Am Nachmittage begleitete sie den Landgrafen auf die Jagd und gab sich wie sonst ihrer Lust an wagehalsigem Reiten hin, eine Veränderung in ihrem Wesen höchstens insofern zeigend, als sie ihrem Manne gegenüber schweigsam und von verhaltener Reizbarkeit war.
Zur zweiten Frau seines ältesten Sohnes wählte Moritz ein Mädchen aus der Anhaltischen Familie, das sich besonders durch Vernunft und Frömmigkeit empfahl und mehrere Jahre älter als Otto war. Die junge Frau klagte über nichts, sondern äußerte sich dem Landgrafen gegenüber zufrieden. Einige Monate nach der Hochzeit jedoch wurde Otto am Morgen erschossen im Bette aufgefunden, wahrscheinlich durch eigene Hand gefallen, jedenfalls als ein Opfer seiner lasterhaften Verwilderung.
Nun war Wilhelm, der jüngste Sohn der schönen Agnes, Erbe des Landes. Er war, wenn auch hübsch und fein von Gesicht, ernst und fleißig, doch weniger glänzend begabt als die Brüder und war von seinem Vater stets etwas zurückgesetzt gewesen, freilich ohne dessen Wissen und Willen, der in der Behandlung seiner Kinder auf Gerechtigkeit hielt. Wilhelm suchte die Liebe des strengen Vaters, dem er in bescheidener Zurückhaltung ergeben war, durch Arbeitsamkeit und Pflichteifer zu gewinnen. Seinen zarten Körper stählte er durch ritterliche Übungen und wurde mehr infolge dieser Willenskraft als aus natürlicher Anlage ein tüchtiger Jäger und Soldat.
Damals erschien ein Buch, das dem Landgrafen Anregung gewährte, es hatte den Titel ›Chymische Hochzeit Christian Rosencreuz‹, geißelte mit Witz und Wärme die Laster der Zeit und berichtete von einer Gesellschaft, die zum Zweck eine Reform der Sitten, der Politik und der Kirche, kurz, des ganzen öffentlichen sowie privaten Lebens habe. Es begann mit einer Erzählung, wie die Weiber eines Fabellandes sich im Rathause versammeln, um den herrschenden Übeln abzuhelfen, wie das Volk in Ehrfurcht wartet, auf welche Weise es gebessert und beglückt werden soll, wie endlich die geheiligte Pforte sich öffnet und den Harrenden das Ergebnis verkündet wird, mit welchem der Wendepunkt einer neuen, schöneren Zeit beginnen soll: eine neue Taxe auf Kraut, Rüben und Petersilie.
Die Empfehlung des Landgrafen verschaffte dem Buche in Hessen viele Leser, aber auch in anderen kalvinischen Gegenden erregte es Beifall oder mindestens Interesse, während es im Allgemeinen als frech, aufwieglerisch und voll von Ketzereien getadelt und bekämpft wurde. Der ungenannte Verfasser, nach dem man vergebens fahndete, war ein Schwabe, der aus einer Familie von Theologen stammte, Johann Valentin Andreae, ein rastloser Geist, dessen Verstand ebenso durchdringend und unbestechlich wie seine Fantasie lebhaft war, heiter, stolz, warmherzig und unternehmend. Durch seine Abkunft zur Theologie bestimmt, widmete er sich doch zunächst aus Neigung der Mathematik und Mechanik, der Malerei, Musik und Dichtung, führte ein ungebundenes Reiseleben oder verdiente sich seinen Unterhalt als Erzieher. Etwa im Jahre 1613 war er mit zwei Freunden, dem österreichischen Edelmann Abraham Hoelzel und dem schwäbischen Juristen Besold, seiner Gesundheit wegen im Bade Griesbach, ohne Stellung und willens, sich durch Unterricht die Einnahmen zu verschaffen, deren er bedurfte. Während eines längeren Aufenthaltes in Italien hatte er in Padua Fechten und Voltigieren gelernt und es mit seinem geschmeidigen Körper darin zu großer Fertigkeit gebracht. Als er eines Tages mit Hoelzel an einem Platze vorbeikam, der zur Kurzweil für die anwesenden ritterlichen Gäste bestimmt war, lockte es ihn, sich ein wenig zu tummeln, und belustigte sich in allerlei Spielen und Künsten mit Hoelzel zusammen, der, plumper gebaut und weniger gewandt, Johann Valentins Vorzüge in desto besserem Licht erscheinen ließ. Am nächsten Tage erzählte Hoelzel, es hätten ihn mehrere vornehme junge Leute aufgesucht und ihn nach dem jungen Manne ausgefragt, der sich mit einem so vortrefflichen und ungewöhnlichen Voltigieren habe sehen lassen; er, Hoelzel, habe darauf Andreaes Talente und Fertigkeiten gerühmt, und sie seien begierig, seine Bekanntschaft zu machen. Er solle sich bereit halten, vielleicht blühe ihm hier das Glück. In kurzer Zeit hatte er wirklich mehrere junge Edelleute zu Schülern im Fechten und Voltigieren, die übrigens gute Gesellschafter waren. War er mit Hoelzel und Besold allein, so diente es ihnen zu großer Belustigung, dass Andreae nun endlich das Gebiet gefunden habe, auf welchem er Ehre und Vorteil erringen könne; kärglich sei es ihm ergangen, solange er sich der Weltweisheit, Kunst und Gottesgelehrtheit befleißigt habe, als Fechtmeister werde er zu Ruhm und Ansehen kommen. Übrigens beschloss er sogleich, unvermerkt auf das Innere der jungen Männer zu wirken, die ihn mit der Ausbildung ihres Körpers betraut hatten, und als ein anderer Merkur ihre Seelen zu Gott zu führen. Bei dem häufigen Zusammensein fand er Gelegenheit, seine Kenntnisse in der Mathematik zu zeigen und sie so für diese Wissenschaft zu interessieren, dass sie sich alle etwas davon anzueignen wünschten und ihn um Unterweisung baten. Kamen sie dann auf theologische Fragen, so lobte Besold wohl die Schriften des Mystikers Valentin Weigel, während ihn weder Luthers noch Kalvins Lehre ganz befriedige. Sie wären, sagte er, offenbar von den Menschen aufsteigend zu Gott gekommen, während man doch, um zu Gott zu kommen, sich so weit wie möglich von den Menschen entfernen müsse. Die Anschauung unseres Lebens müsse man verlassen, wenn man Gott finden wolle; denn Gott wisse nichts von uns, Gott wisse nur von sich, darum müsse, wer zu ihm wolle, die feste Erde von sich stoßend einen Sturz in den bodenlosen Abgrund wagen, der für unsere irdischen Sinne die Nacht und das Nichts sei.
Diese Auffassung bekämpfte Andreae als schwärmerisch und gefährlich. Gott, dessen Wesen Licht sei, sei nur durch das Licht zu erreichen. Es sei viel Wahrheit in dem, was Besold sage, aber das Ganze sei unwahr. Man dürfe nicht vergessen, dass die Welt, welchen Anteil auch das Böse an ihr habe, doch von Gott erschaffen, von seinem Samen und Blut sei. Es komme nicht so sehr darauf an, dass der einzelne im Glauben Befriedigung finde und Gott näherkomme, wie dass die Gesellschaft, die kleinste wie die umfassendste, eine harmonische Ordnung darstelle. Luther sei kein Gott, also nicht unfehlbar, wenn auch göttlichen Geistes voll gewesen; aber welcher andere Mensch sei das? Wohin würde man geraten, wenn ein jeder die Macht haben sollte, den eigenen Träumen über die höchsten Dinge nachzugehen, sich eigene Wege zur Seligkeit zu graben? Sie wüssten wohl alle, dass das Wort Religion von Binden komme, und sie solle in der Tat ein heiliges Band um alle Menschen, ja um alle Welt schlingen. Das möchte ihnen katholisch klingen; aber Luther habe ja auch die katholische Kirche nicht abschaffen, nur reinigen wollen. Einst werde gewiss die Kuppel der allesumfassenden Kirche mit dem Gewölbe des Kosmos sich decken und ein Gotteshaus für alle sein. Das Grübeln, Schwärmen und Disputieren müsse einmal aufhören, jeder solle sich auf dem festen Boden gemeinsamen Glaubens einem tätigen tugendhaften Leben widmen. Was für eine wundervolle Harmonie habe er in den Städten Basel, Zürich und Genf gesehen! Die glichen lichtbringenden Sternen, die sich streng, voll Ruhe und fast gleichgültig auf regelmäßiger Bahn bewegten.
Er erzählte mit Vorliebe von dem Leben in den eidgenössischen Städten, von der Tüchtigkeit und Vernünftigkeit ihrer Bewohner, wie sie ihrer Arbeit fleißig nachgingen, ein jeder tue, was ihm obliege, die Vornehmen stolz auf ihre Pflichten, auch die Geringeren auf die ihrem Stande eigentümliche Würde. Fehle es auch nicht ganz an Flecken und Abweichungen, so würden sie doch ausgeglichen durch die Regelmäßigkeit der Bewegung und die Fülle des Lichtes im Ganzen. Freilich wären die Theologen dort auch anders geartet als die im Reich und leider nicht zum wenigsten in Schwaben; sie lehrten, predigten, walteten in der Gemeinde, täten ihr Tagewerk, anstatt alberne Spitzfindigkeiten auszubohren und sich hernach darüber zu zanken und zu verfluchen.
Damals waren die lutherischen Theologen über zwei Streitfragen gespalten, deren eine die Allenthalbenheit oder Ubiquität Christi genannt wurde. Einige sagten, dass, da Christi Leib beim Abendmahl im Brote sei, und zwar ohne dass, wie die Katholischen fälschlich lehrten, eine Verwandlung vor sich gehe, dies so erklärt werden müsse, dass er eben allenthalben sei; während die anderen entgegenhielten, die Welt sei voll Unrat, und es sei unziemlich, anzunehmen, Christus sei im Dreck enthalten. Ferner nahmen die Theologen der Universität Gießen, die zu Hessen-Darmstadt gehörte, als Dogma an, dass Christus während seines Wandels auf Erden im Vollbesitz seiner göttlichen Natur gewesen sei und sich nur scheinbar der Leiblichkeit mit ihren Gebrechen unterworfen habe, um seine Aufgabe vollführen zu können. Dies verwarf das Haupt der württembergischen Theologen, Osiander, gänzlich, da, wenn Christus nicht wirklich ein Mensch gewesen sei, sein Tun und Leiden auf Erden bedeutungslos und gewissermaßen Spiegelfechterei genannt werden müsse. Er habe sich vor der Menschwerdung seiner göttlichen Eigenschaften entäußert, und es bestehe das ganze Geheimnis in seiner Gottmenschheit, wie aus vielen Bibelstellen zu erhärten sei. Ebenso stützten die Gegner ihre unwiderlegliche Beweisführung mit großer Gelehrsamkeit auf Bibelsprüche.
Unter dem Druck der schwäbischen Theologenherrschaft hatte auch Johannes Kepler zu leiden, der ja im Württembergischen geboren war. Eine Anstellung in seiner Heimat für ihn zu erwirken, war seinen Freunden nicht möglich; freilich hatten sie auch nicht den Mut, sich um seinetwillen sehr auszusetzen. Seine Frau war bald nach dem epileptischen Anfall, den sie beim Einbruch der Passauer in Prag erlitten hatte, gestorben, und schon vorher hatte er das kleine Mädchen, seinen Liebling, verloren; noch im selben Jahre folgten diesen beiden zwei andere Kinder. Er arbeitete damals angestrengter als je, zwischendurch aber kämpfte er mit traurigen und peinvollen Gedanken. Wenn er sein Eheleben, das nun abgeschlossen und unwiederbringlich hinter ihm lag, überblickte, karg an Glück, reich an Entbehrung, Streit und Misshelligkeit, so schien es ihm jetzt nicht mehr, als fiele die Schuld daran auf seine arme tote Frau, sondern als hätte er es anders gestalten können. Sie war wohl oft unzufrieden, ängstlich auf den Erwerb und die Notdurft bedacht, bitter und grämlich gewesen; aber wie hatte er seine Pflicht erfüllt? War er der Stab gewesen, an dem sie sich aufrichten, der Quell, aus dem sie Erfrischung schöpfen konnte? Seine schönen, überschwenglichen Stunden hatte er bei der Arbeit gehabt; für sie war Müdigkeit und Ungeduld übriggeblieben. Er entsann sich der holdseligen kindlichen Witwe, als die er sie kennenlernte, wie rührend ihre Bangigkeit und ihre Zweifel ihm erschienen waren und wie er sich vermessen hatte, ihr das Leben lieb und leicht zu machen. In den ersten Jahren, wenn er nachts den Himmel beobachtet hatte und hernach an ihr Bett kam, hatte sie ihn oft mit seltsam sehnsüchtigen Augen angelächelt und etwa gesagt: »Dein Antlitz schimmert noch von den Sternen«; aber es war ihm niemals eingefallen, dass er ihr von seiner Fülle etwas hätte mitteilen können. Ihre religiösen Grübeleien hatten ihn gelangweilt und geärgert; das hatte er nie bedacht, womit sie denn sonst ihre schmachtende Seele hätte speisen sollen.
Freunde und Freundinnen sagten ihm, er hätte sich nichts vorzuwerfen, sondern sei ein vorzüglicher Ehemann gewesen, und rieten ihm, sich wieder zu verheiraten, damit er eine richtig geordnete Häuslichkeit hätte. Anfänglich mochte er nichts davon wissen, und keine leuchtete ihm ein, wie viele ihm auch vorgeschlagen wurden. Dann kam ihm in den Sinn, dass er durch die Heirat mit einer Dame von Rang und Vermögen des elenden Ringens und Quälens um das tägliche Brot überhoben werden könnte; von seinen schon gekrümmten Schultern würde die hässliche Bürde fallen, frei würde er sich aufrichten und mit leichtem Schritt der Höhe des Lebens zustreben können. Ja, das hätte er können, wenn er allein gewesen wäre; aber nun war er an die anspruchsvolle fremde Dame gebunden, der er den Wohlstand verdankte und die peinlicher lasten mochte als die einstigen Sorgen. Er konnte sich seine Frau nur als ein schlichtes, liebliches Mädchen denken, ein sanftes, unbefangenes, heiter anlächelndes, sittsames, und nach einem solchen fing er allmählich an sich zu sehnen. Da ihm von einer berichtet wurde, nämlich von der schönen Susanna Rettinger, einer Schreinerstochter, die eine vornehme Dame hatte erziehen lassen, entschloss er sich, sie zu heiraten und die Sorge für den Lebensunterhalt weiter zu tragen.
Da Kaiser Matthias ihm weder den rückständigen noch den laufenden Sold auszahlen konnte, nahm er eine Professur an dem Gymnasium in Linz an, wo er unter den Herren von Adel Anhänger seiner Lehre und Bewunderer seiner Schriften hatte und wo er geehrt und friedlich hätte leben können, wenn ihm nicht von der Heimat aus Unruhe und Beschwerde wäre bereitet worden. Es befand sich als Prediger in Linz sein Landsmann Doktor Hizler, mit dem er viel verkehrte; denn Hizler interessierte sich für Astronomie, Mathematik und Mechanik, war lebhaft, wissbegierig und fröhlich und verstand es, den schweigsamen und ungeselligen Kepler durch seine Munterkeit umgänglich zu stimmen. Er hatte kleine, lustige, kindliche Augen, aufwärts gesträubtes Haar und einen spitzen Bart, trank gern guten Wein und hatte meistens, das Theologische auf die Berufsgeschäfte einschränkend, eine mechanische Spielerei in Arbeit; so fertigte er damals ein von selbst laufendes Wägelein an, auf dem ein trompetenblasender und peitschenknallender kleiner Kutscher saß.
Eines Tages um Ostern, als Kepler der Sitte gemäß das Abendmahl nehmen wollte, fiel es Hizler ein, zu fragen, ob Kepler die württembergische Konkordienformel unterschrieben habe, was Kepler verneinte, da er es überhaupt nicht für richtig halte, seinen Glauben auf Formeln zu zwingen, vollends aber jener nicht zustimmen könne. Hizler war erstaunt und böse und bestand darauf, Kepler müsse die Formel unterschreiben, die gut und löblich sei, sonst könne er ihn zum Genuss des Abendmahls nicht zulassen. Kepler antwortete, wegen des Dogmatischen möchte es sein, aber dazu könne er sich nicht entschließen, die Anhänger Kalvins zu verfluchen, das sei gegen seine Überzeugung. Was? fuhr Hizler auf, ob er etwa die abscheuliche Ketzerei der Kalviner in Schutz nehmen wolle? Ob er etwa behaupten wolle, dass ein Mann durch etwas anderes als den Glauben selig werden könne? Ob er etwa der Ansicht sei, dass ein Untertan sich der von Gott eingesetzten Obrigkeit widersetzen dürfe? Ob er sich einbilde, dass ein Laie zum Predigen berufen sein könne? Ob der Teufel ihm eingeblasen habe, dass das Brot nicht der Leib Christi sei?
Dabei blickte er, die Hände auf den Tisch gestützt und weit übergebeugt, Kepler aus kleinen, funkelnden Augen drohend an.
Darauf wolle er sich nicht einlassen, antwortete Kepler; er habe im Sinn, bei der lutherischen Lehre zu bleiben, auf die er getauft sei; es möchte auch sein, dass die Lehre Kalvins Irrtümer einschließe, nur könne und wolle er nicht einsehen, warum man sie deshalb verfluchen müsse.
So? rief Hizler hohnlachend, den Grund wolle er wissen, warum man sie verfluchen solle? Kepler möchte doch ihm den Grund sagen, warum man sie nicht verfluchen solle, die der Wahrheit ins Gesicht lögen und wider die Rechtgläubigkeit anbellten!
So möchten er und andere sie immerhin verfluchen, sagte Kepler, nur er könne es durchaus nicht tun, weil er keinerlei Hass oder Abneigung gegen sie habe.
Dabei beruhigte sich Hizler aber keineswegs, sondern kam an den folgenden Tagen wieder, um Kepler abwechselnd zu bedrohen und zu beschwören, dass er die Konkordienformel unterschreibe. »Lieber«, rief er fast weinend, »was gehen dich die Erzschelme und Teufelskinder von Kalvinisten an? Ach Lieber, verfluche sie doch! Verfluche sie in Gottes Namen! Verfluche sie wenigstens mit der Zunge, wenn auch dein Herz nicht dabei ist!« Indessen trotz seiner Verträglichkeit tat ihm Kepler den Willen nicht, worauf Hizler ihn, wie er gedroht hatte, vom Abendmahl ausschloss. Dies glaubte Kepler als einen groben Schimpf sich nicht bieten lassen zu sollen und wendete sich klagend an das Konsistorium in Stuttgart. Wegen seiner Parteinahme für den Gregorianischen Kalender schon vordem gegen ihn eingenommen, entschied dasselbe dahin, Kepler sei ein Schwindelhirnlein, das sich allzu sehr aufblase, wenn er glaube, in theologischen Fragen andere meistern zu können; er solle richtige Kalender machen und fleißig in seinem Berufe sein, in der Theologie aber sich von denen zurechtweisen lassen, die dazu befugt seien.
Seitdem blieben die beiden Landsleute verfeindet; Hizler suchte Kepler, wo er ihn traf, durch ingrimmige Blicke und vor sich hin gemurmelte Scheltworte aus dem Gleichgewicht zu bringen. Unter diesen Widerwärtigkeiten litt Kepler umso mehr, als er neuerdings durch Nachrichten aus der Heimat empfindlich beunruhigt wurde; seine Mutter nämlich, die in Güglingen lebte, war der Zauberei verdächtigt worden.
Katharina Kepler, eine kleine, braune, durch vielerlei Mühseligkeiten früh gebeugte Frau, die aber munteren und beweglichen Geistes war, lebte, seit ihre hübsche sanfte Tochter Margarete sich mit dem Pfarrer Binder verheiratet hatte, ganz allein in leidlichen Verhältnissen. Ihr Mann war vor vielen Jahren, des häuslichen Lebens müde, in den Türkenkrieg gezogen und dort verschollen; ihre Söhne waren, bis auf Johannes, ohne höhere Bildung aufgewachsen, einer war, wie einst sein Vater, als Söldner dem Kriege nachgezogen und kam mit Frau und Kindern bettelarm zurück, nachdem er in der Fremde katholisch geworden war. Entrüstet wies ihn die Mutter, bei der er jetzt unterschlüpfen zu können hoffte, von ihrem Tische. In ihrer Einsamkeit vertrieb sie sich die Zeit, die sie sich durch Lesen nicht verkürzen konnte, denn das verstand sie nicht, mit wunderlichen Träumereien oder dadurch, dass sie Besuche aus der Nachbarschaft empfing, mit denen sie bei einem Glase Würzwein plauderte. Irgendwie verdarb sie es mit manchen von diesen Bekannten, vielleicht weil ihre Augen, obwohl sie fern an den Leuten vorbei ins Weite schweiften, doch tief eindrangen und sie mit unbedacht scharfer Zunge unliebsame Wahrheiten sagte. So kam es dahin, dass eine Frau namens Reinbold, die unter einer immer zunehmenden Lähmung und Verkrümmung der Gliedmaßen litt, die Kepler beschuldigte, ihr das Leiden, mit dem kein Arzt sich auskenne, angehängt zu haben.
Während dies im Gange war, traf es sich, dass ein Bruder dieser Frau, der Barbier Kräutlein, und der Vogt Luther Einhorn bei einem ihnen befreundeten Förster mit dem Bruder des regierenden Herzogs, dem Prinzen Achilles, zusammenkamen, der gerade in der dortigen Gegend jagte. Bei dem gemeinsamen Mittagessen erzählte der Barbier, wie seine Schwester von der Keplerin unheilbar verzaubert sei und dass seiner Meinung nach die alte Hexe gezwungen werden müsse, die Kranke wieder gesund zu machen. Prinz Achilles zeigte sich begierig, mehr von dem Hexenwesen zu vernehmen, womit ihn denn der Vogt und der Barbier gut bedienen konnten. Er vermesse sich, sagte der Vogt, eine Hexe bloß am Gesicht zu erkennen, er habe schon viele prozessiert, er kenne jetzt ihre Schliche, und es könne ihm keine entschlüpfen.
Ob man sich denn dabei nicht den Teufel auf den Hals ziehe, fragte Prinz Achilles, als den Buhlen der Weibsbilder?
Ach, rief der Barbier kichernd, man müsse den Teufel nur nicht fürchten, so könne er einem auch nichts anhaben. Auch glaube er gar nicht, dass dem Teufel viel an den alten Vetteln gelegen sei, deren es ja mehr als genug gebe. Einmal, erzählte er, sei er in den Turm zu einem Hexenverhöre gerufen worden, weil der Henker bei einer Beklagten das Teufelsabzeichen, welches man Stigma nenne, entdeckt habe, sie hingegen es für eine Narbe habe erklären wollen, die nach einem von ihm, dem Barbier, weggeschnittenen Wärzlein zurückgeblieben sei. Dort habe die Frau splitternackt ausgezogen auf einem Stuhl gesessen, laut heulend, während mehrere Richter sie gehalten und an der Narbe oder dem Teufelszeichen, das an ihrer Brust gesessen sei, herumgedrückt hätten. Er hätte es denn auch in Augenschein nehmen müssen, hätte sich auch wohl des Wärzleins erinnert, aber als ein vorsichtiger Mann nichts davon gesagt, sondern gefragt, ob denn der Henker schon die Probe gemacht habe? Denn er wisse wohl, dass, wenn mit einer Nadel in den Flecken hineingestochen werde und kein Blut danach komme, dies ein hinlänglicher und vollgültiger Beweis für die Teufelsbuhlschaft sei. Darauf habe der Henker gelacht und gesagt, freilich habe er das schon getan, die Herren ließen sich eben von der Erzschelmin am Narrenseil führen, worauf er gleich noch einmal mit einer langen, spitzen Nadel in das Mal hineingefahren sei. Er habe denn auch des Heulens und Schwörens der Person ungeachtet gesagt, er wisse nichts von einem Wärzlein, kenne sie auch nicht, worauf sie gehörig gefoltert und zu Asche verbrannt worden sei.
Prinz Achilles, der schon ein wenig angetrunken war, hörte begierig mit rotem Kopf und glänzenden Augen zu. Und splitternackt sei sie gewesen? fragte er; ob sie denn während des Folterns auch splitternackt ausgezogen wären? Der Vogt und der Barbier bogen sich vor Lachen; freilich, sagten sie, ob man etwa Weiber, die sich nicht schämten, mit dem Teufel zu buhlen, wie Klosterjungfern behandeln solle? Das hätte er nicht gewusst, rief der Prinz, er möchte für sein Leben gern einmal dabei sein, und es wäre etwas gar Schönes und Verdienstliches, den Teufelsdirnen einen Denkzettel zu geben. Ja freilich, brüllte der Vogt, einen feurigen, mit dem sie zur Hölle führen, und so solle man es der Keplerin auch machen, wenn sie den guten frommen Leuten etwas anhänge. Ja, wenn seiner Schwester zu ihrem Rechte verholfen würde, sagte Barbier Kräutlein, wolle er sich dankbar erweisen; worauf der Prinz und der Vogt ihn vertrösteten, die Sache solle betrieben werden, es müsse seltsam zugehen, wenn man einem alten Weibe nicht Meister würde.
Dieser Verabredung gemäß begaben sich Barbier Kräutlein und Vogt Einhorn zu Frau Kepler, hielten ihr vor, was sie begangen haben sollte, und gaben ihr unter Drohungen anheim, den Zauber, durch den sie die Reinbold krank gemacht hätte, wieder aufzuheben. Die Keplerin verteidigte sich tapfer, sie habe die Reinbold nicht verzaubert, verstehe sich auch gar nicht darauf; nach ihrer Ansicht habe die Frau in früherer Zeit einmal heimlich mit einem Manne zu tun gehabt und die Frucht abzutreiben versucht, woraus der Gliederschaden entstanden sein möge. Hierdurch erbitterte sie ihre Feinde noch mehr, was sie aber nicht anfocht; vielmehr bewog sie ihren Sohn, den Zinngießer, und ihren Schwiegersohn, den Pfarrer Binder, eine Beleidigungsklage für sie einzureichen wegen des schimpflichen, ihr zugemuteten Verdachtes.
Der Prozess nahm seinen Anfang, verlief aber nicht so, wie die ihrer Unschuld sich bewusste Frau Kepler für selbstverständlich angenommen hatte; denn die beklagte Partei suchte durch Zeugen den Beweis zu erbringen, dass sie in der Tat mit Hexenwerk umgehe, wodurch eine Menge Weitläufigkeiten und neue Gefahren entstanden. Da kam ein Schuster, der Jahre hindurch fast täglich ein Stündchen bei ihr verplaudert hatte, und behauptete, sie habe ihm in einem Glase Wein etwas Zauberisches beigebracht, wodurch er bettlägerig geworden sei; ferner der Totengräber, der angab, sie habe ihn vor Jahren gebeten, ihr den Schädel ihres verstorbenen Mannes zu verschaffen, sei aber auf seine gutgemeinte Warnung davon abgestanden. Dies leugnete sie nicht, sondern erklärte, sie habe im Sinne gehabt, ihrem Sohne Johannes einen Trinkbecher daraus machen zu lassen, damit er sich nach altem Glauben Kraft und Segen daraus trinke. Auch gab sie freimütig zu, kranke Kinder, zu denen man sie geführt habe, mit allerlei Versen besprochen zu haben, wie das von alters gebräuchlich sei und wovon man immer gute Wirkung verspürt habe. Sie fügte vorwurfsvoll hinzu, es komme ihr unmenschlich vor, dass die Eltern, die sie früher um ihre Hilfeleistung gebeten und ihr dafür gedankt hätten, sie jetzt derselben als einer abscheulichen Missetat zeihen wollten.
Die Kinder der Frau Kepler gerieten über diese Wendung des Prozesses in Aufregung und Sorge, und ihrer Tochter schien es am besten, dem Bruder Johannes in Linz davon zu berichten, der als ein gelehrter Mann und Astronom des Kaisers klug und mächtig genug sein werde, um ihrer Mutter aus der Bedrängnis zu helfen. Dieser riet, die Mutter solle unverzüglich zu ihm nach Linz kommen, damit werde der widerwärtigen Sache am schnellsten ein Ende gemacht. Diesem Vorschlag stimmten die Kinder lebhaft zu, halfen ihr, einige Habseligkeiten zusammenzupacken, und die Abreise ging zur Erleichterung aller vonstatten. Unterwegs aber, allein ihren Gedanken überlassen, stellte sie sich vor, wie daheim nun alle denken und sagen würden, dass sie augenscheinlich eine Hexe sei, sonst würde sie nicht die Flucht ergriffen haben; wie sie ihr Leben lang für eine Hexe würde gelten müssen und mit was für Augen ihr Sohn Johannes sie ansehen würde. Sie schalt sich töricht, dass sie ihren Kindern nachgegeben hatte: nichts Böses oder Teuflisches konnte man ihr nachweisen, vielmehr würde sie ihren heimtückischen Verleumdern obsiegen, sodass sich ihre Schande bloß vor aller Augen zeigen würde. Als sie unter solchen Gedanken in Ulm angekommen war, kehrte sie, ohne sich die berühmte Stadt anzusehen, sofort wieder um nach Hause, nicht nur zum Schrecken der Kinder, sondern fast auch ihrer Gegner, die bereits unsicher geworden waren, ob sie nicht am Ende selbst in die gefährliche Grube stürzen möchten. Da die Beute ihnen aber nun wieder erreichbar war und sie zurück nicht mehr konnten oder wollten, suchten sie im Stillen nach neuen Zeugen und Beweisen, um dann ihrerseits mit einer Anklage auf Zauberei hervortreten zu können.