Blindlings ins Glück

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„Baumann“, bemerkte sie trocken. „Johannes Baumann, der Leiter der Personalabteilung. Meinen Sie den?“

„Genau. Also, dieser Herr Baumann, was ist das für ein Mensch?“

Kohlmeis hatte seine Brille wieder aufgesetzt und senkte den Kopf ein wenig, um sie über die dicken Gläser hinweg anzusehen. „Sie haben den armen Mann ja förmlich als Ungeheuer dargestellt.“ Er schmunzelte. „Ein Chef, wie er im Buche steht. Aber warum, frage ich mich? Wie tickt dieser Mann ganz persönlich? Und wo könnte man ansetzen, um ihn zu wertorientierter Führung zu veranlassen? Was sind Ihre Schlüsse, Frau Bach, und was ist Ihr Erkenntnisgewinn?“

Ihr Erkenntnisgewinn? Wut stieg in Tabea auf und brannte in ihrer Kehle. Oh, sie hatte in diesen vier Wochen im letzten Herbst ganz gewiss eine Erkenntnis gewonnen: dass Johannes Baumann ein Mensch war, dem sie nie wieder begegnen wollte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob er mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn er war sehr beschäftigt damit gewesen, seine Mitarbeiter in Schach zu halten – allen voran die arme Barbara, die von ihm fast im Minutentakt getriezt worden war. Babsi, wo kommt das Chaos auf meinem Schreibtisch schon wieder her? Das gehört in die Ablage! Ach, heute mal im Rollkragenpullover – wollen Sie sich für die Außendienststelle in Sibirien bewerben? Und was sollen diese Hieroglyphen in meinem Terminkalender heißen, habe ich etwa um zehn ein Treffen mit dem ägyptischen Museum?

Wie dieser Mensch ganz persönlich tickte? Nein danke, das interessierte sie nicht die Bohne.

Prof. Dr. Kohlmeis ordnete die Blätter ihrer Arbeit fein säuberlich auf dem Tisch, ehe er sie beiseite legte.

Allmählich schien er Mitleid mit ihr zu haben, denn sein Blick wurde sanfter. „Nun gut. Mein Vorschlag wäre, dass Sie einen Persönlichkeitstest durchführen, um die Verhaltensmuster dieses Herrn Baumann detaillierter zu beschreiben. Ich dachte zum Beispiel an das FPI. Sie wissen, was ich meine?“

Tatsächlich erinnerte sich Tabea an das Freiburger Persönlichkeitsinventar, von dem sie das erste Mal in einer Überblicksvorlesung zu Beginn ihres Studiums gehört hatte. Das inzwischen etwas veraltete Verfahren funktionierte mit einem Katalog aus 138 Fragen. Das waren 138 Fragen mehr, als sie Johannes Baumann jemals stellen wollte. „Vielen Dank für die Anregung, Prof. Dr. Kohlmeis. Ich bezweifle allerdings, dass Herr Baumann für ein Interview oder gar einen psychologischen Test zur Verfügung stehen wird.“

Kohlmeis streckte die offenen Handflächen von sich und zuckte mit den Schultern. „Mit Verlaub, Frau Bach, das ist Ihr Problem.“ Er zog eine Augenbraue hoch, ließ seinen Blick noch einmal an ihr hinuntergleiten und ergänzte dann: „Gehen Sie nicht so viel auf Demonstrationen und dergleichen. Setzen Sie sich lieber an Ihren Schreibtisch. Das neue Kapitel können Sie mir ja per E-Mail zukommen lassen. So, jetzt muss ich los, bevor die Mensa schließt.“

Er erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, drückte kurz und kräftig ihre Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, das Zimmer zu verlassen.

Tabea wollte erwidern, dass sie nicht auf einer Demonstration gewesen war – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen –, aber der Professor war bereits vorausgegangen und wackelte ungeduldig mit dem Büroschlüssel, den er in seiner Rechten hielt.

So freundlich, wie es ihr Stolz zuließ, murmelte sie ein Dankeschön, nickte ihm zu und lief den schmalen Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein psychologischer Test mit dem größten Misanthropen des Jahrhunderts: Das konnte ja nur schiefgehen.

JOHNNY

Violetta legte ihre Finger fest um Johnnys Arm. Die langen Nägel kratzten auf seiner Haut. Trotzdem wartete er stoisch, bis sich endlich die Tür des Fahrstuhls schloss. Eine dichte Wolke aus Parfum und Nikotin erfüllte die enge Kabine und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Johnny spürte, wie der Kragen ihrer Lederjacke seinen Arm streifte. Er selbst schwitzte bei den hochsommerlichen Temperaturen, die in diesem Juni herrschten, obwohl er nur ein T-Shirt trug.

„Mutter“, versuchte er es noch einmal. „Ich hatte dich gebeten, mich nach Hause zu bringen.“

„Ich weiß.“ Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Aber ist es nicht besser, wenn du erst mal mit zu mir kommst?“ Sie ließ seinen Arm nicht los. „Ich kümmere mich doch jetzt um dich. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein armer Junge –“

„Sicher ist dir nicht entgangen, dass ich inzwischen ein erwachsener Mann bin.“

Darauf antwortete Violetta nur mit einem unterdrückten Schluchzen und Johnny war erleichtert, als sich die Fahrstuhltür surrend wieder öffnete.

Seine Mutter ging energisch voran und führte ihn in ihre Dreizimmerwohnung mit Blick über die Stadtteile Haslach und Weingarten, auch bekannt als Ha-Wei oder Hawaii. Ein knarzendes Geräusch zeigte Johnny, dass sie gerade einen ihrer Louis-XVI-Stühle vom Esstisch zog, und schon drückte sie ihn beherzt auf das weiche Polster. „Ich koche einen Kaffee. Du möchtest doch einen Kaffee?“, fragte sie mit zittriger Stimme, während sie den Glasschrank öffnete, in dem ihr Gin stand. Das Scharnier quietschte schon seit Ewigkeiten.

„Ich kann hören, dass du an der Vitrine bist. Schenk mir bitte auch einen ein.“ Erschöpft ließ Johnny den Kopf gegen die Lehne sacken. „Ach, was soll’s, gib mir einfach die Flasche rüber!“

Violetta seufzte. „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es in deiner momentanen Verfassung –“

„Mutter, ich bin nicht sterbenskrank.“

Jetzt stieß sie ein empörtes Schnauben aus. „Ha! Du tust ja so, als wäre das gar nichts … Ich kenne dich, mein Junge, du brauchst dich nicht zu verstellen. Lass es einfach raus.“

Johnny kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter so weitermachte, würden sich bald die Kopfschmerzen wieder melden. Er spürte schon ein unangenehmes Pochen hinter seinen Schläfen. Wieso, verdammt noch mal, hatte er sich kein Taxi gerufen? Konnte es sein, dass er irgendwo tief im Unterbewusstsein doch das Bedürfnis verspürte, sich von seiner Mutter trösten zu lassen wie ein kleiner Junge, der sich die Knie aufgeschlagen hatte? Die Vorstellung war absurd. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, vor ein oder zwei Monaten, hatte sie auf ihrem Samtsofa gesessen und ihn mit großen Augen angestarrt wie ein kleines Mädchen. Abgesehen davon, dass kleine Mädchen normalerweise keine Zigarillos rauchten. Dieser Bürokram macht mich ganz krank und du weißt doch, wie das geht! Der Steuerberater will Unsummen von mir, dabei habe ich es schwer genug. So ist das eben, wenn man allein ist. Aber ich habe mir immer zu helfen gewusst, seit mich dein Vater damals ...

Dann hatte sie wieder die alte Geschichte ausgegraben, darüber, dass sein Vater sie einfach weggeworfen hatte wie eine leere Zigarettenschachtel. Er war Bürgermeister von Haslach gewesen und sie folglich beinahe die First Lady of Hawaii, hätte er nicht im letzten Moment kalte Füße bekommen. Aber obwohl sein Vater sie schwanger und mittellos zurückgelassen hatte und sich seine Mutter seitdem mit einem Job im Callcenter durchschlug, war Violetta zufrieden, solange sie über ihr schweres Los jammern konnte. Und jetzt hatte ihr das Schicksal auch noch einen blinden Jungen aufgebürdet.

Johnny überlegte, ob er später ein Schlafmittel nehmen sollte, damit wenigstens diese Grübeleien aufhörten. Aber zusammen mit dem Alkohol? Andererseits: Was sollte denn passieren? Er spannte den Unterkiefer an. „Jetzt gib schon den Gin her!“

Zu seiner Erleichterung kam Violetta der Forderung nach. Johnny setzte die Flasche an die Lippen, aber allein von dem Geruch wurde ihm speiübel. Was machte er da bloß? Er musste in die Firma! Bestimmt wartete dort das reinste Chaos auf ihn. Wenn er im Krankenhaus mit Babsi telefoniert hatte, hatte er nichts als freundliche Genesungswünsche aus ihr herausbekommen. Es wurde Zeit, dass er sich selbst ein Bild von der Lage machte!

In diesem Moment setzte sich seine Mutter neben ihn an den Tisch. „Junge, stell die Flasche weg“, forderte sie. „Das ist nicht gut für deine … deine Nieren.“ Anscheinend hatte sie mit den Ärzten geredet. „Du weißt, dass du in ein paar Tagen zur Nachsorge musst, und bis dahin solltest du wirklich keinen Alkohol trinken!“

Bei diesen Worten waberte der Gestank nach Vanille und Nikotin noch eindringlicher zu Johnny herüber. Seine Mutter rauchte wie ein Schlot, wenn sie nervös war. Die Tatsache, dass ihr einziges Kind, ihr Vorzeigesohn, jetzt ein Wrack war, schien an ihrem ohnehin nicht sehr stabilen Nervenkostüm zu nagen. „Und du solltest nicht so viel rauchen, schon gar nicht in der Wohnung!“ Er tastete mit der rechten Hand nach der Tischplatte und stellte die Flasche vor sich ab.

„Wenn du wieder hier eingezogen bist, wirst du dich daran gewöhnen müssen“, gab sie kühl zurück.

Johnnys Puls beschleunigte sich und er sprang hastig auf. Er konnte spüren, dass der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, bedrohlich wackelte. „Wie bitte?“

„Na, allein kannst du wohl kaum bleiben. Und die große Wohnung in der Wiehre wird auf Dauer auch zu teuer sein, wenn du nicht mehr arbeitest.“

„Ich fahre jetzt nach Hause“, erwiderte Johnny kühl. Es kostete ihn alle Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren.

Auch Violetta klang gereizt. „Junge! Wir müssen über deine Zukunft sprechen. Wie stellst du dir das überhaupt vor?“

„Einen Scheiß muss ich!“ Verzweifelt tastete sich Johnny an dem schmalen Bartresen entlang, um zur Wohnungstür zu gelangen.

„Rede nicht so mit mir.“ Violettas Stimme zitterte. Er hörte, dass sie aufstand, um ihm zu folgen. Ehe er an der Tür war, packten ihn ihre Finger am Arm. Sie zog ihn zu sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Zigarettenrauch stieg heiß neben seinem Gesicht auf und ihr Schluchzen dröhnte in seinen Ohren.

 

„Entschuldige“, presste er leise hervor.

„Bleib doch erst mal hier. Du kannst im Kinderzimmer schlafen. Musst du noch deine Sachen holen? Ich rufe dir ein Taxi, aber verabschiede dich vernünftig von deiner Mutter.“

Zögerlich legte Johnny eine Hand auf ihre Schulter. Die Vorstellung, wieder bei seiner Mutter einzuziehen, lähmte seine Gedanken viel mehr als der Schock, unter dem er noch immer stand. Aber er wusste, dass sie recht hatte: Es war, zumindest im Moment, das Beste. „Schon gut“, sagte er. „Bis später, Mutter.“

Mit diesen Worten löste er sich von ihr und tastete nach dem Türgriff. Das Metall lag angenehm kühl in seiner Handfläche. Die Wohnungstür fiel lautstark ins Schloss.

Johnny tastete sich eilig ein paar Meter an der Wand entlang, dann blieb er stehen. Endlich frische Luft. So frisch, wie die Luft im fünften Stock eines Achtzigerjahre-­Plattenbaus in Haslach-Weingarten eben sein konnte. Und trotzdem war das jetzt alles, was ihm noch blieb. Seine Mutter hatte ausgesprochen, was er insgeheim schon seit seinem ersten Tag im Krankenhaus wusste – dass sein altes Leben vorbei war. Aber erst jetzt spürte er, wie ihm diese Gewissheit unerträglich langsam und beständig die Kehle zuschnürte.

Die folgenden Tage waren die Hölle: mit dem Kater und seiner Mutter eingepfercht in der viel zu kleinen Wohnung, mitten im Hochsommer. Er teilte sich das schmale Jugendbett mit dem Kater, umgeben von stummen Zeugen seiner Kindheit – Actionfiguren der Teenage Mutant Hero Turtles und Kassetten für den Walkman. Das Bett verließ er nur, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen, obwohl er Letzteres meist auch im Bett tat. Und natürlich, um notgedrungen den Termin bei seiner charmanten Hausärztin wahrzunehmen. Jetzt schien sie allerdings nicht mehr so charmant zu sein. Sie überprüfte seine Blutwerte, die wohl nicht allzu schlecht waren, und versuchte, ihn von allerlei Therapien und Maßnahmen zu überzeugen. Aber Johnny wollte davon nichts wissen und sagte nicht viel außer: Jaja, meine Mutter kümmert sich darum.

Anfangs las Violetta ihm ständig aus medizinischen Ratgebern oder von irgendwelchen Wunderheilern vor. Sie ging allmählich dazu über, ihn wieder zu umsorgen wie ein Baby, indem sie sein Essen kochte, seine Wäsche wusch, ihm jeden Morgen den Bart trimmte und ihm die Hemden zuknöpfte. So, als wäre er dazu nicht selbst in der Lage. Es war schrecklich, aber Johnny fehlte die Kraft zum Widersprechen. Ab und zu stellte er sich sogar vor, wie es gewesen wäre, wenn er einfach noch ein paar Schlucke mehr von dem Schnaps getrunken hätte. Dann wäre ihm dieses Elend erspart geblieben.

Nur in den wenigen Stunden, wenn Violetta im Callcenter war, stand er manchmal auf und versuchte, sich allein etwas zu essen zu machen oder ihre Sammlung kleiner Parfumflakons im Setzkasten durcheinanderzubringen, um sie zu ärgern. Mehr als einmal verfluchte er sich dafür, dass er sich hatte überreden lassen, bei ihr zu wohnen, denn jetzt musste er nicht nur mit einer neuen Situation, sondern auch mit einer unbekannten Umgebung zurechtkommen. Er kannte sein eigenes Appartement in- und auswendig, aber die Wohnung seiner Mutter, in der alle Möbelstücke mit einem hartnäckigen Nikotindunst überzogen waren und sentimentale Erinnerungen in jedem Zimmer lauerten, hatte er in den letzten Jahrzehnten gemieden, so gut es ging.

Einmal verließ Johnny die Wohnung sogar. Er arbeitete sich zum Aufzug vor und schaffte es nach einer kleinen Irrfahrt durch die diversen Stockwerke des Gebäudes, im Erdgeschoss durch das Foyer zu gehen. Vor dem Haus war eine Wiese und die Sommerluft umfing ihn warm, duftend und verlockend. Das war sein erster Spaziergang ohne Begleitung seit Wochen. Am liebsten hätte er den Kater mitgenommen, der eigentlich ein Freigänger war und vom Balkon seines Appartements aus die Wiehre erkundete. Aber das wäre zu riskant gewesen.

Mit etwas Mühe fand Johnny auch den Weg zurück ins Gebäude und dann in den achten Stock. Allerdings hatte er aus Gewohnheit die Wohnungstür hinter sich zugezogen und saß an diesem Abend fast zwei Stunden auf dem Flur, bis seine Mutter wieder nach Hause kam und ihm unter Vorwürfen die Tür aufschloss.

Das waren kleine Siege, aber sie bedeuteten ihm alles. Als er es eines Abends geschafft hatte, sich eine Tiefkühllasagne aufzutauen, ohne dass sie im Backofen verkohlt war – am Tag zuvor hatte er bei dem Versuch, ohne seine Mutter zu essen, fast die Wohnung in Brand gesetzt –, überkam ihn ein seltsames Gefühl: Johnny war stolz. Stolz darauf, es allein geschafft zu haben. Er fand sogar den Flaschenöffner und machte sich entgegen allen Warnungen ein Bier auf.

In diesem Moment wusste er, dass er seine Freiheit wiederhaben wollte. Es gab da draußen noch ein Leben, das ohne ihn weiterging, und er wollte es nicht verpassen. Deshalb musste er hier weg und zurück in sein eigenes Reich. Kurzerhand packte Johnny seine Sachen zusammen, zumindest die, die er auf Anhieb finden konnte, schickte seiner Mutter eine knappe Sprachnachricht und bestellte sich und dem Kater ein Taxi.

In seinem Appartement war es angenehm kühl. Ein schwacher, beißender Geruch nach Putzmittel lag noch in der Luft. Jeden Donnerstag kam seine Haushaltshilfe, Milena Kowalski, und auch in den letzten Wochen hatte sie in seiner Wohnung nach dem Rechten gesehen und ab und zu Staub gewischt. Johnny zog die Wohnungstür hinter sich zu, stellte die Transportbox des Katers auf dem Parkett ab und öffnete den Reißverschluss.

Er holte tief Luft und versuchte, unter dem künstlichen Zitronenduft noch etwas anderes, Vertrautes auszumachen, das ihm zeigen würde, dass er zu Hause war. Aber die beruhigende Gewissheit blieb aus. Bis auf das sanfte Tapsen der Katzenpfoten auf dem Holz lag das Appartement vollkommen still da. Johnny streckte die Arme schräg nach vorne aus und tastete sich zum Wohnzimmer vor. Er wollte sich gerade auf sein Sofa fallen lassen, als das schrille Klingeln des Telefons den Raum erfüllte.

Johnny zuckte zusammen und fühlte, wie sein Puls einen unangenehmen Sprung machte. Wahrscheinlich war das seine Mutter, die wissen wollte, ob er tatsächlich heil angekommen war. Er versuchte, das Geräusch zu ignorieren, aber eigentlich hatte er das Bedürfnis, mit einem anderen Menschen zu sprechen – um sich davon zu überzeugen, dass er trotz der Zeit, die er eingepfercht in der Plattenbauwohnung verbracht hatte, immer noch bei Verstand war.

Unentschlossen zog Johnny das iPhone aus der Hosentasche. Er könnte seinen Kumpel Dirk anrufen, aber ihm war nicht danach, zu erklären, was in den letzten Wochen passiert war. Nein, er sehnte sich einfach nach einer belanglosen Unterhaltung. Johnny zögerte kurz, dann sagte er: „Siri, ruf Babsi an.“

Es klingelte ganze zehn Mal, ehe sie ranging. „Babsi! Wieso dauert das denn so lange? Wie läuft es in der Firma und … wie geht es Ihnen sonst so?“

„Sind Sie noch im Krankenhaus? Was sagen die Ärzte?“, fragte sie zurück.

„Nein, ich bin zu Hause. Den Rest erzähle ich Ihnen lieber persönlich. Kommen Sie vorbei? Ich bestelle uns auch eine Pizza.“ Er musste zwar dringend wieder auf seine Ernährung achten, vor allem jetzt, wo er keine Möglichkeit mehr hatte, joggen zu gehen, aber das konnte auch bis morgen warten.

„Ich hatte für heute Abend schon andere Pläne.“

„Sagen Sie bloß, Ihr Verlobter hat was dagegen?“

Babsi schwieg.

Johnny unterdrückte ein verärgertes Schnauben. Die Lust, sich mit seiner Assistentin zu streiten, war ihm plötzlich vergangen. „Okay. Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn es etwas Neues im Büro gibt, ja? Ich soll noch ein paar Tage zu Hause bleiben, aber vielleicht schaue ich trotzdem mal vorbei.“

Babsi atmete lange aus. „Diavolo oder Speciale?“

„Was?“

„Ihre Pizza. Ich komme sowieso bei Domino’s vorbei, wenn ich zu Ihnen fahre.“

„Oh, ach so. Speciale in dem Fall. Und eine Flasche Wein, wir wollen es uns doch gemütlich machen.“

Babsi legte auf, dabei musste sie doch wissen, dass er sowieso niemals das Gesöff vom Pizzabäcker trinken würde, oder?

Eine Dreiviertelstunde später klingelte es an seiner Tür. Johnny drückte die Taste an der Freisprechanlage und lauschte, bis Schritte auf der Treppe erklangen.

„Hallo“, sagte sie und zwängte sich mit den zwei Pizzakartons an ihm vorbei.

„Sie finden den Weg ja selbst“, erwiderte er halb im Scherz und legte eine Hand auf ihre Schulter, um ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Es tat gut, dass sie nicht so an ihm herumzerrte wie seine Mutter, die ihn wie einen leblosen Gegenstand hin- und hergeschoben hatte, wenn er ihr im Weg stand. Johnny konnte hören, wie Babsi sich auf sein Ledersofa plumpsen ließ.

„Trinken wir was zusammen?“

„Wein habe ich nicht mitgebracht, aber ich kann Ihnen ein Glas Wasser holen.“

„Von mir aus“, antwortete Johnny. „Geschirr steht in der Küche, bedienen Sie sich.“

Babsi ging aus dem Zimmer. Er hörte, wie sie mit den Gläsern hantierte und das Wasser in die Spüle plätscherte, dann kam sie wieder herein.

„Und ziehen Sie doch die Schuhe aus.“

„Wie bitte?“

„Die ruinieren das Parkett.“ Er versuchte, ein empörtes Gesicht zu machen, aber weil er ihre Reaktion nicht beobachten konnte, kam er sich dabei vor wie ein Clown.

Babsi stellte die Gläser auf dem Couchtisch ab, schob den Pizzakarton weiter zu ihm herüber und öffnete ihn mit einem leisen Rascheln. „Bitte schön, guten Appetit. Ist schon geschnitten.“

„Danke.“ Johnny tastete nach dem Karton, aus dem ein herrlicher Duft zu ihm herüberwaberte, aber als seine Finger auf die Pappe stießen, hielt er inne. Während der Zeit bei seiner Mutter hatte er meist allein im Kinderzimmer gegessen und sich eingeredet, das läge an ihrer schlecht bekömmlichen Gesellschaft. Aber jetzt wurde Johnny klar, dass es ihm schlicht unangenehm war, vor anderen Leuten zu essen.

„Warum haben Sie es sich anders überlegt, Babsi?“, fragte er, um die Stille zu überbrücken. Noch im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte. Er tastete suchend mit den Fingern nach seinem Getränk.

Babsi stellte ihr Wasserglas ab. „Weil Ihr Leben plötzlich auf den Kopf gestellt worden ist. Sie haben niemanden, der für Sie da ist, und ich habe kein Herz aus Stein.“

Johnny schluckte mühsam. Ihre Worte trafen ihn, weil sie wahr waren. Trotzdem: Er war schon lange allein gewesen. Und Einsamkeit hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Nur hilflos sein, das wollte er ganz sicher nicht. „Und was sagt Ihr Verlobter dazu?“, hakte er nach und nahm das Wasser entgegen, das sie ihm hingeschoben hatte, sodass das kühle Glas sein Handgelenk streifte.

„Er sieht es nicht gern, aber Job ist Job.“

„Hm.“ Johnny nahm vorsichtig mit beiden Händen ein Pizzastück aus dem Karton. „Er wird sich schon daran gewöhnen, wenn Sie in Zukunft häufiger hier sind. Wie ist Ihre Pizza? Hawaii, würde ich wetten.“ Natürlich wusste er, dass sie Vegetarierin war.

Babsi schwieg und rutschte auf dem Sofa herum. Er konnte hören, wie ihre nackten Beine auf dem Leder quietschten. Im Büro trug sie immer Strümpfe und irgendwie fand er den Gedanken befremdlich, dass sie überhaupt etwas anderes tragen sollte als Rock und Blazer, selbst in ihrer Freizeit.

„Was soll das heißen: Ich werde öfter hier sein?“, fragte Babsi in einem Tonfall, der ihn an ein trotziges Kind erinnerte. Er hatte plötzlich große Lust, sie aufzuziehen wie früher, aber er konnte es sich nicht erlauben, sie gleich wieder zu vergraulen. Denn der Einfall, der ihm gerade eben gekommen war, war brillant. Johnny hob beschwichtigend die Hand. „Nicht das, was Sie wieder denken. Ich werde Ihnen ein vollkommen seriöses Angebot machen. Eines, das Sie nicht –“

„Kommen Sie zur Sache, bitte.“

Er seufzte. „Schon gut. Sie schaffen es auch immer, die Stimmung zu ruinieren.“ Er hätte einige bunte Scheine darauf gewettet, dass sie jetzt die Augen verdrehte. „Also, Sie wissen ja, dass ich Sie schätze. Sie leisten hervorragende Arbeit, sind immer zuverlässig und akkurat.“ Plötzlich war er wieder ganz der Personalchef, selbst in der Jogginghose und dem ausgeleierten T-Shirt. „Aber … solange ich noch zu Hause bin – und das dürften zumindest noch ein, zwei Wochen sein –, gibt es im Büro nicht viel für Sie zu tun. Hier könnte ich Sie besser gebrauchen. Für ein paar alltägliche Dinge, als private Assistentin sozusagen.“ Jetzt schwang in seiner Stimme kein Sarkasmus mehr mit. So könnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Babsi würde ihm bei täglichen Erledigungen behilflich sein und ihn gleichzeitig über alles informieren, was in der Firma vor sich ging.

 

„Sie wollen in ein oder zwei Wochen wieder ins Büro kommen?“, fragte sie. Die Skepsis in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich.

„Ja. Wieso denn nicht?“

„Na ja – ich … es … “ Babsi verstummte.

Bildete er sich das ein oder hatte er es tatsächlich geschafft, sie in Verlegenheit zu bringen?

„In der Firma ist man noch nicht sicher, wie es nach Ihrem … Unfall weitergehen soll.“

Er erwiderte nichts.

Sie schien einen Moment zu überlegen, dann fuhr sie fort. „Herr Döring meint, dass Sie unter diesen Umständen vorerst nicht in die Abteilung zurückkehren können. Es gibt allerdings spezielle Rehabilitationsmaßnahmen für den Wiedereinstieg in den Beruf. Ich könnte Ihnen helfen, die Anträge auszufüllen, und vielleicht ergeben sich in der Zwischenzeit Möglichkeiten, dass Sie anderweitig …“

„Wie bitte?“ Johnny ließ sein angebissenes Pizzastück in den Karton fallen und stand abrupt auf. „Ich brauche keine Rehabilitationsmaßnahmen! Und was soll das überhaupt heißen, ich kann nicht in die Abteilung zurück? Das hätte ich ja nicht mal von Döring erwartet. So ein verdammter Mistkerl! Selbst blind bin ich immer noch zehnmal fähiger als dieser Idiot!“

Und das war eine schamlose Untertreibung. Seit der neue Geschäftsführer vor etwas über einem Jahr die Leitung der Firma übernommen hatte, ging es nach Johnnys Meinung mit Sanacur bergab. Das Unternehmen biederte sich vielversprechenden Kunden gegenüber geradezu an, umgarnte sie mit teuren Geschäftsessen und protzigen Präsentationen, anstatt wie zuvor durch Qualität zu überzeugen. Nicht dass Johnny etwas gegen gutes Essen oder schicke Technik einzuwenden gehabt hätte, aber er konnte es nicht ausstehen, wenn nichts hinter der blendenden Fassade steckte. Wobei er ja gute Arbeit leistete. Menschenkenntnis und Intuition machten einen hervorragenden Personaler aus und er konnte die Stärken und Schwächen der meisten Menschen schon auf den ersten Blick erahnen. Nach einem kurzen Gespräch kannte er ihr Potenzial. Das galt zumindest für die Zeit, als er noch in der Lage gewesen war, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen.

Babsi klopfte angespannt mit den Fingernägeln auf den Tisch.

„Sie wissen, dass ich mich aus solchem Gerede he-

raushalte, Herr Baumann. Wie dem auch sei: Ich helfe Ihnen gerne mit dem Papierkram, wenn ich kann, aber ich werde auf keinen Fall Ihre persönliche Krankenschwester sein.“

Bildete er sich das nur ein, oder war ihr Tonfall ihm gegenüber forscher geworden? Er war vielleicht ein wenig paranoid, aber nicht dumm. Sie wusste genau, dass er eine Konfrontation mit Döring nicht überstehen würde – auch wenn er schon seit fast einem Jahrzehnt in der Firma arbeitete. Johnny lächelte verbittert in sich hinein.

„Babsi“, begann er schließlich und versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. „Wenn Sie es nicht für Ihren Vorgesetzten tun können, dann tun Sie es doch für einen alten Freund. Wollen Sie mich ausgerechnet jetzt hängen lassen? Herrgott noch mal, meine Mutter will, dass ich wieder bei ihr einziehe! Verlegen Sie doch einfach Ihr Büro in mein Gästezimmer.“

Babsi schnaubte verärgert. „Für solche Fälle gibt es Sozialarbeiter, Johannes. Ich werde dir sicher nicht beim Anziehen und Duschen helfen! Es war ein Fehler, überhaupt hierherzukommen.“

In diesem Moment entglitt Johnny ein spöttisches Lachen, ehe er es verhindern konnte. Selbst in seinen eigenen Ohren klang er verzweifelt, ja, beinahe hysterisch. Hatte sie ihn geduzt? Und beim Vornamen genannt! Johannes nannte ihn ja nicht einmal seine eigene Mutter. Babsi hielt ihn für einen Invaliden. Einen Krüppel, der sich nicht ohne Hilfe waschen und anziehen konnte. Und für größen­wahnsinnig noch dazu, aber das war ja nichts Neues.

Obwohl ihm klar war, dass sie ihn missverstanden hatte, lagen ihm ihre Worte im Magen wie ein Stein. Das Lachen verklang und er starrte in die Leere. Die Vorstellung, wie Babsi ihn duschte, nahm vor seinem inneren Auge Form an, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er kannte Dutzende Frauen wie sie und er hatte immer geglaubt, dass ihm diese Geschichten nichts bedeuteten. Aber jetzt? Würde er jemals wieder mit einer Frau zusammen unter der Dusche stehen?

Er wollte zu Babsi herübergehen und wenigstens ihre Hand berühren. Dem Spott und vor allem dem Mitleid die Stirn bieten, aber die Übelkeit, die in ihm aufstieg, überwältigte ihn. Er war doch immer noch ein richtiger Mann … War er das? Die Frage hallte in seinen Gedanken wider, ließ alte Erinnerungen und neue Ängste aufsteigen, die sich miteinander verwoben und sich wie ein Seil um seinen Hals legten, immer fester, bis er flach um Luft rang und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er war nur noch ein kranker Körper, eine papierdünne Hülle und darunter ein gebrochener Mann. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, sich nicht vor seiner ehemaligen Assistentin auf den Teppich zu übergeben.

Babsi stand auf, brachte ihr Glas und den Pizzakarton in die Küche und verabschiedete sich wortkarg. Johnny konnte sich gerade noch so lange zurückhalten, bis die Wohnungstür ins Schloss fiel. Dann stürmte er ins Badezimmer, stieß sich auf dem Weg den Ellenbogen und den Knöchel und brach über der Kloschüssel zusammen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis er endlich in der Lage war, aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen und den Mund auszuspülen. Als das Rauschen des fließenden Wassers verklungen war, miaute es neben ihm. Sein Kater. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn plötzlich und schmerzte fast mehr als das wunde Gefühl in seiner Kehle. Er nahm das Tier hoch und trug es in die Küche. Dort suchte er den Wassernapf und füllte ihn auf. Er fand auch eine Dose Katzenfutter im Schrank. Als er sie öffnete, wurde ihm wieder ein wenig übel. Trotzdem kratzte er das Futter in den Napf und stellte es auf den Boden. Sein Kater machte sich schmatzend über die Mahlzeit her und schmiegte dann dankbar den Kopf in seine Hand, die noch immer ein wenig zitterte. Der Flaum im Katzennacken war weich und Johnny schloss die Augen, obwohl es nicht nötig war.

Er wählte Babsis Nummer an diesem Abend nicht noch einmal, weil ihm die Kraft fehlte. Stattdessen schickte er ihr eine kurze Sprachnachricht: „Barbara, bitte leiten Sie das mit dem Sozialarbeiter in die Wege, es wäre mir eine große Hilfe.“