hätte dieses Hotel bereits eine Passage in der Rockgeschichte, so würde diese nun eine Renaissance erleben.

Freddy hatte es aufgegeben zu versuchen, seine Jungs ins Bett zu stecken und saß in einer Ecke, eine Flasche Wein und eine Zigarre in der Hand und träumte davon, noch einmal so jung sein zu können, dass ihn die Mädchen beachten würden. Haydn hatte sein Hemd ausgezogen und hatte seine Hände unter dem Kleid des brünetten Mädchens mit einer Lederjacke und den Lammfellstiefeln im Spätsommer, während sie so eng tanzten, dass er ihre harten Nippel durch ihren BH an seiner Brust spürte. Sie hatte eine Stupsnase und grüne Augen und obwohl sie nicht das hübscheste Mädchen im Raum war, hatte Haydn sie sofort für sich beansprucht, nachdem sie eine Flasche Bier fast in einem Zug hinuntergestürzt hatte, obwohl ihr dabei der Schaum übers Kinn gelaufen war und sich danach seine Gitarre gegriffen hatte, um einfach mit Lafayette mitzuspielen, der Slades „Come on Feel the Noize“ angestimmt hatte. Nicht alle Akkorde waren richtig, aber sie lachte einfach darüber und alle anderen sangen lauthals mit, also hörte es niemand. „We get wild, wild, wild…“, ließ sie sich umfallen und sprang dann auf, um mit den anderen durchs Zimmer zu springen. Haydn liebte Frauen, die etwas Besonderes hatten. Dass sie offensichtlich nicht nur mitgekommen war, um mit einem Bandmitglied zu schlafen, sondern um ihren Spaß zu haben, fand er unglaublich attraktiv. Was nicht hieß, dass er nicht spürte, wie sie in seinen Armen sofort weich wie Butter wurde und nichts dagegen unternahm, dass er ihren BH unter ihrem Kleid öffnete und seine Zunge mit der ihren spielen ließ. Eine Hand lag auf ihrer Brust, die andere vergrub er in ihrem dicken Haar, während sie sich zur Musik von Led Zeppelin bewegten.

„Come on!“, flüsterte er an ihrem Ohr und griff nach ihrer Hand. „Was hast du vor?“, sahen ihn die grünen Augen an und er küsste sie erneut. „I’m gonna fuck you“, nahm er auch die zweite Hand und führte sie rückwärts aus dem Zimmer in den Flur hinaus. Dort drückte er sie an die Wand und küsste sie, dass keine Fragen offen blieben. „Nicht hier“, machte sie sich jedoch von ihm los und er öffnete eine Tür zu einem Zimmer. Den Schlüssel hatte er sich schon zu Beginn des Abends geborgt. Auf dem Bett setzte sie sich auf ihn und zog mit einer einzigen raschen Bewegung ihr Kleid über den Kopf. „Okay. Fuck me!“



8

„Das ist gut, Linn.“ Karla ließ die letzte Seite sinken und sah die junge Frau ihr gegenüber an. „Es ist allerdings nicht unbedingt das, was ich mir vorgestellt habe, da muss ich ganz ehrlich sein.“ Linneas Herz rutschte ihr bis zu den Knien und ihr wich alle Farbe aus dem Gesicht. Sie hatte ihr Herzblut in dieses Interview gesteckt. Das heißt, sie hatte sich wirklich und ehrlich bemüht, aus der Sache keine 08/15-Angelegenheit zu machen. Darin steckte alle Erfahrung, die sie hatte aufbieten können – und alle Zeit. Aber sie hatte eben keine Übung als Journalistin und schon gar keine mit Interviews, aber sie hatte sich gedacht, dass es Fragen waren, die sie gerne von einem Star beantwortet gehört hätte. Wozu sollte man sonst noch ein Interview geben, wenn man doch ständig immer nur dieselben Sätze zu hören und zu sagen bekam?

„Na, ich denke, es ist zwar nicht unbedingt ein Interview für eine Musikzeitschrift“, las Karla die Verzweiflung in ihrem Gesicht, „aber es hat durchaus Potential – und ich mag deinen Stil, einfach, geradeheraus. Vielleicht sollten wir ein bisschen auf Risiko spielen.“ Ihr Herz hievte sich wieder keuchend bis in die Magengegend. „Wenn du dich denn tatsächlich traust, mit dem Jungen so auf Tuchfühlung zu gehen.“ Verdammt! Wie hatte sie nur den größten Haken an der Sache vergessen können? Haydn Cavendish. Sie kannte ihn zwar nicht, aber sein Ruf war ihm mehr als vorausgeeilt und dieser besagte, dass Haydn Cavendish persönliche Fragen meist weder beantwortete, noch einen Hehl daraus machte, was er von ihnen hielt.


„Ist sie nicht eine großartige Chefin?“ Kristina ließ sich Linnea gegenüber in den Sitz fallen und blies sich die Haare aus der Stirn. „Sie hätte dich zumindest ein bisschen mehr aufbauen können.“ „Hey“, hob Linnea die Hand, „ich kann schon von Glück reden, dass sie mir das Interview nicht noch im letzten Moment weggenommen hat!“ Sie schob ihren Rucksack unter den Sitz und lehnte sich zurück. Der Zug rollte langsam an und die Gleise quietschten. „Immerhin hat sie Recht: Mit Musik hat es leider wirklich nicht viel zu tun.“ „Ach Papperlapapp!“, winkte Kristina ab. „Über ihre Musik liest man eh alle Daumen lang – dafür sind die Kritiker zuständig. Aber aus Haydn Cavendish etwas Privates rauszuquetschen, das ist die wahre Meisterleistung.“ „Dann muss ich das erst einmal schaffen.“ „Hey, du hast Charme, du hast ein gewinnendes Lächeln – und du hast einen Sturkopf. Er wird sich hüten, dir irgendwelche Probleme zu machen.“ Linnea grinste – und sie war fast gewillt, sich überzeugen zu lassen. „Möchtest du nicht als mein Bodyguard mitkommen?“ Doch Kristina schüttelte den Kopf, so reizvoll das Angebot für sie auch war. „Dafür hast du Oscar. Der ist der Beste in der Redaktion.“ „Aber für ein gutes Foto von Cavendish und seiner neuesten Eroberung würde er sich bestimmt auch nicht lumpen lassen.“

Die Umgebung wurde ländlicher und Linnea begann, die Anspannung der Arbeitswoche und vor allem der letzten Tage ein bisschen abzuschütteln. Wochenenden bei ihrer Mutter waren immer eine nette Abwechslung. In dem kleinen Haus mit Garten ihrer Kindheit hatte sie genug Raum zum Denken. Nicht nur deshalb flüchtete sie sich gern dorthin, wenn es ihr mit Albin in der kleinen Dachgeschosswohnung in Stockholms Zentrum wieder einmal ein bisschen zu eng wurde. Auch wenn sie ihm zugestehen musste, dass er sich in den letzten Tagen nach anfänglichen Protesten doch sehr kooperativ gezeigt hatte. Soll heißen: Er hatte sie in Ruhe gelassen – oder war ihr zumindest nicht mit negativen Kommentaren im Weg gewesen. Trotzdem hatten gerade diese Tage ihr wieder einmal gezeigt, wie angespannt ihre Beziehung war. Sie musste ja auch unglaublichem Druck standhalten, immerhin war jeder außer ihnen selbst davon überzeugt, dass sie demnächst vor den Traualtar treten würden. Okay, sie sollte vielleicht nicht für Albin sprechen, sie kannte seine Intentionen nicht so genau – und das sagte schon sehr viel aus.

„Gib doch zu, dass es einen gewissen Reiz hat zu wissen, dass der morgige Abend mit einem Kuss von Haydn Cavendish enden könnte“, zwinkerte Kristina und nahm ihre Jacke und Linnea stand ebenfalls auf. „Unbedingt“, nickte sie bestimmt und hängte ihren Rucksack um. „Nur deshalb habe ich den Job angenommen. – Gott, meine Mutter wäre so unglaublich stolz auf mich.“ Die Zugtüren öffneten sich und Linnea sprang auf den Bahnsteig. Kristina folgte ihr etwas gesitteter. „Na siehst du! Und wenn du es nur deiner Mutter zuliebe tust!“ „Ha-ha!“


„Ach ja, bevor ich’s vergesse...“ Agneta lehnte sich zurück und ließ sich die letzten Sonnenstrahlen ins Gesicht leuchten. „Harald kommt heute noch vorbei.“ „Wer?“ Sie hob wieder den Kopf. „Harald, der Junge den ich beim Uhrenshoot getroffen habe.“ „Ah ja der!“ Wer? „Also, was ich eigentlich sagen wollte: Könntet ihr Mädchen euch nach oben verziehen? Zumindest so lange bis wir im Schlafzimmer sind.“ Kristina und Linnea warfen sich einen vielsagenden Blick zu. „Natürlich Aggie, alles was du willst.“ Sie lachten, es ging nicht anders, auch wenn Linnea innerlich aufseufzte und den Gedanken von sich schüttelte, dass der Junge, wie Agneta ihn bezeichnete, wahrscheinlich ihr kleiner Bruder sein könnte.

„Glaubst du, deine Mutter schleppt noch arme unschuldige Schulkinder ab, wenn sie sechzig ist?“ Kristina ließ sich auf Linneas Bett fallen und begann in ihrer Tasche zu kramen. Linnea stand vor dem Spiegel und kämmte sich. „So lange sie sich dann nicht an den Schulfreunden ihrer Enkel vergreift, soll’s mir Recht sein.“ Na ja, das war ein klein bisschen gelogen. „Welche Enkelkinder...? Oh!“ Sofort schnellte sie wieder hoch. „Enkelkinder! Der Tag ist schon bald vorüber und du rückst erst jetzt damit raus?“ Sie sprang auf und warf sich ihrer Freundin an den Hals. Diese verdrehte allerdings nur die Augen und schob sie von sich. „Ich bin nicht schwanger, Kris.“ „Oooooch.“ Kristina setzte sich schmollend zurück aufs Bett. „Und ich dachte schon, ihr beide wärt endlich den nächsten Schritt gegangen.“ Nein, nein, nein, nicht das Thema schon wieder. Linnea knöpfte ihre Bluse auf und griff nach ihrem Pyjama. „Der nächste Schritt wäre zu heiraten“, konterte sie dann und schubste Kristina vom Bett. „Das ist doch nur mehr eine Formsache. Und heutzutage überflüssig.“ Kristina kroch unter die Decke des Klappbetts und klopfte ihr Kissen zurecht. Sie fand es immer noch ganz amüsant, mit ihrer Freundin im selben Zimmer zu schlafen, obwohl es ein Gästezimmer gab. Es war wie in ihrer Kindheit – obwohl sie sich damals noch nicht gekannt hatten. „Gute Nacht, Kris!“ Linnea machte das Licht aus. „Gute Nacht, Linni!“


9

Sie kaute gedankenverloren an einer Haarsträhne, während sie mit verzweifeltem Blick den Inhalt ihres Kleiderschranks scannte. Auf dem Bett hatte sie bereits einige Outfits ausgelegt und dann doch gleich wieder verworfen. Die Kleiderfrage war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Früher war das so einfach gewesen: Ein Top, Jeans und ganz viel Schmuck. Aber sie konnte schlecht wie ein Punk zu dem Interview erscheinen. Oder doch? Immerhin war die Band auch nicht gerade Mainstream.

„Sinnkrise?“ Im rettenden Augenblick tauchte Albin hinter ihr auf und legte seine Arme um ihre Hüften. Linnea zuckte erschrocken zusammen und brachte Albin damit zum Lachen. Linnea war allerdings längst viel zu genervt, um ihre Situation lustig zu finden und sie wand sich aus seiner Umklammerung. Albin wollte keinen erneuten Streit provozieren und schob einen Berg Wäsche zur Seite, um sich aufs Bett setzen zu können. „Ich bin früher nach Hause gekommen, um dir für dein Interview viel Glück zu wünschen...“ „Hallooo!“ „Allerdings musste ich auch deine Mutter herein lassen...“

Agneta spazierte fröhlich zur Tür herein und gesellte sogleich zu ihrer Tochter und betrachtete deren Spiegelbild in der Schranktür. „Wusst ich’s doch, dass du ohne mich völlig verloren sein würdest.“ Damit überreichte sie Linnea mit einem selbstbewussten Lächeln einen Kleidersack. „Und keine Sorge, es ist nur aus dem Büro geliehen.“ Linnea nahm etwas skeptisch an und öffnete den Reißverschluss. Zum Vorschein kam ein dunkelblaues Etuikleid – spießig – mit tiefem Ausschnitt – sexy - und Nieten an Kragen und Gürtel – lässig. „Mamma...“ „Du brauchst nichts zu sagen“, wehrte Agneta sofort ab. „Ich weiß doch, dass mein Kind nicht meinen Sinn für Stil geerbt hat.“ Nein, den hatte sie eindeutig von ihrem Vater. Rock und T-Shirt waren schon Abendgarderobe. Es war das was man als Ironie bezeichnete, dass sie mit zwei absoluten Modefreaks zusammen lebte.

„Mach schon, zieh es an!“, drängte Albin und Linnea beeilte sich, sich aus dem Handtuch zu schälen, das sie nach dem Duschen eilig umgewickelt hatte. Agneta hatte bereits mit dem sicheren Gespür einer Modejournalistin einen BH aus der Kommode gezogen und half dann ihrer Tochter dabei das Kleid überzuziehen. „Wow“, staunte Albin, als Agneta den Reißverschluss zuzog und Linnea sich vor dem Spiegel hin und her drehte. „Ich weiß nicht, ob ich dich so zu einem Interview mit Haydn Cavendish gehen lassen kann.“ „Ach Unsinn!“, schüttelte Agneta den Kopf. „Hör nicht auf ihn, Kind. Du siehst fantastisch aus und er wird sich hüten, dich anzufassen.“ Dann suchte sie die passenden Schuhe aus einer der anderen mitgebrachten Tüten. Schwarze Ankleboots mit zwei sich überkreuzenden Nietenbändern. Gerade hoch genug, um Linnea die perfekte Silhouette zu verpassen, ohne dass sie dabei über ihre eigenen Füße stolperte.

 

„Aber was mach ich mit den Haaren?“, drehte sie sich schließlich herum und sah von ihrer Mutter zu Albin. Als Teenager – in ihrer 80s Rock Phase in der sie davon träumte ein berühmtes Groupie zu sein - hatte sie sich ihre blonde Mähne schwarz gefärbt und Agneta damit zur Weißglut getrieben. Heute reichten ihre Haare fast bis zum Po, waren aber völlig ohne jeden Schnitt, weshalb Agneta immer wieder an ihr herummaulte. „Irgendwann schneide ich sie dir in der Nacht einfach ab“, drohte sie jedes Mal.

„Ich wüsste ja die perfekte Frisur zu diesem Kleid“, zuckte sie auch diesmal die Schultern. „Aber dazu müssten wir dich zum Frisör schicken.“ „Ich hol mal den Fön und Lockenstab“, lenkte Albin ein und verschwand ins Bad. Linnea wickelte sich das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihr Haar aus. Dann stieg sie wieder aus dem Kleid, um es nicht gleich zu ruinieren. Wenn Agneta es tatsächlich aus dem Büro mitgebracht hatte, kostete es so einiges.

Etwa eine halbe Stunde später hatte Albin so etwas wie Ordnung in das Wirrwarr auf ihrem Kopf gebracht und Linnea drehte sich eine Locke um den Finger, während sie sich ein letztes Mal im Spiegel betrachtete. In diesem Outfit fühlte sie sich beinahe sicher genug, um den König zu interviewen. Wobei sie sich im selben Moment nicht ganz sicher war, was nun im Endeffekt schlimmer war: König oder Haydn Cavendish.


„Linnea, bist du das etwa?“ Oscar hielt ihr die Tür zum Taxi auf und grinste ihr entgegen. Linnea streckte das Kinn vor und stieg ein. Erst als das Taxi anrollte, spürte sie, wie ihre Handflächen feucht wurden. ‚Nein’, versuchte sie sich zu beruhigen. ‚Du wirst nicht ohnmächtig! Du wirst nicht ohnmächtig!’ Obwohl die Vorstellung, von Haydn Cavendish aufgefangen zu werden... ‚Denk erst gar nicht daran, dir das vorzustellen!’

„Sag mal“, wandte sie sich schließlich an Oscar, der ja schon so einige Erfahrungen mit Interviews gesammelt hatte, „kannst du mir nicht ein paar Tipps geben?“ Sie gab sich Mühe nicht völlig verzweifelt zu klingen, denn das war sie eigentlich gar nicht. Nur unsicher. „Ich krepier hier sonst, weil ich nicht weiß, wie ich das Ganze angehen soll.“ „Was willst du wissen?“, trommelte Oscar auf seiner Tasche und Linnea zuckte die Schultern. „Wie begrüße ich ihn?“ „Ha-ha.“ „Nein, ehrlich! Ich hab keine Ahnung. Sag ich hi oder hallo oder guten Tag?“ Oscar hantierte an seiner Kamera herum und zuckte nun seinerseits die Schultern. „Wahrscheinlich begrüßt er dich zuerst. Dann sagst du einfach dasselbe.“ „Und soll ich fragen, ob wir uns siezen oder duzen?“ „Du meine Güte, hast du dir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht?“ „Sicher“, nickte sie. Sie würde allerdings nicht zugeben, dass sie sogar im Badezimmer vor dem Spiegel versucht hatte zu üben. „Deshalb stell ich dir jetzt all diese Fragen.“ Oscar steckte die Kamera zurück in die Tasche und lehnte sich zurück. „Weißt du, Linnea, zieh einfach dein Ding durch und lass dich nicht beirren.“ Ihr Ding? Welches Ding denn? Sie hatte ja überhaupt kein Ding. Sie hatte nur einen Spickzettel und ihren Sturkopf. Reichte das?