Stalingrad - Die stillen Helden

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Wir überqueren den Tatarengraben und kommen zum Flugplatzgelände. Alles ein wüster Trümmerhaufen, nicht ein Haus ist verschont. Keine einzige Fensterscheibe ist unversehrt. Man hat wirklich den Eindruck, in einem modernen Pompeji herumzuwandern, das gestern von einem Vulkanausbruch heimgesucht wurde. Wir finden an einem Steinbau eine Artillerieflagge und treffen dort einen Abteilungsgefechtsstand. Als wir auf das Haus zugehen, schlägt hundert Meter vor uns eine Granate in die Straße ein. Wir verzichten darauf, weiter in die Stadt einzudringen. Dafür wandern wir an dem Tatarengraben entlang zurück, von dem man eine gute Sicht auf die brennende Stadt hat. Oben auf dem Grabenwall stehend machen wir Aufnahmen.

24. September 1942: Jede Nacht kommen Flieger und werfen Bomben. Wenn nur nicht dieser elende Vollmond wäre, der die Nacht taghell erleuchtet. Ehe wir schlafen gehen, klettern wir oben auf den Wall unserer Schlucht und sehen eine Weile dem Feuerwerk zu, das die Flak uns allabendlich veranstaltet. Es ist doch so kalt geworden in dem Zelt, daß Oberarzt Trog und ich drangehen, uns einen Erdbunker zu bauen. Wir haben ein tiefes Loch in den Hang geschaufelt und einen Lastwagen fortgeschickt, Balken und Bretter holen. Dann wird alles kunstvoll zugesägt und das Loch mit Brettern überkleidet. Vorn eine senkrechte Wand. Ich beauftrage einen Unteroffizier, irgendwo einen Fensterrahmen und Glas zu ‚organisieren‘. Er bringt es auch bei. In die Vorderwand wird ein Fenster eingebaut. Das größte Problem ist die Türe, denn es gibt keine Scharniere. Ich lasse ein Brett zimmern mit zwei Handgriffen. Dieses Brett wird von innen in die Türöffnung eingeklemmt. Nun ist noch das viereckige Loch übrig am Boden von dem Tritt, durch das Licht nach außen und kalte Nachtluft nach innen kommen. Wir füllen einen kleinen Sack mit Stroh, der wird in die letzte Öffnung geklemmt, die uns mit der Außenwelt verbindet. Es ist zwar ein nicht leichter Vorgang, bis wir abends die Tür verschlossen haben, aber dann wird es auch so sicher sein wie in Abrahams Schoß.

25. September 1942: Heute wird weitergebaut. Das Dach steht schon und wird mit Erde beworfen, in die zur Fliegertarnung Steppengras gesteckt wird. Das Fenster hat sogar eine Fensterbank und Gardinen aus Verbandsmull bekommen. Zum Schluß wird ein Schild gemalt, das über die Tür genagelt wird. ‚Villa Steppenblick‘ ist der Name unseres schönen Heims. Ich komme mir vor, als habe ich mir die eleganteste Villa gebaut. Ganz zum Schluß werden Bilder von unbekleideten Mädchen aus Pariser Zeitschriften an die Wände genagelt.

26. September 1942: Angeregt durch unseren Villenbau baut jetzt der ganze Haufen. Ein Erdbunker nach dem anderen entsteht. Am Mittag kommt der Divisionsarzt mit einer Hiobsbotschaft: Morgen müssen wir den Hauptverbandsplatz der ersten Kompanie übernehmen, die selbst zwanzig Kilometer weiter hinten an der Bahnlinie ein Ortslazarett für den Winter einrichtet. Bei uns ist ‚Sturm im Wasserglas‘. Uns war versprochen, im Winter ein Ortslazarett einzurichten und die Erste darf es natürlich tun. Dafür werden wir irgendwo dicht an der Wolga in Unterständen Hauptverbandsplatz spielen. Alles hat eine Sauwut. Gegen Abend fliegt ein Jäger dicht über unsere Köpfe. Sein Motor arbeitet unregelmäßig, dann setzt er ganz aus. Die Maschine macht eine Bauchlandung hinten in der Steppe.

27. September 1942: Als wir kurz nach sechs Uhr aufwachen, hören wir starken Geschützdonner aus Richtung Stalingrad. Und dann fliegen Schlachtflugzeuge, Zerstörer und Jäger in fast unübersehbaren Mengen stadtwärts. Der Boden scheint vom Motorenlärm zu zittern. Heute scheint vorn etwas los zu sein. Um acht Uhr fahren wir mit einem Kommando zum Hauptverbandsplatz zur Übernahme. Man merkt die Freude und Genugtuung der Ersten. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird abmontiert und mitgenommen. Wir sind alle neugierig, ob sie auch die Fensterscheiben ausbauen und mitnehmen wollen. Später fahre ich zum Divisionsarzt.

Wenn man an den Friedhöfen deutscher Soldaten vorbeifährt, dann möchte man manchmal glauben, daß der Name ‚Rotes Verdun‘ nicht ganz zu Unrecht besteht. Wir müssen aber die Stadt haben, denn damit ist dem Russen die Wolgaschiffahrt unterbunden. Das weiß er auch, deshalb wirft er seine letzten verfügbaren Kräfte nachts in Kähnen über den Fluß, zur Verstärkung der mit wahrem Fanatismus sich verteidigenden Bolschewisten.

28. September 1942: Wir haben nun Einsatz. Wir stehen wieder näher an dem Kampfgeschehen. In einem alten halbzerfallenen Kolchos haben wir unseren Hauptverbandsplatz. Das Hauptgebäude hat nicht einen Raum, dessen Fenster noch Scheiben hat. Ein Glaskommando ist nach Stalingrad gefahren und hat nach einem halben Tag zehn kümmerliche Glasscherben gebracht. Mehr war nicht zu finden. Es ist kein Wunder. In Ermangelung von Fensterscheiben haben wir die Rahmen zur Hälfte oder zu zwei Dritteln mit Brettern verschlagen, damit wenigstens der Wind nicht so durchpfeift und den Rest notdürftig mit den vorhandenen Scherben geflickt. In den einzelnen Räumen liegt armseliges Steppengras als Unterlage für die Verwundeten. Wir transportieren gegen Abend alles nach hinten in die Feldlazarette. Was über Nacht hinzukommt, wird sofort am Morgen zum Flugplatz gefahren und in den Maschinen, die Brennstoff bringen, mit nach hinten genommen. In einem Nebengebäude des Kolchos, das wohl Versammlungshaus war, denn das Haus wird zum größten Teil von einem größeren Raum mit einer bühnenartigen Erhöhung ausgefüllt, haben wir den Operationsraum eingerichtet. Hier werden mit einer Asepsis, die einen Operateur, der gewohnt ist, in Kliniken zu operieren, erschaudern läßt, Instrumente desinfiziert, hier werden inmitten von Schwärmen von Fliegen, die durch nichts zu bekämpfen sind, Beine und Arme amputiert, hier müssen Bauchoperationen mit Darmresektionen vorgenommen werden und hier müssen schließlich die vielen kleinen Splitterverletzungen verbunden werden. Während ein Teil unserer Leute zur eigentlichen Verwundetenversorgung eingesetzt ist, ist ein großer Teil mit Instandsetzungsarbeiten beschäftigt. Eine Kochgelegenheit muß gebaut werden, ein Mann hat den ganzen Tag fast zu tun, um Holzkreuze für die Gefallenen zu zimmern. Jeden Nachmittag ist Beerdigung. Fast 150 Gräber haben wir übernommen, und jeden Tag werden es mehr. Der ‚Kasak‘222, der katholische Divisionspfarrer, ist zu uns abkommandiert und haust mit seinem Gehilfen in einem Erdloch hinter dem Operationsbau.

29. September 1942: Eines habe ich sehr bald gemerkt. Von dieser Art der Chirurgie verstehe ich sehr wenig und muß sehr viel lernen, daß heißt müßte, wenn ich wirklich Kriegschirurg werden wollte. Aber das will ich nicht. Ich merke, daß ich sehr schnell vom ersten zum zweiten Chirurgen herabsteigen werde. Dr. Peter, der bisher einziger Chirurg bei der Kompanie war, tut mir leid. Er hatte sicher gehofft, durch mich entlastet zu werden und vielleicht bald auf Urlaub fahren zu können. Nach einem Tag Arbeit auf dem Hauptverbandsplatz weiß ich, daß beides nicht der Fall sein wird, wenn nicht zu seiner Vertretung ein Chirurg zu uns kommandiert wird. Die Arbeit wird für ihn durch mich nicht viel weniger werden, denn alle großen Sachen muß er doch selbst operieren.

30. September 1942: Von dem Angriff merkt man nicht viel. Dafür ist es an der nördlichen Riegelstellung sehr lebhaft. Gegen Mittag kommen die ersten Verwundeten von dort. Der Russe ist mal wieder mit Panzern durchgebrochen. Gegen Abend kommt der Divisionsarzt. Er ist mit vielem nicht zufrieden. Am Abend spricht der Führer. Er sagt: ‚Stalingrad wird genommen werden und es wird auch gehalten werden.‘ Solche Worte aus solchem Mund geben Mut, den man braucht, wenn man dieses Ringen um eine Ruinenstadt seit Wochen sieht. In der letzten Nacht ist Assistenzarzt König verwundet worden. Er war bei dem Verladekommando auf dem Flugplatz. Ein Flieger brummt am Abend tief über den Flugplatz. Plötzlich rauscht es durch die Luft. König, der versuchte, sein Zelt zu erreichen, wirft sich hin, da kracht es auch schon neben ihm und er merkt, daß es ihm in den Rücken gehauen hat. Sein Bursche, der im Zelt lag, ist mit dem Schreck davongekommen. Das Zelt ist zerfetzt. Ich war heute früh auf dem Flugplatz und habe König vor seinem Abtransport noch gesprochen. Auch mit dem Arzt sprach ich, der ihn versorgt. Große Fleischwunden am Rücken, ein Schulterblatt wahrscheinlich zertrümmert, Lunge nicht verletzt. Wohl nicht lebensgefährlich. König selbst ist ziemlich deprimiert.

1. Oktober 1942: Der Kampf in Stalingrad und um Stalingrad tobt weiter. Heute ist mal wieder ein Höhepunkt dieses Ringens. Um fünf Uhr sind die ersten Verwundeten angefallen. Nach acht Uhr kommen mehrere Lastwagen und Krankenwagen von vorn und in wenigen Minuten ist unser Aufnahmezelt bis zum letzten Platz gefüllt. Da liegen die armen Kerle wie die Heringe nebeneinander, verstaubte und verschmutzte Gesichter. Im Geiste sieht man sie noch hinter irgendeinem Schutthaufen liegen und Handgranaten werfen. Jetzt liegen sie ruhig. Einzelne stöhnen leise vor sich hin. Man möchte jedem zuerst helfen, aber es geht nicht. Peter operiert in einem kleineren Raum die großen Sachen. Als der Oberstarzt auf dem Kampffeld erscheint, hat er gerade einen Bauchschuß vor. Der Darm ist an acht Stellen durchlöchert, ein Stück von ungefähr 40 Zentimetern muß ganz entfernt werden. Man kann die zerfetzten Löcher nicht übernähen. Währenddessen haben wir im Vorraum schon wieder drei Bäuche liegen. Drei Soldaten, deren Bauchinhalt aus einem Loch in den Bauchdecken vorquillt. Wir haben die drei Tragen auf der Bühne im Hintergrund abgestellt. Denn wir müssen Platz haben. Der ganze große Raum ist voll Menschen. Träger bringen Leichtverletzte, bei denen nur der Verband gewechselt wird. Wieder wird ein blasser, ausgebluteter junger Unteroffizier hereingetragen. Der rechte Oberarm ist völlig zerrissen, der im zerfetzten Ärmel steckende Unterarm liegt leblos daneben, als gehöre er schon nicht mehr zum Körper. Ein Blick genügt um zu sehen, daß der Arm verloren ist. Die Träger melden, daß im Zelt noch zwei Mann liegen mit Abschnürbinden an den Beinen. Dem einen muß das Bein amputiert werden. Im Beiwagen eines Krades kommt ein Hauptmann der Flak. Er hat einen Splitter ins rechte Auge bekommen. Das Auge soll zerstört sein. Ich schicke ihn sofort weiter zum Flugplatz. Immer kommen neue Wagen, aus denen Soldaten herausklettern mit zerfetzten Uniformen und frischen Verbänden, oder sie liegen auf Tragen und werden vorsichtig heruntergehoben. Mittags wird eine kurze Pause gemacht. Wir haben schon gegen hundert Verwundete versorgt, etwa vierzig Unversorgte liegen noch im Aufnahmezelt. Am Nachmittag flaut der Anfall von Verletzten ab. Auf einem Lastwagen werden zwei Tote gebracht. Sie sollen bei uns begraben werden. Vorn liegen noch weitere siebzehn, sie können aber erst in der Nacht zurückgeholt werden. Auch sie sollen uns morgen gebracht werden. Unser Pfarrer bekommt viel Arbeit. Meine letzte Tätigkeit nach diesem heißen Tag, ehe ich in die Schlucht zurückfahre, ist die, dem Mann, dem der rechte Arm abgenommen wurde, das Eiserne Kreuz und das silberne Verwundetenabzeichen zu verleihen. Dann fahre ich heim. Ich bin müde und abgespannt, weniger von der körperlichen Arbeit als von den Eindrücken, dem vielen Elend, dem Gestank nach Schweiß und Blut, der für einen Truppenarzt, der den ganzen Tag draußen herumreitet, so ungewohnt ist. Man wird sich daran gewöhnen müssen. Wir legen uns früh schlafen. Es ist abends so kalt im Zelt, daß man nicht mehr aufbleiben mag. Nicht einmal die Achtuhr-Nachrichten warten wir mehr ab. Da liegen wir schon in unseren warmen Erdlöchern. ‚Villa Steppenblick‘ ist wärmer als das große Zelt.

 

Warnschild in Stalingrad

3. Oktober 1942: Heute kamen die ersten Verwundeten von den Kroaten zu uns. Ein Hauptfeldwebel, der nur wenige Worte deutsch spricht, erzählt, daß er aus Mostar223 stammt, jener malerischen Stadt an der Narenta. Strahlend zeigt er Aufnahmen aus seiner Heimat.

5. Oktober 1942: Ich muß heute mal wieder den Chef auf einer Fahrt nach Stalingrad begleiten. Ich tue es nicht sehr gern, denn er hat eine Unbekümmertheit, bei Beschuß im Gelände herumzulaufen, die einem alten Frontschwein nicht gefällt. Ihm fehlt noch die Erfahrung. Wir haben natürlich auch wieder Glück, indem wir ein noch halbwegs erhaltenes Gebäude, es war eine Schule, am Stadtrand finden, die sich vielleicht als Winterquartier eignen würde. Am Eingang von Stalingrad steht seit ein paar Tagen ein wunderschönes Schild ‚Das Betreten von Stalingrad ist mit Lebensgefahr verbunden.‘ Zu nett! Wenn ich malen könnte, würde ich ein zweites Schild darunter malen ‚Wer am Krieg teilnimmt, gefährdet seine Gesundheit!‘

7. Oktober 1942: Die von uns gefundene Schule ist vom General abgelehnt worden. Dafür sollen wir uns eine Schlucht suchen und sofort anfangen, Erdbunker zu bauen, denn wir werden nun endgültig den Winter über in diesem Abschnitt bleiben. Mich überfällt bei dieser Nachricht eine große Trostlosigkeit. Ich will unter keinen Umständen den Winter hier an der Wolga verbringen.

12. Oktober 1942: Die Nächte sind wieder viel wärmer geworden. Und noch immer das schönste Herbstwetter. Vielleicht gibt es hier in der Steppe überhaupt keine Schlammperiode und wir erleben es, daß eines Tages das warme sonnige Herbstwetter in Frost übergeht. Unterarzt Räder von den Pionieren tritt verstaubt in unseren Wohnraum. Er bringt einen Krankenwagen voll Verwundeter. Und er sitzt eine Weile bei uns und erzählt uns von den Kämpfen in den Straßen, die nur noch aus Ruinen und Schutt bestehen.

Inzwischen sind die verwundeten Pioniere ausgeladen. Ich habe heute Dienst und Trog hat eine neue Methode, mich an den Operationstisch zu bringen. Er verschwindet und ist nicht zu finden. Der erste, der auf dem Operationstisch liegt, ist ein Unteroffizier. Der linke Fuß fehlt, dicht über der Knöchelgegend hört das Bein einfach auf und ist vom blutdurchtränkten Verband umwickelt. Und dabei hat der Mann nur einen Gedanken, nicht daß sein Fuß fort ist, sondern daß es nicht geglückt ist, den Häuserblock, der in Wirklichkeit nur einen Ruinenhaufen darstellt, zu bekommen. Er meint: ‚So eine Schweinerei, nun ist das Bein weg und wir haben das GPU-Gebäude doch nicht. Ich hätte es bestimmt bekommen, wenn die blöde Mine nicht gewesen wäre!‘ Da Peter immer noch nicht aufkreuzt, mache ich mich wohl oder übel daran, den Mann zu versorgen. Der Stumpf ist völlig zerfetzt, ich muß noch ein Stück des Unterschenkels abnehmen. Es ist die erste Amputation, die ich überhaupt mache, denke unwillkürlich, daß sich so ein Knochen eigentlich leicht sägt.

Der zweite, der auf den Tisch kommt, hat auch von der Mine abbekommen. Ihm werden zwei Zehen und ein Teil des Fußes abgenommen. Später, als der Erstoperierte wieder wach geworden ist und schon drüben auf Stroh liegt, gehe ich noch zu ihm, um ihm das silberne Verwundetenabzeichen zu verleihen. Er schimpft noch immer über das Haus, das sie nicht bekommen haben, und daß er nun fort muß. Es gibt wirklich Helden. Im allgemeinen ist es ruhig bei uns auf dem Hauptverbandsplatz seit ein paar Tagen. Unsere Kompanien sind so schwach, daß sie nicht mehr angreifen und infolgedessen ist der Anfall von Verwundeten auch nicht mehr groß. Gestern waren wieder die beiden jungen russischen Sanitätsmädchen bei uns, von denen die eine verwundet ist und alle paar Tage zum Verbinden kommt. Die beiden sind Gefangene und wohnen irgendwo in einer Schlucht bei einer kroatischen Einheit. Tagsüber sollen sie in der Küche helfen. Nun hat Peter plötzlich gemerkt, daß wir doch eigentlich auch sehr gut solche Mädchen gebrauchen können. Wo wir doch richtig Verwundete zu pflegen haben, sind die kleinen Pflegerinnen bei uns doch viel mehr am Platze wie bei den wollüstigen Kroaten. Wir halten Volksrat und beschließen, die beiden Mädchen zu vereinnahmen, wenn sie wieder zum Verbinden kommen. Sie werden in einem der kleinen Zimmer untergebracht und beschäftigt werden. Die erste Kompanie soll schon einen ganzen Haufen russischer Mädchen haben, weshalb sollen wir nicht auch? Peter freut sich schon und ich werde eine Bescheinigung für die kroatische Einheit schreiben, daß wir Mädchen zur Krankenpflege dringend benötigen. Ich komme mir vor wie ein alter Kuppler.

16. Oktober 1942: Ein strahlender Tag. Ich gehe mit dem Zahlmeister auf Fahrt. Er fährt zum Verpflegungsempfang nach Karpowka und da dort auch der Korpsarzt liegt, den ich mal außerdienstlich sprechen will, fahre ich mit ihm.

Ich komme gerade zur Abteilung IVb224 des Armeekorps, als der Korpsarzt zehn Minuten vorher zum Flugplatz gefahren ist, um sich nach einer Verbindung nach Deutschland zu erkundigen. Den Zahlmeister treffe ich wieder in der großen Kirche, die mit Verpflegswaren bis zur Decke angefüllt ist. Treffe hier noch mehr Zahlmeister und Offiziere. Es ist immer riskant, so ein Verpflegslager dicht hinter der Front. Neulich wurde in der Nähe eines von einer Fliegerbombe getroffen. Für 11 Divisionen verbrannte die Verpflegung für zwei Tage, das sind etwa dreihunderttausend Portionen, dazu drei und eine halbe Million Zigaretten und mehrere Tonnen Schokolade. Wir haben alle geschimpft, weil man uns die Schokolade nicht ausgegeben hat.

17. Oktober 1942: Bin jetzt ganz zum Hauptverbandsplatz gezogen. Ich muß das genauer erklären. Die Kompanie lag schon in der Schlucht, als wir den Befehl bekamen, den Hauptverbandsplatz der Ersten zu übernehmen. Nun sind dort die Unterkunftmöglichkeiten für die Kompanie so schlecht und wir wohnen in unserer Schlucht so schön, daß beschlossen wurde, die Kompanie bleibt mit ihrem Gros in der Schlucht wohnen und nur eine Operationsgruppe mit Trägern und allem, was eben zum Hauptverbandsplatz dazugehört, zieht nach oben. Peter, der andere Chirurg, zieht als Verantwortlicher auch ganz zum Hauptverbandplatz, wir anderen wechseln uns ab. Ich fahre zwar täglich hinauf, da ich ja in kürzester Zeit möglichst viel lernen soll, so wollen es wenigstens mein Kompaniechef und der Divisionsarzt, fahre aber abends wieder in die Schlucht, schon wegen des guten Abendessens, aber auch wegen meiner schönen Villa Steppenblick. Nun bin ich aber das Hin- und Herfahren doch leid geworden und bin ganz zum Hauptverbandsplatz gezogen. Dieser liegt in einem alten Kolchos. Ich habe mir einen kleinen Raum ausgesucht und von ein paar Frauen, die bei uns arbeiteten habe ich die Wände mit Lehm verklitschen und dann mit Kreide weißen lassen. Leere Strohsackhüllen werden als Wandbespannung angenagelt, die alten schönen Bilder mit ein paar Heftzwecken angemacht und schon hat man ein wunderschönes Heim. Man merkt gar nicht, daß es bescheiden ist wie die Zelle eines armen Kapuzinerpaters. Und ich kann nach Lust auf meiner Schreibmaschine hämmern ohne jemanden zu stören. Habe sogar elektrisches Licht, denn wir haben eine eigene Lichtmaschine und machen uns selbst unseren Strom. Und ich habe einen Ofen in der Bude. Iwan, einer unsere Gefangenen, sorgt immer für Holz. Und Marusja putzt jeden Morgen den Boden auf. Nur muß ich jetzt auf das gute Essen in der Schlucht verzichten, ich höre aber dafür von Trog oder dem Zahnarzt oder dem Apotheker, die noch immer hin und herfahren, von den rauschenden Festen, die dort gefeiert wurden.

19. Oktober 1942: In der Nacht hat es angefangen, stärker zu regnen und als es Tag wird, da haben wir den richtigen Landregen, den echten russischen Herbstregen, der in wenigen Stunden den Boden aufweichen wird, daß kein Lastwagen und kein Personenwagen mehr wird fahren können. Und draußen die Straße vor unserem Kolchos fängt so ganz langsam an, aufzuweichen. Gegen Mittag fängt es an, in unserem Haus von der Decke zu tropfen. Es tropft gleich an mehreren Stellen. Eine Kommission klettert auf den Boden. Sie kommt wieder mit dem Resultat: Flicken unmöglich, die Bretter haben überall Ritzen, durch die das Wasser tropft. Man kann nur hoffen, daß das Holz durch die Feuchtigkeit quillt und die Tropfenfolge langsamer wird. Gegen Abend fängt es sogar an zu schneien. Der liebe Gott hat anscheinend vor, uns in diesem Jahr gleich richtig in den Winter zu führen. Der große Platz vor unserem Kolchos ist so langsam ein See geworden.

20. Oktober 1942: Tausende von Zivilisten sind aus Stalingrad ausgewandert. In jeder Senke haben sie sich wie Kaninchen in die Erde gegraben. Rings um unseren Hauptverbandsplatz liegen sie am Tag in der Sonne und kriechen nachts tief in die Erde. Die Frauen helfen uns. Sie waschen unsere Wäsche, schälen an der Feldküche Kartoffeln, putzen Gemüse (soweit beides vorhanden) und fegen unsere Zimmer aus. Unter ihnen ist Marusja Alexandrowna, eine sechsundzwanzigjährige Frau aus Stalingrad. Sie war auch mit ihrem Mann neun Monate in Moskau, als er auf der Militärakademie war, war während dieser Zeit in einem Lazarett und hat Krankenpflege gelernt. Dann mußte sie mit ihren zwei Kindern aus Stalingrad fliehen; das eine ist fünf Jahre, das andere sieben Monate alt. Und nun leben die drei in einem Erdloch zweihundert Meter von unserem Hauptverbandsplatz entfernt; die Mutter arbeitet bei uns, um etwas Brot und Essen für sich und die Kinder zu bekommen. Heute ist Marusja nicht zum Arbeiten gekommen. Eine andere Frau erzählt: ‚Marusja ist zu Hause, so nennt sie das Erdloch, und weint. Heute Nacht ist das Kleine gestorben. Malenki kaputt!‘

Wieviele russische Menschen, alte Männer, Frauen und Kinder werden im kommenden Winter sterben, sterben vor Kälte, Unterernährung und Hunger! Am Nachmittag kommt der Divisionsarzt. Er erzählt, daß in Karpowka ein heilloses Durcheinander ist. Hunderte von Verwundeten und keine Möglichkeit des Abtransportes. Man hat nur eine einzige Lokomotive. Die zweite hatte zu allem Unglück gestern Pech. Kommt ein einsamer russischer Jäger, schießt eine Salve mit der Bordkanone und genau ein Geschoß der Lokomotive in den Bauch. Zischend lief das siedende Wasser aus. Jetzt ist unsere Werkstattkompanie dabei, der Lokomotive den Bauch wieder zuzuschweißen. Und die letzte, einzig heile Maschine tut’s auch nicht richtig. Dabei war ein Zug vollgeladen mit 400 Verwundeten. Mitten in der Nacht im Regen mußten die armen Kerle alle wieder ausgeladen werden. Und jetzt ist alles bis zum letzten Plätzchen voll dieser armen Menschen. In den Gängen, in den Operationssälen, alles voller Verwundeter. An die neunhundert liegen in Karpowka und warten auf Abtransport. Das ist die Generalprobe zur richtigen Schlammperiode, die ja erst noch kommt. Denn heute ist ja schon wieder trockenes Wetter.

 

23. Oktober 1942: Der Verwundetenanfall ist nicht mehr so groß. Meist sind es Granatwerferverletzungen. Sobald es dunkel geworden ist, wird es lebhaft bei uns. Wir haben Vollmond und der Russe kurvt bis nach Mitternacht über uns und versucht, den Flugplatz zu finden. Heute Abend fallen ein paar Bomben so nahe, daß wir es nicht wagen, im Haus zu schlafen, wir gehen lieber in unseren Erdbunker, den wir an der Hauswand für alle Fälle bereit haben. Gegen neun Uhr wirft er eine schwere Bombe hinter den Brunnen in die Gegend, in der die Zivilisten sich eingegraben haben. Wir liegen alle flach und hören die Splitter über unsere Köpfe zischen.

Um die beinahe 150.000 Pferde der 6. Armee ausreichend zu versorgen, befiehlt der O.B. Paulus, den größten Teil in das Pferdeerholungsgebiet bei Morosowks, westlich des Dons, etwa 200 km entfernt, zu verlegen. Dadurch wird die Beweglichkeit selbst der Artillerie aufs schwerste gefährdet. Nur Bespannungen für die Feldküche, Sanitätstransporte und für geschützweisen Stellungswechsel der Batterien bleiben zurück.

29. Oktober 1942: Der Kampf um Stalingrad geht weiter. Und unser Friedhof vor dem Haus wird von Tag zu Tag größer. Es sind schon gegen 250 Gräber. Auch ein Ritterkreuzträger liegt dort begraben. Gegen acht Uhr kommt ein Wagen und bringt 6 Verwundete. In der Dämmerung ist eine Bombe dicht neben einem Unterstand heruntergesaust. Zwei waren sofort tot, die anderen verletzt und verschüttet. Die 1. Sanitätskompanie 295 in Karpowka hatte in der letzten Nacht einen Fliegerangriff, der ein paar Verwundete und sämtliche Fensterscheiben gekostet hat.

31. Oktober 1942: Wir bekommen jetzt viele neue Leute aus den rückwärtigen Diensten. Sie kommen aus der Bäckereikompanie und den Einheiten des Divisionsnachschubführers. Die meisten Leute sind über 40 Jahre alt. Dafür kommt alles von uns zur Infanterie, was irgendwie möglich ist. Es wird nicht leicht für unsere Leute sein, die die vielen Verwundeten täglich gesehen haben und die nun in die vordersten Linien kommen. Unsere Kompanie muß 28 Mann an die Infanterie abgeben. Die Trosse bestehen fast nur noch aus Russen.

3. November 1942: Unser Aggregat, die Lichtmaschine, ist kaputt, und wir haben heute Abend kein Licht. Wir sitzen von drei Uhr an bei Kerzenschein und später bei einer Karbidlampe. In der Nacht klopft es an meine Tür. Ich erwache aus tiefstem Schlaf. Es scheint gegen Morgen zu sein. ‚Sofort in den Operationssaal kommen! Vier Schwerverwundete!‘ Ich mache Licht und schaue nach der Uhr. Es ist kurz vor zehn. Im Vorraum vom O.P. stehen Tragen auf der Erde mit stöhnenden Menschen. Der erste liegt schon auf dem Operationstisch. Ein Granatsplitter hat den Brustkorb durchschlagen. Die Einschußöffnung sitzt unter der rechten Brustwarze, der Ausschuß unterhalb vom Schulterblatt. Der Truppenarzt hat die Wunden durch Nähte geschlossen, die aber nur die Haut gefaßt haben. Die Luft wird nun bei jedem Atemzug in das Gewebe gepreßt. Die Haut ist weithin bis zum Hals und bis zum Unterleib aufgebläht wie ein Kissen und knistert bei der leisesten Berührung. Die Nähte werden geöffnet. Bei jedem Atemzug pfeift die Luft durch die Rippen. Wir schließen den Pneumothorax225 schichtweise. Es ist eine ungewohnte Arbeit, dazu schlechte Beleuchtung, da unsere Lichtmaschine kaputt ist. Wir operieren mit mehreren Karbidlampen und einer elektrischen Lampe, die durch eine Batterie gespeist wird, aber schlechtes, schattenreiches Licht ausstrahlt. Beim zweiten, der auf den Tisch kommt, ist der Oberschenkel durchschossen, der Knochen ist zertrümmert und liegt in vielen Splittern in der Wunde. Die beiden letzten haben Hirnschüsse. Das Schädeldach ist bei beiden kaputt und die Hirnmasse quillt wie ein Pilz aus dem Kopf. Alle vier wurden schon am frühen Morgen verwundet und lagen vorn dicht beim Wolgaufer. Ihr Graben war aber vom Russen, der nur etwa zwanzig Meter entfernt liegt, einzusehen und sie konnten bei Tag nicht nach hinten gebracht werden. Es mußte gewartet werden, bis es dunkel war. In der Frühe wird mir als erstes gemeldet, daß der Lungenschuß und der eine Kopfschuß gestorben sind. Wieder werden zwei neue Kreuze auf dem Friedhof errichtet werden und wieder wird man zwei Familien schreiben müssen, daß ihre Söhne in Stalingrad gefallen sind für Großdeutschland.

6. November 1942: In der letzten Nacht wache ich plötzlich auf. Ein furchtbares Krachen. Unser Haus zittert, als wolle es einstürzen. Ins Gesicht rieselt der Lehm und Kalk, der von den Wänden und der Decke abbröckelt. Wenige Sekunden später ein zweiter und dritter Einschlag. Alles ist sofort aus den Betten und im Freien. Es ist rabenschwarze Nacht. Die Posten erzählen, daß eine ‚Nervensäge‘ in ganz geringer Höhe über unserem Hauptverbandsplatz kreiste. Plötzlich strahlt in der Ferne irgendwo ein Scheinwerfer auf, dessen Lichtsäule ganz flach über die Erde strahlt und dann unseren Verbandplatz in strahlende Helle taucht. Natürlich sieht der Flieger die Häuser. Stellt seinen Motor ab, geht im Gleitflug noch tiefer und dann krachen auch schon die Einschläge.

8. November 1942: Am Abend spricht der Führer im Löwenbräukeller. Er sagt, daß er darauf verzichtet, Stalingrad unter großen Blutopfern durch einen Gewaltangriff zu nehmen, es würde durch kleinere Stoßtruppunternehmen in unsere Hand gebracht werden.

11. November 1942: Täglich kommen ein paar Verwundete. Meist sind es Granatwerferverletzungen. Heute kommt auch wieder ein Wagen und bringt vier Mann. Einer hat Verletzungen beider Augen. Er wird sofort weiter zum Feldlazarett gebracht. Der zweite hat eine Verletzung des rechten Fußes. Als wir den Verband entfernt haben, sehen wir, daß der halbe Fuß abgerissen ist. Die Zehen und der Vorderfuß fehlen, der Mittelfuß ist breit zerfetzt und völlig schwarz, offenbar verbrannt vom Pulverdampf. Der Mann erzählt, daß sie im früheren GPU-Haus im Keller liegen.

13. November 1942: Heute habe ich Kummer. Vor fünf Tagen wurde mir ein Bauchschuß eingeliefert. Es war schon zu spät zum Operieren. Ich lasse ihn liegen und es geht auch erstaunlich gut. Gestern hat die Darmtätigkeit wieder angefangen, heute Nacht hat der Mann wieder Stuhlgang gehabt. Es hat ihn mitgenommen, aber er ist fieberfrei und hatte bis gestern guten Puls. Heute früh ist der Puls schlecht. Ich führe es auf Erschöpfung zurück. Der Mann bekommt Herz- und Kreislaufmittel. Trotzdem erholt der Kreislauf sich nicht. Gegen elf Uhr ein plötzlicher Kollaps und der arme Mensch ist tot. Und dabei hat er mich heute früh noch gefragt, wann er wohl nach hinten transportiert werden könne. Ich habe ihm gesagt, in etwa zehn Tagen, wenn alles gut geht. Und nun ist es nicht gut gegangen und er liegt schon in der Leichenkammer und Käsemann malt das Kreuz für sein Grab.

14. November 1942: Es wird immer kälter. Wir haben jetzt schon um 20 Grad gegen Morgen. Ich habe eine Tür vom Haus zur Latrine durchbrechen lassen, damit wir nicht mehr durch den Sturm um das Haus herumlaufen brauchen. Seit zwei Tagen haben Oststürme eingesetzt. Bis jetzt sind sie noch in mäßigen Grenzen. Aber sie blasen schon durch alle Ritzen.“226

Die Division führte noch das Feldlazarett 295 mit sich. Über den Einsatz berichtet Kriegszahnarzt Dr. Benno Groh227: „An meinem Geburtstag, am 30. August 1942 wurde ich schließlich zum Feldlazarett 295 kommandiert. Das lag damals noch vor dem Flugplatz Gumrak. Zu dieser Zeit war das Lazarett aber noch nicht eingesetzt. Es hatte mit Zahlmeisterei so etwa 60 bis 70 Leute. Es gab da ein großes Zelt, auf einem Fabrikgelände. Als ich zum Lazarett kam, waren da schon russische Küchenhilfen, die hatten sie von Artemowsk mitgenommen. Es waren ein halbes Dutzend junge Ukrainerinnen, die mit den Sanitätern befreundet waren.

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