Das Ketzerdorf - In Ketten

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

13

Konstantinopel, Dezember 1578

»Salomon, mein alter Freund, wie gut, dass ich dich treffe«, rief der Dolmetsch und nahm den berühmten Diplomaten zur Seite. »Du musst mir helfen und deinen Einfluss beim Sultan geltend machen.«

»So sprich, Berkel, was bedrückt dich?« Salomon Ashkenazy ging in den Herrscherhäusern zwischen Madrid, London, Wien und Konstantinopel ein und aus. Seinem Verhandlungsgeschick vertrauten sowohl die Mächtigen im Habsburgerreich als auch der großmächtige Sultan.

»Du wolltest vor einigen Jahren, dass ich dich auf deiner Mission nach Venedig begleite. Heute gestehe ich dir, dass ich nicht dorthin zurückkehren kann. Frag mich nicht nach den Gründen. Sie sind schwerwiegend und würden mein Leben in Gefahr bringen. Der Sultan wünscht, dass ich ebendort für ihn in den Waffenschmieden spioniere. Würdest du dich für mich beim Sultan verwenden?«

»Du wirst verfolgt, Berkel? Nun … beim Sultan? Du weißt, dass dies nicht einfach ist.« Salomon legte die Stirn in Falten. »Vielleicht kann ich eher bei deinen Verfolgern ein gutes Wort für dich einlegen? Sag mir, wer dich verfolgt!«

Er kam näher an sein Ohr und erst jetzt bemerkte Berkel, wie sich eine verschleierte Gestalt, die sich wohl während des Gesprächs in der Nähe aufgehalten hatte, wegdrehte und verschwand.

»Die Inquisition!«, flüsterte Berkel.

Salomon sah ihn wie versteinert an: »Ich gehe zum Sultan.«

14

Emmenhausen, Neujahr 1579

»Ist’s möglich, Otto, du lässt dich doch noch bei uns sehen!« Hans III. Honold umarmte Otto und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. Nur zu gern ließ sich Otto von ihm aus der starren Kälte in das geheizte Schloss ziehen.

»Seit deinem letzten Besuch sind einige Jahre ins Land gegangen. Siehst du, du hattest doch ein schlechtes Gewissen wegen deines Berichts an das Hochstift! Fast hätte der Herzog meinen Prediger abgesetzt. Sie wollen sich einfach nicht mit dem Nebeneinander von Katholiken und Protestanten abfinden. Die sollten sich an unserer Familie ein Beispiel nehmen. Seit einigen Tagen sind wir wieder alle zusammen. Oktavian ist aus Prag gekommen; der wird sich freuen!« Hans Honold blickte nach oben. »Dein Freund Otto ist da, Herr Medicus, jetzt beweg dich schleunigst herunter«, schrie er so laut durch das hallende Treppenhaus, dass einige der Bediensteten verstört zusammenliefen.

Der alte Honold muss mächtig stolz auf seinen Sohn sein, dachte Otto, da stürmte Oktavian schon die Treppe herunter. Sie begrüßten sich wie damals am Collegio üblich mit dreifachem Handschlag. Die Jahre hatten Oktavian nicht viel anhaben können, sein Haar war immer noch voll und dunkel wie eh und je, seine Haut nach wie vor ungewöhnlich braun, fiel Otto auf.

»Dass sie dich aus den engen Kirchenmauern herauslassen, wem hast du das denn zu verdanken?« Oktavian hatte anscheinend seine Sprüche nicht verlernt.

»Als Dekan kann ich mir die eine oder andere Freiheit gestatten. Heute Abend zur Komplet muss ich aber wieder meinen Platz im Chorgestühl einnehmen.«

»Du kündigst deinen Abschied an, bevor du richtig angekommen bist. Otto wie in alten Tagen, immer kurz angebunden. Schon beim Kyrie an das ite, missa est9 denken! Aber jetzt komm erst mal nach oben in die warme Stube.«

Gemeinsam gingen sie ins Kaminzimmer, wo ihm Oktavian seine Mutter, Jakobina Welser, vorstellte.

»Endlich darf ich Euch kennenlernen. Oktavian hat schon damals in Bologna so viel von Euch erzählt.«

»Ich hoffe, nur Gutes«, antwortete sie und lächelte. Sie wirkte auf ihn bescheiden, zurückhaltend und war einfach gekleidet, obwohl sie wohlhabend war und ein riesiges Handelsunternehmen mit in die Ehe gebracht hatte.

»Oktavian wird ab Sommer in Augsburg praktizieren, weißt du das schon, Otto?«, posaunte Hans Honold die Neuigkeit heraus, und Otto merkte an dem bösen Blick Oktavians, dass er ihm das hatte selbst erzählen wollen.

»Das ist ja wunderbar. Dann wirst du ja immer in meiner Nähe sein und ich brauche mich um meine Gesundheit nicht mehr zu sorgen«, scherzte Otto erfreut.

»Der Rat der Stadt hat mich als Wundarzt und Verantwortlichen für die Gefängnisse und Kranken- und Leprosenhäuser berufen. Das heißt erst einmal viel Arbeit für wenig Geld!«

»Geld ist doch nicht so wichtig, wenn du wieder hier bei deiner geliebten Familie sein kannst?«, bemerkte Hans Honold und klopfte seinem Sohn auf die Schulter.

»Mit einem Mal so bescheiden, Hans? Wenn dir das Geld nicht wichtiger als der Glaube gewesen wäre, hättest du mich wohl nicht geheiratet«, fuhr ihm seine Frau dazwischen und lachte herzlich. Otto wusste schon aus den Erzählungen Oktavians noch zu Studienzeiten, dass es bei seinen Eltern immer wieder religiöse Meinungsverschiedenheiten gab.

»Du siehst, Otto, Katholiken und Protestanten streiten sich wieder einmal um den schnöden Mammon!«, entschuldigte sich Hans Honold und schenkte seiner Frau ein warmes Lächeln.

»Komm, lassen wir die beiden alleine; sie haben sich sicherlich viel zu erzählen! Ich schicke euch warmen Apfelwein herauf.« Mit diesen Worten zog Jakobina ihren Mann aus der Stube.

Oktavian atmete hörbar aus. »Ich konnte dir in meinen Briefen nie die Wahrheit schreiben, Otto. Die Gefahr, dass mitgelesen wird, war einfach zu groß. Was weißt du von Rico?«

»Darum bin ich hier, Oktavian, ich weiß eben überhaupt nichts. Im ›Roten Ochsen‹ habe ich ihn darüber aufgeklärt, dass Erminio seine geliebte Mona ermordet hat, und ihm das Flugblatt von Don Alfonso in die Hand gedrückt. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich weiß nur, dass du ihm nach dem Brandanschlag auf Erminio im Kloster zur Flucht verholfen hast und dass er in türkische Gefangenschaft geraten ist.«

»Richtig, Rico ist zu mir nach Venedig geflüchtet. Er hat mir alles erzählt. Sie waren ihm auf den Fersen. Er musste Venedig so schnell wie möglich verlassen und sich dem Zugriff des Kirchenstaates entziehen. Ich habe ihn auf einem Schiff untergebracht, das die dalmatinische Küste entlanggesegelt ist, um schließlich auf Umwegen an die Grenze des Reiches zu kommen. Dort sollte er in Neusohl die Bewachung unserer Kupfermine organisieren. Er hat sich mehrmals über die schlechte Ausrüstung beschwert und Feuerwaffen gefordert, die wir ihm nicht gewährt haben – ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein zeigte.«

»Wann hast du denn zuletzt etwas von ihm gehört?«

»Die Türken wurden zunehmend frecher und fielen immer häufiger ein. Dann kam die Nachricht aus Neusohl, dass das Bergwerk in türkische Hände gefallen sei. Es war zwei Tage vor Bartholomä im Jahr ’63, als ich davon erfuhr, ich weiß es noch wie heute. Es gab anscheinend Tote und eine Vielzahl von Gefangenen, die verschleppt wurden. Rico war nicht unter den Toten. Das war das Letzte, was ich über ihn erfahren habe. Wie es der Teufel wollte, klopfte nur Stunden später die Inquisition an meine Tür. Ohne lange zu überlegen, habe ich am selben Tag Venedig verlassen und bin nie mehr dahin zurückgekehrt. Mein Vater hat getobt, weil er die Geschäfte wieder an die Familie meiner Mutter übertragen musste. Ich bin nach Prag gezogen und habe dort mein Medizinstudium beendet.«

Eine Bedienstete klopfte und brachte heißen Apfelwein.

»Was ist wohl mit ihm passiert?«, fragte Otto, von dieser Geschichte sichtlich beeindruckt. Er nahm einen Becher und nippte nervös daran.

»Ich habe alles versucht, um ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Meine Briefe von Prag aus an den jeweiligen Orator von Konstantinopel wurden nie beantwortet. Eine Petition an das Kaiserhaus brachte mich auch nicht weiter. Von Gesandten des Kaisers sind Geschichten über die Türken im Umlauf. Es wird erzählt, dass sie nur Gefangene machen, wenn es sich für sie lohnt und sie Verwendung für sie haben. In Konstantinopel werden Arbeitssklaven dringend benötigt, überall werden ganze Viertel abgerissen und großzügiger und höher gebaut. Am schlimmsten sind wohl die armen Schweine zu bemitleiden, die sich auf den Steingaleeren zu Tode schuften. Bei sengender Hitze über das Marmarameer zu rudern, kann kaum jemand länger als einen Monat überstehen. Wer das vorgegebene Tempo nicht mehr halten kann, wird losgekettet und ins Meer geworfen.«

»Um Himmels willen, was für ein schrecklicher Tod.« Otto spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich.

»Wer wider Erwarten sechs Monate die Torturen einer Gefangenschaft überlebt, hat drei Möglichkeiten: Wenn er einen Patron hat oder irgendwie zu Geld gekommen ist, kann er sich freikaufen und zurück in die Heimat, das gelingt nur den Wenigsten. Den Turban nehmen, sich beschneiden lassen und Allah fünfmal täglich auf den Knien nach Mekka gerichtet anbeten, ist die Alternative. Flucht ist so gut wie unmöglich, denn jeder erkennt sofort die rasierten Köpfe. Also bleibt nur noch übrig, so lange zu arbeiten, bis man tot umfällt.«

»Was glaubst du, wofür sich Rico entschieden hat?«

»Woher sollte er das Geld haben, sich freizukaufen? Sie haben ihm sicher alles abgenommen. Den Turban nehmen? Ich glaube nicht, dass Rico so etwas macht. Hast du ihn jemals auf Knien gesehen? Ein Stier wie er arbeitet vielleicht immer noch irgendwo. Wer weiß?«

»Rico in Ketten? Das ist schwer vorstellbar. Er ist geschickt genug, einen Weg für sich zu finden. Wenn er wüsste, dass Erminio diesen Brand überlebt hat und jetzt mit noch mehr Hass und Verbitterung als Großinquisitor unser Land von Bamberg bis Partenkirchen in Angst und Schrecken versetzt, würde er sicher handeln.«

»Was sagst du da? Erminio treibt im Hochstift sein Unwesen? Du hattest mir doch geschrieben, dass du ihn in Rom wiedergesehen hast. Ich war der Meinung, dass er in diesem Kloster dort seine Wunden leckt und auf das Ende seiner Tage wartet.«

 

»Ein frommer Wunsch, der alle Probleme lösen würde. Er hat von Papst Pius V. den Kardinalshut bekommen. Auf dem Sterbebett hat der Papst seinem Wunsch entsprochen und ihn als Großinquisitor für die Provinz der Dominikaner im Süden des Reichs über die Alpen geschickt. Seit vier Jahren brennen die Scheiterhaufen und die Köpfe rollen; es ist schlimm. Da er seine Legitimation von ganz oben hat, sind wir alle machtlos. Auch der jetzige Papst, mein verehrter Boncompagni, enttäuscht mich schwer, weil er ihn gewähren lässt. Was denkst du, Oktavian, würde Rico machen, wenn er wüsste, dass der Kardinal noch lebt?«

»Ich weiß nicht, Otto, aber Nichtstun war noch nie Ricos Sache und das hast du mit ihm ja wohl gemeinsam«, Oktavian legte seine Stirn in Falten.

»Ja, ich versuche alles, was mir möglich ist. Bei einem Gespräch, das ich vor einiger Zeit im Namen von Dutzenden aufgebrachten und verzweifelten Amtsleuten und Versehern mit dem Kardinal persönlich in Dillingen geführt habe, hat er mir erklärt, dass mir, als Freund eines Mörders, der Weg in weitere kirchliche Ämter versperrt sei. Glaubst du, wir könnten Rico irgendwie aufspüren?«

Oktavian lächelte gequält. »Rico aufspüren? Die Suche nach einem einzelnen Gefangenen im gesamten Osmanischen Reich, wenn er denn noch leben sollte, ist schwierig, aber wir sollten nichts unversucht lassen. Da fällt mir ein – ich erinnere mich an einen jungen Theologen mit Namen Salomon Schweigger, der mit Joachim von Sinzendorf, dem Botschafter Kaiser Rudolfs II. in Konstantinopel, persönlich bekannt ist. Er hat ihn als Reise- und Gesandtschaftsprediger in sein Gefolge aufgenommen. Die Delegation ist am 10. November von Wien aus aufgebrochen und auf dem Weg nach Konstantinopel. Vielleicht ergibt sich dadurch die Gelegenheit zu erfahren, was mit Rico geschehen ist. Es wird sicher bei den Türken Listen von Gefangenen geben. Der Habsburger Botschafter wird ja schließlich auch mit Gefangenenaustausch, Freikauf oder Konvertiten zu tun haben, was meinst du?«

»Das wäre eine Möglichkeit! Es ist schön von dir, dass du dir meine und die Sorgen des Hochstifts zu eigen machst!«

»Ich bin mitverantwortlich und habe außerdem ein schlechtes Gewissen. Nur weil wir der Truppe, die unsere Mine verteidigen sollte, eine modernere Ausrüstung verweigert haben, konnten die Türken erfolgreich sein.«

»Halte mich auf dem Laufenden, Oktavian! Du weißt, wo du mich finden kannst!« Otto war froh, in seinem Kampf nicht mehr allein zu sein.

9 Geht, es ist Sendung.

15

Leeder, zwei Tage vor Sankt Mattheis10 1579

»… und das ewige Licht leuchte ihr. Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen«, stimmten die Marianischen in die letzten Worte des Pfarrers ein. Die alte Keggelbäuerin lag aufgebahrt zwischen den Schneebergen vor dem Haus. »Endlich hot dia arm Seel a Ruah«, die Mesnerin war die Erste, die den Weihwasserpinsel von Pfarrer Engelschalk in die Hand nahm und die Tote besprengte. Nacheinander verabschiedeten sich die Marianischen von der alten Bäuerin. »Mei Zenz, jetzt kommsch halt doch in an luthrische Friedhof«, jammerte die Schmelzerin. Die Trauernden wollten gerade der Aufforderung der jungen Bäuerin Folge leisten, ins Haus zu kommen, als sie von Weitem das Glöckchen des Totengräbers hörten, das dieser seiner alten Mähre umgehängt hatte. Er saß auf einem Schlitten und zog hinter sich einen Sarg durch den Schnee.

»Brr, alter Knabe! Von wegen Mattheis bricht’s Eis«, war seine Begrüßung, als er schwungvoll vom Schlitten stieg und den alten Schlapphut mit der langen Feder vom Kopf nahm. »Mein Beileid, Keggel. Ich werde deine Mutter einsargen, aber beerdigen können wir sie erst, wenn der Boden aufgetaut ist, und das wird noch gut einen Monat dauern.«

»Des hau i mir scho denkt«, antwortete der Keggel und sah besorgt zu seiner Frau.

»Du nimmsch se aber doch mit, oder?«, fragte der Keggel.

»In meiner Scheune stapeln sich die Särge, ich habe keinen Platz mehr, wir müssen sie schon so lange hier lassen«, verkündete der Totengräber.

»Kansch denka, dia kommt mir nimma ins Haus, des sag i ui glei!«, rief die junge Bäuerin energisch dazwischen.

»Dann dea mer se naus in de Schupfa11!«, willigte der Keggel ein.

»Wie ihr wollt«, bemerkte der Totengräber und machte sich an die Arbeit.

»Kommet rei, es gibt ebbas Warms zum Drinka!«, lud der Keggel die Trauergemeinde, die sich nicht zweimal bitten ließ, in die warme Stube.

10 24. Februar

11Allgäuerisch: Scheune.

16

Schongau, zwei Tage nach Sankt Benedikt12 1579

»Die Flößer sind wieder da, Gerhild! Stell den durstigen Brüdern das Bier hin, aber sofort kassieren, gell, die seh ich, wenn überhaupt, ein ganzes Jahr nicht mehr.« Der Wirt hatte frisches Bier gezapft und vier schäumende Humpen bereitgestellt, die Gerhild an den Tisch der bärtigen und ungepflegten Gesellen brachte.

»Da hast du aber eine bildhübsche Magd, Semmer! Wo hast du die denn her? Das kann doch keine hiesige sein, so mögele13 und liebreizend, wie die ist. Komm her, meine Schöne, ich zeig dir meine Ruderstange! Die ist so lang, mit der komm ich auf jeden Grund!«, grölte einer von ihnen, und die anderen lachten lauthals.

»Mach dir nichts draus, Gerhild«, versuchte der Wirt zu beschwichtigen. »Es sind halt raue Burschen, die das Holz auf dem Lech aus den Bergen herunterbringen. Die haben seit Wochen keinen Rock mehr gesehen und sind große Sprücheklopfer.« Dann wandte er sich an die Flößer. »Lasst mir die Gerhild in Ruh, sonst setz ich euch so schnell vor die Tür, dass ihr mit Schauen gar nicht mehr nachkommt!«

Das beeindruckte die Männer wenig. Gerhild sammelte eifrig die Münzen ein, die auf dem Tisch verstreut waren und suchte so schnell wie möglich das Weite.

Fast ein Jahr stand sie nun im Dienst des Sternenwirts. Nach ihrer Befragung und der üblen Erpressung durch den Dillinger Stadtrat hatte sie das Haus und alle Habseligkeiten verkauft, die nicht in eine Reisekiste passten, und hatte mit ihrer kleinen Tochter Maria die Heimat auf einem Fuhrwerk in Richtung Süden verlassen. Weit waren sie nicht gekommen. Auf der Fahrt von Dillingen nach Italien übernachteten sie im Gasthaus »Sternen« in Schongau. Nach nur vier Tagen als alleinstehende junge Frau auf den Straßen hatte sie es sattgehabt, von wildfremden Knechten, Kutschern und Fuhrleuten als billige Hure betrachtet und dementsprechend angesprochen zu werden. Der Wirt, Hans Semmer, hatte sofort Gefallen an ihr gefunden und ihr eine Stelle als Magd angetragen. Niemand hatte sie nach Stand, Herkunft oder Vergangenheit gefragt. Sie wurde schnell beliebt bei den Wirtsleuten und den Gästen, führte ein arbeitsreiches, aber sorgenfreies Leben und konnte es sich sogar leisten, Maria in die Schule zu schicken. Mehrere Heiratsangebote von Gästen der Wirtsstube hatte sie bisher abgelehnt. Zu sehr hing ihr Herz noch an ihrem verstorbenen Mann, als dass sie eine neue Bindung hätte eingehen können.

Mit einem Mal wurde es totenstill in der Gaststube.

»Meister Christoph, kommt herein, auch wenn Ihr nicht willkommen seid, und setzt Euch an Euren Tisch, so sehen die fahrenden Holzknechte, dass in Schongau Ordnung und Gesetz in Ehren gehalten werden.« Der Sternenwirt hatte so laut gesprochen, dass es für alle in der Stube vernehmbar war.

Der Scharfrichter schlenderte grußlos an den Tischen vorbei an seinen Platz. Schweigend hängte er seinen Umhang an den Haken in der Holzvertäfelung und setzte sich.

Den Flößern hatte es buchstäblich die Sprache verschlagen; als wenn ihnen der Herrgott beizeiten die Antwort auf ihre frechen Reden geschickt hätte.

»Das ist der Henker aus Biberach, Gerhild. Niemand gibt ihm die Hand und er bezahlt auch nichts, weil ich kein blutiges Geld im Haus haben möchte. Er kommt immer, wenn der Schongauer Henker verhindert ist«, flüsterte der Wirt Gerhild zu.

»Ein Bier, Herr Christoph? Wir haben den beiden Kirchenräubern, die morgen gehängt werden sollen, schon die Henkersmahlzeit ins kleine Stüble gebracht. Ich nehme an, dass die Zeche wie immer auf die Stadt geht?«, fragte er über zwei Tische hinweg, drehte sich zu Gerhild und wollte ihr den Krug mitgeben, um dem Henker einzuschenken, aber Gerhild war nicht mehr da.

Ohne einen Laut von sich zu geben, war sie hinter dem Bierfass zusammengesackt.

»Gerhild, um Gottes willen, was ist passiert? Was hast du gesehen?« Die Stimme des Semmers überschlug sich in der Aufregung. Seine Magd lag bewusstlos auf dem Boden. Er ging auf die Knie, beugte sich zu ihr und tätschelte verzweifelt ihr bleiches Gesicht. Hastig knöpfte er die Bluse auf und öffnete das vorne geschnürte Mieder. Einer der Flößer war aufgesprungen und brachte aus der Küche eine Schale mit Wasser, das ihr der Wirt mit zitternder Hand über das Gesicht und über die Brust träufelte. Alles Tätscheln und Fächern half nichts. Gerhild Maierin rührte sich nicht.

12 21. März

13 Allgäuerisch: freundlich, nett.

17

Augsburg, Herbst 1579

»Du hast ja im letzten Jahr mächtig aufgeholt, Raymund! Wenn du so weitermachst, werden wir unsere Gesellenprüfungen noch gemeinsam machen.« Jos lachte und trällerte ein Liedchen. Raymund konnte ebenso wenig einschlafen wie sein Freund. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und beobachtete die Schattenspiele der Kerzen.

»Wenn du nicht so getrödelt hättest in deinem ersten Jahr, Jos, wärst du schon längst auf und davon.« Raymund setzte sich auf. »Sag mal, erinnerst du dich an den vornehmen Herrn, ich glaube, er hieß Castranova, der damals den Meister überreden wollte, kurze und leichte Gewehre für den Einsatz bei der Kavallerie herzustellen?«

»Ach, Raymund, das weiß doch jedes Kind, dass der Lauf über die Zielgenauigkeit entscheidet. Der vornehme Herr hat sich hier nie wieder blicken lassen«, erwiderte Jos und gähnte gelangweilt.

»Dann muss der Lauf halt angepasst werden. Die Franzosen schießen seit einigen Jahren mit Kurzgewehren, du hast sie doch letztes Jahr auf der Rosenau mit eigenen Augen gesehen.«

»Jetzt sind wir mit unseren Hakenbüchsen so weit gekommen, dass man sie einigermaßen zuverlässig nennen kann, dann kommst du mit einem Kurzgewehr daher. Das wird dem Meister gar nicht gefallen. Er hasst diese Franzosengewehre, weil sie ihm all die Probleme mit der Genauigkeit wieder zurückbringen.«

»Marco, der Italiener aus Brescia, den ich vor einigen Tagen im Zeughaus getroffen habe, hat mir von derselben Entwicklung aus Italien berichtet. Überall wird auf handliche Kleingewehre umgestellt, die schnell gezogen und abgeschossen werden können. Nur hier, in der verstaubten Werkstatt unseres Meisters, will man davon nichts wissen. Egal, ich werde mein Gesellenstück mit einem kurzen Lauf ausstatten, das habe ich seit Langem beschlossen.«

»Und der Meister?«, fragte Jos besorgt.

»Der Meister? Vergiss ihn! Mit dem kommen wir nicht weiter!« Raymund setzte sich auf. »Ich muss dir etwas gestehen, Jos. Ich weihe dich jetzt in ein Geheimnis ein«, flüsterte er und schielte zur Tür. »Es wird zwei Läufe geben. Ich fertige den eigentlichen, völlig neuartigen Lauf beim Goldschmied Altenstetter an. Aber das darf niemand wissen. Ich drehe den Stahl um einen Dorn. Das verleiht dem Lauf innen Windungen und die Kugel dreht sich beim Schuss. Du wirst sehen, dass sie dadurch viel genauer ins Ziel kommt. Es wird vor der Brennkammer ein Gewinde geben, an dem man den Lauf schnell abschrauben kann. Den anderen Lauf fertige ich mit dir zusammen auf herkömmliche Art mit der Naht auf der Unterseite in unserer Werkstatt. Mit dem Meister habe ich darüber nicht gesprochen; die Aufsicht über die Lehrbuben hat sowieso der Obergsell. Das Risiko, dass die Waffe nicht von der Kommission zur Lossprechung taugt, liegt also bei mir ganz allein. Es arbeitet doch ohnehin jeder selbstständig an seinem Prüfungsstück.«

Jos schien plötzlich wieder hellwach. »Immer langsam mit den jungen Pferden, mein lieber Freund! Das glaubst du doch selbst nicht, dass dir der Obergsell dieses Gewinde genehmigt? Du musst ja irgendwie den Zweck erklären können, der diesen Einbau notwendig macht.«

 

»Es wäre doch gar nicht schlecht, wenn man den Lauf zum Säubern abnehmen könnte. Das sind praktische Gründe, die nichts mit der Zielgenauigkeit zu tun haben, und am Ende entscheidet ja schließlich die Kommission, ob das Gesellenstück etwas taugt oder nicht. Sei nicht so ablehnend, Jos!«

»Wenn du es unbedingt auf einen weiteren Konflikt mit dem Obergsell anlegen willst, dann bau dein Kurzgewehr, aber warum in Gottes Namen kannst du nicht damit warten, bis du dein eigener Herr bist?«

»Psst, Jos, nicht so laut, die Wände hier haben Ohren.« Raymund hielt seinen Finger vor den Mund.

»Lange halte ich es hier nicht mehr aus. Ich will so schnell wie möglich auf die Rosenau und dort der Erste sein, der mit einer Pistolette gewinnt. Kannst du das nicht verstehen? Ich bin ein Außenseiter und muss immer besser, klüger und schneller sein als die anderen, um mein Aussehen vergessen zu machen. Darum brauche ich ein Gewehr, mit dem ich sie alle in Grund und Boden schießen kann.«

»Ich kann das gut verstehen, Raymund. Ich weiß, wie sie dich hier behandeln.«

»Ich habe dem Altenstetter geschworen, mit niemandem darüber zu sprechen. Du bist der Einzige, der davon weiß.«

»Was auch immer passiert, Raymund, du kannst auf mich zählen; keiner wird etwas von mir erfahren, und wenn du Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein.« Jos stand auf und reichte ihm die Hand.

»Ich weiß doch, dass ich mich immer auf dich verlassen kann!«