Schroeders Turm

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Kapitel 1

Auf den ersten Blick wirkte der Raum recht düster, doch wenn man genauer hinschaute, sah man, dass das Zimmer mit Stilgefühl eingerichtet worden war. Na, von einem Zimmer konnte man wohl schlecht sprechen – Büro bleibt Büro. Wie im gesamten Turm gab es auch hier keine Fenster – der Regen verätzte ohnehin die Scheiben und das Elend da draußen wollte doch niemand sehen.

Es war das Büro von Orion Schroeder, seines Zeichens Criminal Commisär des Sicherheitsdienstes von Turm 17.

Alles in allem schien der Kerl Geschmack zu haben. Zwischen den Aktenbergen auf seinem Schreibtisch stand ein kleines Orangenbäumchen – was von seinem guten Draht zu einem der Hydroponikgärten sprach –, ein dreiarmiger Kerzenleuchter mit echten Kerzen – die er aber niemals anzündete, dazu waren sie zu rar. Unter der altmodischen Schreibtischlampe stand ein Foto des Matterhorns in den Alpen. Oder wie das Matterhorn wohl mal ausgesehen haben muss vor diesem ganzen Scheiß von Umweltkatastrophen, saurem Regen, Aschewolken, den Türmen und diesen glubschäugigen Aliens.

An den Wänden hingen ein paar Repliken von Kandinsky und Hundertwasser und gaben dem Raum schon fast so etwas wie Gemütlichkeit.

Orion saß an seinem Schreibtisch, der von der alten Lampe in matte Helligkeit getaucht war, und hatte das Kinn auf eine Hand gestützt. Seit Stunden brütete er vor sich hin. Schroeder war von kräftiger Statur, bei 190 Zentimetern Körpergröße. Er hatte strohblondes Haar und ein offenes, freundliches Gesicht. Er strahlte Vertrauen aus, was ihm bei seiner Arbeit durchaus Vorteile bescherte. Seinen etwas außergewöhnlichen Vornamen verdankte er der Sehnsucht seiner Eltern, denn Sterne oder gar Sternbilder hatte schon lange niemand mehr gesehen. Nicht seitdem die Aschewolken den Himmel verdunkelten.

Auf dem Schreibtisch lagen Portraits von vier seit Kurzem vermissten Personen: eine Klimatechnikerin, eine Wäscherin, eine Mechanikerin und ein Elektroingenieur und angehender Champion der Turmspiele.

Vier Vermisste! Das gibt es doch nicht!, dachte er. Hier passiert doch eigentlich rein gar nichts. Mal ein Streit in einer Bar wegen eines Mädchens, hier und da ein paar verschwundene Sachen oder abfällige Schmierereien gegen die Sator’ri. Eigentlich waren die Schichten des Sicherheitsdienstes von Langeweile geprägt! Und nun so was.

Es waren vor zwei Jahren schon mal ein paar Leute verschwunden, hatte er von seinen Kollegen gehört, als er vor sieben Monaten seinen Job angetreten hatte. Man dachte, die wären nach draußen gegangen, weil sie die Enge des Turmes nicht vertragen hätten. Angeblich soll es ja wirklich Leute geben, die in den Ruinen von Düsseldorf lebten. Aber wer ist schon so verrückt, freiwillig sich dieser Umwelt auszusetzen, wenn er hier im Turm sicher und versorgt sein kann.

Nur Irre!

Er würde jedenfalls mit seinem Hintern hier drinnen bleiben, auch wenn er gern mal im Freien spazieren gegangen wäre. Über eine Wiese oder so, oder durch einen Wald – wenn es so was überhaupt noch gab.

Orion Schroeder fühlte sich überfordert. Verdammter Mist, – jetzt musste er der Sache auf den Grund gehen. Das verlangten sein Job und vor allem sein Chef Obercriminal Commisär Friedrich Wolf.

Nun ja, dann mal ran an die Arbeit, dachte er und griff zum Kommunikator.

„Fritsche, komm mal in mein Büro!“, zitierte er seinen Assistenten zu sich.

Mit ihm arbeitete er seit ein paar Wochen zusammen, seit Fritsche von der Criminalakademie gekommen war. Der Typ war ganz in Ordnung, wenn man mal von seinen manchmal unpassenden Sprüchen absah.

„Hallo, Chef.“

Fritsche stürmte in den Raum. Im Gegensatz zu Orion war Fritsche ein hagerer Typ, hatte dunkle kurze Haare und ebenfalls ein freundliches Gesicht mit einem kleinen Bärtchen unter der Nase. Komischerweise trug er eine dunkel umrandete Brille, obwohl er normal sehen konnte. Dazu stellte Fritsche sich immer etwas linkisch an, war aber ein heller Geist mit einer schnellen Auffassungsgabe.

„Sag nicht immer Chef zu mir, du Knaller! Setz dich, es gibt Arbeit für uns.“

Fritsche sah Orion mit großen Augen an.

„Ist wieder ein Handtuch im Schwimmbad auf mysteriöse Weise verschwunden oder planen die Sator’ri eine Invasion unseres Turmes?“

„Ach was! Du und deine blöden Sprüche! Es ist was Ernstes – vier Leute sind auf seltsame Weise verschwunden!“

Fritsche blieb der Mund offenstehen.

„Nicht wahr, oder?“

„Doch, leider, und der Wolf hat uns den Fall übertragen.“

„Ach ne! Das bedeutet wohl, dass die ruhige Zeit erstmal vorbei ist und wir richtig ermitteln müssen?“

„Fritsche, du hast es erfasst! Komm, lass uns mal die vier Fälle durchgehen, vielleicht stoßen wir schon dabei auf irgendwas!“

Orion Schroeder nahm sich die erste Akte und schlug sie auf.

„Allysia Lehmann – Klimatechnikerin im Turm, arbeitet in Schicht B, 23 Jahre alt, unverheiratet und wohl auch ungebunden. Hat 2307 ihre gesamte Familie an die Phobie verloren. Ihr Verschwinden ist erst aufgefallen, als sie nach den Freischichten nicht zu Arbeit erschien. Man fand ihren Scanner in einem Rohrschacht, den sie zwei Tage zuvor zu überprüfen hatte.“

Orion schlug die Akte zu, schob sie zur Seite und griff sich die nächste.

„So, die zweite im Bunde ist Martha Blumenzweig, arbeitet in der Turmwäscherei, ist Single, 24 Jahre alt, sie verschwand während ihrer Schicht. Die Kollegen haben sie wohl noch arbeiten sehen, aber am Schichtende war sie weg und keiner kann sich erinnern, wann er sie zuletzt gesehen hat.“

Auch diese Akte legte Orion zur Seite, bevor er die nächste aufschlug.

„Außer dass es zwei junge Frauen sind, fällt mir bis jetzt nichts auf, Chef.“

„Fritsche, wir sind auch noch nicht durch! Erstmal alle Nüsse knacken und dann schauen wir mal, was sich unter den Schalen verbirgt. Mann, was haben die dir denn beigebracht?“

Schroeder streckte sich und beugte sich über die Akte.

„Also, die nächste Verschwundene ist Melany Mandel, eine 23-jährige Mechanikerin, die wohl auch Single ist.“

Orion zwinkerte Fritsche zu.

„Auch sie erschien nicht zur Arbeit. Sie hatte am Abend ihren Werkzeugkasten nicht abgegeben, den fand man bei den Generatoren, wo sie tags zuvor eine Reparatur durchführen sollte. Was sie wohl auch gemacht hatte, denn alle Maschinen liefen wie am Schnürchen.“

Schroeder griff sich die letzte Akte.

„Der letzte des verschollenen Quartetts ist Sören Maibach, ein 26-jähriger lediger Elektroingenieur und Sportler. Er war wohl trainieren, als er verschwand, das war zumindest den Daten seiner ID-Marke zu entnehmen. Er loggte sich abends im Trainingscenter ein aber nicht wieder aus. Von ihm fand man nichts, abgesehen von etwas Erbrochenem in der Dusche. Falls dies von ihm war, das wird der Gentest zeigen, der morgen vorliegen soll.“

Orion warf die letzte Akte zu den anderen und stand auf. Er ging im Zimmer hin und her.

„Drei junge ledige Frauen, ein junger lediger Mann und ein Häufchen Kotze – das ist doch mal was.“

Anfangen kann man damit rein gar nichts! Morgen werden wir uns mal die vier genauer unter die Lupe nehmen. Kannten sie sich irgendwoher, hatten sie gemeinsame Interessen, Freunde, Bekannte. Waren sie etwa Mitglieder im selben Club oder Verein?

„Fritsche, du wirst dich morgen mal um die Vereinssache kümmern und ich sehe mir ihre Arbeitsstellen und die Dusche an, wo sie verschwunden sind.“

Orion nahm sich die Akten vom Schreibtisch und schloss sie in den Aktenschrank ein. „Komm, Fritsche, lass uns noch irgendwo was trinken! Kennst du eine nette Kneipe?“

„Wir könnten in den ‚Stern von Sator’ gehen, soll ganz gut sein.“

„Na, dann los!“

Als sie die Tür öffneten, warf Schroeder noch mal einen Blick auf den Aktenschrank.

Was ist hier bloß los?, dachte er bei sich. Dann folgte er Fritsche, um in Ruhe was zu trinken und vielleicht etwas über diesen Fall nachzudenken.

Zwischenspiel

Dunkelheit fraß sich in ihren Geist. Gedanken flossen träge durch ihren Kopf wie flüssiger Teer. Nebel schwebte durch ihr Hirn – sie konnte sich noch nicht mal an ihren Namen erinnern. Gab es einen Namen für sie oder war sie namenlos wie die Dunkelheit um sie herum?

Und dann dieser unsägliche Schmerz, in dem Ding, das an ihrem Kopf hing. Von überall kam der Schmerz zu ihr. Sie konnte kaum atmen vor Schmerz.

Körper, dachte sie, das nennt man Körper!

Also hatte sie einen Körper, aber sie konnte ihn nicht bewegen. Er schien fixiert, sodass sie keinen Muskel rühren konnte. Wenn doch nur nicht dieser Schmerz wäre, tief in ihr drin, als hätte man etwas in sie reingezwängt, das sie von innen peinigte.

Könnte ich doch wenigstens was sehen!

Aber es herrschte Dunkelheit, tiefste Finsternis um sie herum.

Da blitzte es in ihrem Geist hell auf – ein richtiger Gedanke!

Allysia, ich bin Allysia! Jetzt wusste sie wieder ihren Namen. Das ist doch schon mal ein Anfang.

Langsam erinnerte sie sich: Sie war bei der Arbeit, war im Rohschacht unterwegs gewesen, wie immer. Dann war diese Hitze gekommen und die Dunkelheit über sie hereingebrochen.

Wie zum Teufel bin ich hierhergekommen und wo bin ich, verdammt noch mal?

Langsam bekam sie wieder ein Gefühl für ihren Körper – sie hing bäuchlings in etwas drin. Ihre Beine waren gespreizt und angewinkelt. Die Arme lagen neben ihrem Körper auf etwas Kaltem und waren festgeschnallt. Und überall steckten Dinge in ihr drin, in ihrem Unterleib, im Mund, in den Händen und im Kopf.

 

Was passiert hier mit mir?

Es war still, da wo sie war. Oder konnte sie doch was hören? Wenn sie sich konzentrierte, vernahm sie ein ganz leises Summen.

Eine Maschine?

Da drang auf einmal eine Stimme aus dieser kalten Stille in ihren Kopf, deren Sinn sie nicht verstand. Es war ein Wispern, ohne Worte – etwas, das sie noch nie vernommen hatte.

Plötzlich durchfuhr sie ein rasender Schmerz, flüssiges Feuer strömte in ihre linke Hand und fraß sich durch ihren ganzen Körper. Sie merkte, wie der Nebel wieder zu wallen begann und sich über ihre Gedanken legte. Der Teer fing an, erneut durch ihr Gehirn zu fließen und verklebte ihre Gedanken.

Allysia, war das letzte, was träge durch ihren Kopf schwebte, dann kam die Dunkelheit zurück.

Kapitel 2

Hyroniemus Fritsche saß seit Stunden vor dem Computer und ging die Namenslisten aller Clubs, Vereine und Gruppen durch, die es in Turm 17 gab. Jetzt streckte er seinen verkrampften Körper, erhob sich vom Stuhl und drehte einige Runden durch den Raum. Bisher hatte seine Suche nicht den geringsten Erfolg erzielt. Es hatte keine Schnittpunkte bei den Verschwundenen gegeben, die ihn auf einen Zusammenhang hätten schließen lassen können.

Allysia Lehmann war in einem Pokerclub angemeldet, besuchte diesen aber selten. Die Blumenzweig ging zu den „Freundinnen der Handarbeit“, Maibach war Mitglied im Sportclub und die Mandel war nirgendwo drin.

Sie waren so unterschiedlich, wie man sich nur denken konnte. Ihre Interessen gingen meilenweit auseinander. Sie lebten und arbeiteten in weit voneinander entfernt liegenden Gegenden des Turmes und hatten sich wahrscheinlich in ihrem Leben noch nicht einmal flüchtig gesehen.

Verdammt, so komme ich nicht weiter!

Vielleicht sollte man einen Aufruf über TT – Tower Television – senden, ob jemand etwas über die vier wusste. Irgendwas Besonderes, irgendeine Macke oder so. Aber das müsste er mit Orion besprechen, Alleingänge liebte der gar nicht.

Vielleicht kennt ja jemand irgendein dunkles Geheimnis über sie.

Bis jetzt waren seine Erkenntnisse recht dürftig, damit konnte doch keiner was anfangen. Er warf die Akten zusammen und verließ den Raum.

Er brauchte erst mal „frische Luft“ und was zu essen.

Schroeder kroch auf allen vieren vorwärts. Im Rohrschacht war es eng und stickig – wie konnte man das nur länger hier aushalten? Vor ihm kroch Frank Müller, der Vorgesetzte von Allysia Lehmann, um ihm die Stelle zu zeigen, an der man den Scanner gefunden hatte. Auch er keuchte in dieser dunstigen Luft – gut, wenn man so seine Leute für solche Arbeiten hatte.

„Hier ist es“, sagte Müller und zeigte auf den Boden.

„Kommen Sie mal hinter mich, ich muss mir das genauer anschauen“, sagte Schroeder.

Müller zwängte sich an Orion vorbei und setzte sich an die Wand des Schachtes. Orion holte seine Kamera raus. Zum Glück hatte der Kollege von Allysia Lehmann gleich wieder den Rückweg angetreten, nachdem er ihren Scanner gefunden hatte. Außer einer Markierung mit Kreide am Boden hatte er nichts hinterlassen. Der Kerl hatte sich wohl ausgekannt oder er las gern Krimis. Jedenfalls gab es vielleicht noch eine Spur.

Nachdem Schroeder mehrere Fotos aus der Distanz gemacht hatte, kroch er bis zur Markierung und schaute sich die Stelle gründlich an. Es war nichts zu sehen. Der Boden sah genauso aus wie im gesamten Schacht: Betonplastik wie im ganzen Turm. Schroeder zog eine Lupe mit Pinzette aus der Innentasche seiner Jacke und sah sich den Boden genauer an. Er spürte einige blaue Fasern auf. Mit der Pinzette zupfte er sie vorsichtig vom Boden, steckte sie in ein kleines Plastiktütchen, verschloss es und ließ es in seiner Jacke verschwinden. Dann suchte er die Schachtwand mit der Lupe ab, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

„So, Müller, das war’s fürs Erste. Ich bin hier fertig!“

„Okay, dann können wir ja zurück“, sagte Müller, stützte sich auf und kroch um die Biegung den Gang zurück.

Aufatmend folgte ihm Orion.

Endlich raus aus diesem stickigen Mief!

Später trafen sich Orion und Fritsche in Schroeders Büro.

„Na, hast du was?“, fragte Orion.

„Nicht den Hauch von einer Spur, Chef“, sagte Fritsche und schaute ihn deprimiert an, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ich hätte aber eine Idee.“

„Na, schieß los“

„Wir könnten doch einen Aufruf über TT machen, vielleicht hat jemand was gesehen oder kennt ein Geheimnis unserer vier Verschwundenen. Was meinst du?“

„Das müsste ich mit Wolf absprechen, es wäre aber eine gute Möglichkeit, um an Informationen zu kommen. Das mache ich gleich morgen. Jetzt gehen wir erstmal in die Turmwäscherei und schauen uns die Stelle an, an der die Blumenzweig verschwunden ist. Hab schon mal veranlasst, dass die Mangel steht und keiner den Bereich betritt.“

„Ja, prima, vielleicht finden wir da was.“

„Na, dann lass uns losgehen, Fritsche!“

Orion und Fritsche verließen das Büro und machten sich auf den Weg zum nächsten Transportband, um nach unten in die Wäscherei zu fahren. Wie immer war ganz schön was los und sie mussten am Fahrstuhl eine ganze Weile warten, bis eine leere Kabine kam. Nach einer viertel Stunde hatten sie endlich die Wäscherei erreicht und begaben sich zu Luna Friedensburg, der Chefin dieser Abteilung.

„Morgen, Luna“, grüßte Orion die korpulente Frau.

„Morgen, Orion.“

„Du weißt ja, warum wir hier sind. Zeig uns bitte die Maschine, an der Martha Blumenzweig gearbeitet hat.“

„Ja, kommt hier lang.“ Luna führte sie durch die dampfende Halle bis in den hinteren Bereich zur Mangel.

„Hier an diesem Automaten war es!“

„Danke, Luna. Wir kommen jetzt alleine zurecht“, bedankte Orion sich bei der Chefin. Luna drehte sich um und stapfte zurück in ihr Büro.

„Fritsche, mach mal paar Fotos von der Maschine und dem Bereich drum rum“, wies Orion seinen Assistenten an.

Fritsche packte die Kamera aus und schoss Foto um Foto, während Schroeder dastand und sich den Ort genauestens anschaute.

„Fertig, Chef!“

Hyroniemus Fritsche packte die Kamera wieder weg. Orion kletterte über das Absperrband und sah sich um. Eine Mangel, an der nichts Auffälliges war, neben der ein großer Korb mit gewaschener Wäsche stand, hinter der Mangel die Wand der Wäscherei. Die Zwei schauten sich um, untersuchten Boden, Wand und Maschine. Sie fanden keine Spur, keine Flecken, Haare, Blut oder sonst irgendwas.

„Nichts zu finden, oder Chef?“, Fritsche schaute seinen Vorgesetzten mit großen Augen an.

„Nichts, womit wir was anfangen könnten! Komm, wir hauen ab!“

Orion machte kehrt, schüttelte den Kopf und ging in Richtung Ausgang davon. Fritsche folgte ihm mit hängenden Schultern.

„Ein paar Fasern im Rohrschacht, wo die Lehmann verschwand. Hier gar nichts! Fritsche, ich glaube, wir übersehen was!“

Sie begaben sich zum Fahrstuhl, um ins Büro zurückzufahren.

„Die Fasern sind wahrscheinlich von der Arbeitskleidung der Lehmann, das würde uns auch nicht weiterbringen“, stellte Orion mürrisch fest. „Morgen schauen wir uns die Generatorhalle an, in der Melany Mandel verschwunden ist. Und den Duschraum, wo man die Kotze von Maibach gefunden hat – wenn es seine gewesen ist. Die Genanalyse ist immer noch nicht fertig. Also machen wir Feierabend für heute.“

Orion nickte Fritsche kurz zu und verließ den Fahrstuhl in Richtung seines Quartiers. Fritsche machte sich ebenfalls auf den Weg in sein Zuhause.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen saß Schroeder schon an seinem Schreibtisch, als Fritsche in das Büro geschossen kam.

„Morgen, Chef!“

„Morgen, Fritsche!“, sagte Orion und nippte an seinem Kaffee. „Auch einen?“, fragte er und zeigte Richtung Espressomaschine.

„Nein danke, Chef.“

„Na gut.“ Orion trank seine Tasse aus, stellte sie zur Espressomaschine zurück und schaute Fritsche fragend an.

„Generatorhalle oder Trainingscenter?“

„Entscheide du, Chef.“

„Dann fahren wir erst mal nach ganz weit oben und gehen später in die Trainingshalle. Übrigens war die Kotze von Maibach – die Auswertung der Laboranalyse ist heute Morgen gekommen.“

„Aber das bringt uns wohl auch nicht viel weiter, oder?“

„Nein, das nicht, aber was soll’s. Komm, lass uns gehen!“

Orion und Hyroniemus verließen das Büro und begaben sich zum nächsten Fahrstuhl. Um diese Tageszeit herrschte rege Betriebsamkeit. Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit, Nachtarbeiter kehrten von ihrer Schicht zurück. Die beiden Ermittler hatten aber Glück und mussten nicht lange warten. Schweigsam fuhren sie nach oben in die letzte Etage, dann ging es mit dem Transportband weiter in Richtung Wartungsaufzug. Dort presste Schroeder seine ID-Marke auf das Tastenfeld und schaltete so den Aufzug frei, denn dieser war nur befugten Personen zugängig. Sie betraten die Kabine und ließen sich zur Generatorhalle bringen, einer weitläufigen Halle, die von einem stetigen Summen erfüllt war. Im hinteren Bereich dieser riesigen Halle war eine Absperrung zu sehen, auf die Orion und Fritsche nun zusteuerten. Dort angekommen knipste Fritsche auf Veranlassung seines Chefs Foto um Foto, während Schroeder einfach nur dastand und den Ort des Verschwindens auf sich wirken ließ.

„Fertig, Chef“, sagte Fritsche und trat zur Seite.

Orion beugte sich hinab und ging unter dem Absperrband durch. Er betrachtete die Werkzeugkiste, die wie verloren neben dem Maschinenblock stand, umrundete den Generator mehrere Male, ging wieder zum Werkzeugkasten, sah ihn sich noch mal an und zuckte dann mit den Schultern.

„Fällt dir irgendwas auf, Fritsche?“

„Nicht das Geringste, Chef.“

„Verdammt, irgendwas muss doch zu finden sein! Leute verschwinden doch nicht einfach so, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, oder?“

„Da hast du recht, Chef, ich verstehe das alles auch nicht. Der dritte Tatort und wir finden absolut keinen Hinweis – das ist doch nicht normal!“

Ratlos schauten die beiden Criminaler sich an.

„Ich bezweifle, dass wir in dem Duschraum, in dem Maibach verschwand, etwas finden werden, aber wir gehen trotzdem hin. Das Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen, wird bei mir immer größer!“

Schroeder drehte sich um und ging entschlossen zum Fahrstuhl zurück.

„Los, Fritsche, dann mal los!“

Zwischenspiel

Sören erwachte.

Erwachte??? Er hatte geschlafen? Wo war er überhaupt? Und warum konnte er nichts sehen und sich nicht bewegen?

Und wo kam nur dieser Schmerz her? Sein ganzer Körper tat ihm weh und irgendwelches Zeug stecke in ihm drin. Er konnte nicht schlucken, etwas stak in seinem Hals. Und dieses seltsame Ziehen im Schritt – wie ein Saugen.

Was ist denn hier los?

Langsam kehrte ein wenig Erinnerung in ihn zurück. Er hatte trainiert und anschließend geduscht. Dann war er gefallen, danach war nichts. Wie war er eigentlich hierhergekommen? Hatte ihn jemand hier hingebracht? Und dann diese beklemmende Stille – nur ein leises Summen im Hintergrund. Er versuchte seine rechte Hand zum Kopf zu führen, aber sie war wie festgeschnallt. Er lag auf dem Rücken, die Arme fixiert, die Beine breit wie auf einem Gynäkologenstuhl. Und ständig dieses widerliche Saugen im Schritt – was machten die bloß mit ihm? Er versuchte sich aufzurichten, doch auch sein Oberkörper war angebunden. Er warf sich hin und her, aber er kam nicht frei.

Verdammte Scheiße!

Doch was war das? Er vernahm ein leises Geräusch. Ein Wispern drang an seine Ohren, er konnte jedoch den Sinn der Worte nicht verstehen.

Worte? Sind das überhaupt Worte oder spielt mir meine Wahrnehmung einen Streich?

Da überwältigte ihn ein glühender Schmerz. Er bohrte sich in seine linke Hand und schoss durch seinen ganzen Körper. Er fühlte sich, als würde ihm jemand seinen Leib mit glühenden Messern aufschneiden.

 

Seine Gedanken fingen wieder an sich zu verwirren. – Was? – Der Nebel in seinem Kopf wurde dichter und dichter – und er dämmerte wieder zurück in allumfassende Dunkelheit.

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