Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit

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Vorwort zur 5. Auflage

Erfreulicherweise haben die Erstauflage 2007 und die weiteren Auflagen 2009, 2012 und 2015 eine solch positive Resonanz gefunden, dass nunmehr eine 5.Auflage 2019 erforderlich geworden ist. Nach gründlicher Überarbeitung befindet sich das Werk auf dem neuesten Stand von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur. Berücksichtigt worden sind insbesondere das Präventionsgesetz, das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels und zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes sowie des Achten Buches Sozialgesetzbuch, mehrere Änderungsgesetze zum Strafgesetzbuch, das Bundesteilhabegesetz, das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht sowie das Gesetz zur Neuregelung des Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger Personen.

Das Buch ergänzt das ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienene „Parallelwerk“ des Verfassers „Grundkurs Familienrecht für die Soziale Arbeit“ (4.Aufl. 2014). Auf beide Bücher bereitet der „Grundkurs Recht für die Soziale Arbeit“ vor (Ernst Reinhardt Verlag 4. Aufl. 2018).

Wiesbaden, im Herbst 2018

Reinhard Joachim Wabnitz

Vorwort zur 1. Auflage

Kinder- und Jugendhilferecht gehört zu den Kernfächern der Ausbildung von Studierenden an den Fachbereichen für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik bzw. Sozialwesen an Fachhochschulen und Universitäten in Deutschland. Sehr oft ist dort bereits im Grundstudium eine entsprechende Lehrveranstaltung zu besuchen und mit einer Klausur abzuschließen. Mit Blick darauf erscheinen die gängigen Lehrbücher überwiegend als zu umfangreich und komplex.

Diese Lücke will der vorliegende „Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit“ schließen, der aus Lehrveranstaltungen an der Fachhochschule Wiesbaden hervorgegangen ist. Das Buch vermittelt in 14 Kapiteln das für die Soziale Arbeit relevante Basiswissen insbesondere über das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) in einer systematischen und deshalb einprägsamen und zugleich auf die Zielgruppe zugeschnittenen, verständlich formulierten Art und Weise. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen Übersichten, die – zusammen mit dem gleichzeitig zu lesenden Gesetzestext – das „Wichtigste“ für die Klausur vermitteln, ergänzt um Erläuterungen und Fallbeispiele.

Wiesbaden, im Oktober 2006

Reinhard Joachim Wabnitz

1 Grundsätze und Strukturprinzipien des Kinder- und Jugendhilferechts I

1.1 Kinder- und Jugendhilfe(recht) und SGB VIII (§ 1)

1.1.1 Kinder- und Jugendhilfe

Was ist „Kinder- und Jugendhilfe“? Darunter versteht man die Gesamtheit der öffentlichen Sozialisationshilfen für junge Menschen sowie der Unterstützungsleistungen für deren Familien, Erziehungs- und Personensorgeberechtigte außerhalb von Familie, Schule, Hochschule, Berufsausbildung und Arbeitswelt.

Der Begriff „Kinder- und Jugendhilfe“ ist inhaltlich identisch mit dem früher und auch heute noch gebräuchlichen Begriff „Jugendhilfe“. Beide beziehen sich auf junge Menschen, also Kinder, Jugendliche und junge Volljährige im Alter von unter 27 Jahren, sowie ihre Personensorge- und sonstigen Erziehungsberechtigten. Beiden Begriffen liegt ein umfassendes Verständnis von Kinder- und Jugendhilfe zugrunde, das sowohl die traditionelle Jugendpflege (heute: Jugendarbeit einschließlich der außerschulischen Jugendbildung) als auch die „klassische“ Jugendfürsorge (heute im Wesentlichen: Hilfen zur Erziehung) und weitere Aufgaben umfasst („Einheit der Kinder- und Jugendhilfe“).

Die Kinder- und Jugendhilfe ist seit Jahrzehnten durch außerordentlich dynamische Ausweitungen von Aufgaben und finanziellen Aufwendungen gekennzeichnet (dazu: Fuchs-Rechlin/Schilling 2018; Schilling 2018). Im Jahre 2016 wurden in der Kinder- und Jugendhilfe deutschlandweit über 45,1 Mrd. € verausgabt (Statistisches Bundesamt 2017a). Seit 1992 haben sich die indexierten Nettoausgaben der kommunalen Haushalte für die Kinder- und Jugendhilfe mehr als verdreifacht und sind weitaus stärker gestiegen als die Ausgaben in allen (!) anderen kommunalen Aufgabenbereichen (Deutscher Bundestag, 14. Kinder- und Jugendbericht 2013, 268 f.). Zumindest in quantitativer Hinsicht war die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte!

Die Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht (a. a. O., 47) hat zu Recht betont: die Kinder- und Jugendhilfe „ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“. Denn sie bietet heute Infrastrukturleistungen für komplette Altersjahrgänge an, bis hin zur „Vollversorgung“ (bei fast 100-prozentiger Inanspruchnahme) im Kindergartenbereich. Die Kinder- und Jugendhilfe wird auch sonst in vielen Feldern immer selbstverständlicher in Anspruch genommen, etwa im Bereich der Krippen, der Frühen Hilfen, der Beratungsdienste oder der Schulsozialarbeit u. a. In der Kinder- und Jugendhilfe, einer der großen „Wachstumsbranchen“ in Deutschland, arbeiten heute mehr als 800.000 Menschen hauptberuflich (Statistisches Bundesamt 2017b) – übrigens mehr als in der deutschen Automobilindustrie – und darüber hinaus noch unzählige ehrenamtlich. Die Kinder- und Jugendhilfe hat eine Präsenz und auch politische Bedeutung erlangt, die sie nie zuvor hatte.

1.1.2 Kinder- und Jugendhilferecht

Das Kinder- und Jugendhilferecht umfasst die Gesamtheit der Rechtsvorschriften des Bundes- und Landesrechts für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Das wichtigste Gesetz des Kinder- und Jugendhilferechts ist das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe). Darüber hinaus gibt es weitere Bundesgesetze wie das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG), das SGB I und X, das Jugendschutzgesetz (JuSchG), das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), das Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (JFDG), das Jugendgerichtsgesetz (JGG), das Unterhaltsvorschussgesetz (UhVorschG) und das 4. Buch des BGB (Familienrecht). Daneben bestehen internationale Abkommen wie das Haager Minderjährigenschutzabkommen (Haager MSA) und die UN-Kinderrechtskonvention. Das Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes wird ergänzt und konkretisiert durch Landesrecht der 16 Bundesländer, insbesondere durch deren Landesausführungsgesetze zum SGB VIII: zur Organisation (siehe Kap. 12), zur Jugendarbeit (5.5), zu den Kindertagesstätten und zur Kindertagespflege (Kap. 6.4) sowie zum Kinderschutz. Auf kommunaler Ebene existiert Satzungsrecht, z. B. über das Verfahren des Jugendhilfeausschusses.

1.1.3 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)

Das KJHG ist die weithin übliche Kurzbezeichnung des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26.6.1990 (BGBl I 1163). Dieses war ein „Artikelgesetz“, gleichsam ein „Mantelgesetz“ mit zahlreichen Teilen. Der wichtigste Teil war und ist dessen Artikel 1, mit dem das seinerzeit neu formulierte Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) als Teil des Sozialgesetzbuches in dieses eingefügt worden war. Daneben gab es weitere Artikel, die heute nicht mehr von Bedeutung sind. Das „Verhältnis“ von KJHG und SGB VIII muss man sich also wie in Übersicht 1 dargestellt vorstellen.

Übersicht 1

KJHG = Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts

Art. 1: SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe)

Art. 2 bis 9: Änderungen des SGB I, X, BGB, JGG u. a.

Art. 10 bis 19: Übergangsvorschriften (bis 31.12.1994)

Art. 20 bis 24: Schlussvorschriften

Die korrekte Zitierweise einschlägiger §§ lautet deshalb nicht: § X KJHG, sondern

1. entweder: § X SGB VIII (wie mittlerweile üblich)

2. oder: Art. 1 § X KJHG

1.1.4 Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)

Im Folgenden wird im Wesentlichen nur noch vom SGB VIII die Rede sein, zurzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.09.2012 (BGBl I. S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30.10.2017 (BGBl I. S. 3618). Das SGB VIII ist ein modernes, verständlich formuliertes und einleuchtend untergliedertes Gesetz. Seine Struktur und Systematik können nicht selten für Auslegungsfragen nutzbar gemacht werden. Das SGB VIII enthält elf Kapitel mit insgesamt ca. 150 Paragrafen (siehe Übersicht 2).

Übersicht 2

Die Gliederung des SGB VIII in elf Kapitel

1. Allgemeine Vorschriften (§§ 1 bis 10); sie gelten für alle folgenden Kapitel und sind grundlegend für das Verständnis des gesamten SGB VIII!

2. Leistungen der (Kinder- und) Jugendhilfe (§§ 11 bis 41); diese Paragrafen sind für die Soziale Arbeit am wichtigsten!

3. andere Aufgaben der (Kinder- und) Jugendhilfe, (§§ 42 bis 60); -hoheitliche und für die Soziale Arbeit wichtige Schutzaufgaben betreffend Kinder und Jugendliche!

4. Schutz von Sozialdaten (§§ 61 bis 68)

5. Träger der (Kinder- und) Jugendhilfe, Zusammenarbeit, Gesamtverantwortung (§§ 69 bis 81); wichtig für das Gesamtsystem der freien und öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe!

6. zentrale Aufgaben §§ 82 bis 84 (auf Bundes- und Landesebene)

 

7. Zuständigkeit, Kostenerstattung (§§ 85 bis 89h)

8. Kostenbeteiligung (§§ 90 bis 97c)

9. Kinder- und Jugendhilfestatistik (§§ 98 bis 103)

10. Straf- und Bußgeldvorschriften (§§ 104, 105)

11. Schlussvorschriften (§ 106)

Bereits mit Blick auf das frühere, bis 1990 geltende Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) hat das Bundesverwaltungsgericht in den 1970er Jahren festgestellt, dass dieses „seinem Gegenstand nach“ ein „Erziehungsgesetz“ sei (BVerwGE 52, 214 f.). Dies gilt auch für das SGB VIII, auch wenn dabei der Fokus „Stärkung und Unterstützung der Familien“ verstärkt in den Mittelpunkt der rechtlichen Regelungen gerückt ist. Außerdem ist das SGB VIII ein Leistungs-, Struktur- und Fördergesetz.

Das „Leitmotiv“ für das SGB VIII beinhaltet dessen § 1 Abs. 1, ergänzt um Absatz 3. Gemäß § 1 Abs. 1 SGB VIII hat jeder junge Mensch „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Diese zweifache – individuelle wie soziale – Zielsetzung der Kinder-und Jugendhilfe zieht sich gleichsam wie ein „roter Faden“ durch das gesamte SGB VIII. Eine Konkretisierung erfolgt durch § 1 Abs. 3 Nr. 1 bis 4.

1.2 Kinder- und Jugendhilferecht, Familienrecht und Grundgesetz

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, die ranghöchste innerstaatliche Rechtsquelle, enthält mehrere Verfassungsbestimmungen, die sowohl für Ehe und Familie als auch für die Kinder- und Jugendhilfe wichtig sind (siehe dazu Übersicht 3).

Übersicht 3

Kinder- und Jugendhilferecht und Grundgesetz (GG)

1. Art. 6 Abs. 1 Ehe und Familie

■ besonderer Schutz der staatlichen Ordnung

2. Art. 6 Abs. 2 Pflege und Erziehung der Kinder

■ als Recht und Pflicht der Eltern (Satz 1),

■ über das die staatliche Gemeinschaft wacht „Staatliches Wächteramt“ (Satz 2)

3. Art. 6 Abs. 3

■ Fremdplatzierung von Kindern nur bei Versagen der Eltern oder bei drohender Verwahrlosung der Kinder

4. Art. 6 Abs. 5 Kinder

■ Gleichberechtigung von nichtehelichen und ehelichen Kindern

Von fundamentaler Bedeutung für das Kinder- und Jugendhilferecht wie für das Familienrecht ist jedoch primär Art. 6 Abs. 2 GG, der zwei Sätze enthält. Nach Satz 1 sind Pflege und Erziehung der Kinder „zuvörderst“ (also: in erster Linie) Recht und Pflicht der Eltern. In dieses verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht darf der Staat mithin grundsätzlich nicht eingreifen – es sei denn, das Kindeswohl wäre gefährdet.

Deshalb wird Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch den weiteren Satz 2 ergänzt, wonach der Staat über „deren Betätigung“ (also: die Wahrnehmung von Elternrechten und -pflichten) wacht. Aufgrund dieses „staatlichen Wächteramtes“ muss der Staat z. B. bei Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung eingreifen. Die zuständigen Stellen sind mithin befugt, ggf. zum Schutz von Kindern und Jugendlichen dabei eventuell auch Elternrechte einzuschränken.

Auf diesen fundamentalen Verfassungsnormen von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG, die wortgleich (!) in § 1 Abs. 2 SGB VIII wiederholt werden, bauen sowohl das Familienrecht als auch das Kinder- und Jugendhilferecht (nach dem SGB VIII) auf (siehe Übersicht 4).

Übersicht 4

Grundgesetz, Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht

Die beiden zentralen Verfassungsnormen sind

■ Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG („Elternrechte/-pflichten“)

wortgleich mit § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sowie

■ Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG („Staatliches Wächteramt“)

wortgleich mit § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.

Sie werden konkretisiert: insbesondere durch Buch 4. BGB (Familienrecht) (zu Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) bzw. das SGB VIII sowie §§ 1666 ff. BGB (zu Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG)

„Dazwischen“ gibt es umfassende präventive sowie Familien unterstützende, ergänzende und ggf. ersetzende Leistungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe (§§ 11 bis 41 SGB VIII).

Zugleich bestehen Spannungsfelder zwischen Elternrechten, Kinderrechten und staatlichen Eingriffsbefugnissen – und in der Kinder-und Jugendhilfe zwischen „Leistung und Eingriff“ bzw. „Hilfe und Kontrolle“(„doppeltes Mandat“ des JA).

Unter dem „Dach“ von Art. 6 Abs. 2 GG entfalten sich Familienrecht und Kinder- und Jugendhilferecht in einer mannigfach aufeinander bezogenen Weise. In Buch 4. BGB Familienrecht wird an zahlreichen Stellen auf das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) verwiesen, und umgekehrt wird an etlichen Stellen im SGB VIII das Regelwerk des Buches 4. BGB Familienrecht vorausgesetzt. Das 4. Buch Familienrecht (BGB) und das SGB VIII stellen sich also in weiten Teilen gleichsam als „siamesische Zwillinge“ dar, die getrennt voneinander nicht vollständig begriffen werden können.

Aus der Sicht des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann man des Weiteren Folgendes sagen: Das Kinder- und Jugendhilferecht rankt sich gleichsam „zwiebelförmig“ um dieses herum. Das SGB VIII beinhaltet grundsätzlich freiwillige Leistungen, die in Anspruch genommen werden können, aber nicht in Anspruch genommen werden müssen.

Entsprechend den in Übersicht 5 gekennzeichneten vier Alternativen gestaltet sich das Kinder- und Jugendhilferecht – aus Sicht der grundgesetzlich verbürgten Elternrechte – jedoch schrittweise „intensiver“, bis hin schließlich zu dem Punkt, wo bei Kindeswohlgefährdung sogar Eingriffe in diese (durch das Familiengericht) erforderlich sind.

Übersicht 5

Elternrecht und Kinder- und Jugendhilfe aus der Perspektive des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sowie der §§ 1626 ff. BGB:

1. Alternative: Die Eltern gewährleisten „normale“ Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder (entsprechend §§ 1626 ff. BGB): Es sind keine Maßnahmen nach dem SGB VIII erforderlich.

2. Alternative (faktisch der häufigste Fall!): Eltern suchen ergänzende/unterstützende Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. in Form von Kindertagesbetreuung oder -pflege (§§ 22 ff.), Familienbildung, -freizeiten und -erholung (§ 16), oder von speziellen Angeboten der Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 19 bis 21).

3. Alternative: Die Eltern suchen Unterstützung in schwierigen Situationen, z. B. durch Eheberatung oder Beratung in Fragen von Trennung, Scheidung oder bei Sorge-, Umgangs- oder Unterhaltsfragen (§§ 17, 18).

4. Alternative: Es besteht im Falle von (drohenden) Erziehungsdefiziten Bedarf hinsichtlich spezieller sozialpädagogischer Hilfe und Unterstützung und damit Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§§ 27 ff.):

■ Beantragen die Eltern eine solche Hilfe nicht, geschieht nichts! Der Grundsatz lautet: keine Zwangshilfen in die Familie!

■ Aber es gibt eine Grenze bei Kindeswohlgefährdung – dann Maßnahmen ggf. nach §§ 8a, 42 sowie § 1666 BGB.

1.3 Freie und öffentliche (Kinder- und) Jugendhilfe (§§ 3, 4)

Gemäß § 3 Abs. 1 ist die deutsche (Kinder- und) Jugendhilfe gekennzeichnet durch eine kaum übersehbare Vielfalt von öffentlichen und insbesondere freien Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und durch eine große Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen. Die wesentlichen allgemeinen Regelungen für die freie und öffentliche Jugendhilfe sind in den §§ 3 und 4 enthalten, die in den §§ 69 bis 81 weiter konkretisiert werden.

1.3.1 Freie (Kinder- und) Jugendhilfe

Freie (Kinder- und) Jugendhilfe nach den §§ 3 und 4 umfasst alle nichtöffentlichen Träger und Organisationen, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne der §§ 1 und 2 wahrnehmen (siehe Übersicht 6).

Übersicht 6

Freie Träger der (Kinder- und) Jugendhilfe sind z. B.

■ Verbände, Gruppen und Initiativen der Jugend

■ Träger der außerschulischen Jugendbildung

■ Sportvereine und -verbände

■ Träger der Kulturarbeit

■ Träger der Jugendsozialarbeit

■ Träger und Einrichtungen der Familienförderung, -bildung, -beratung und -erholung

■ Träger von Tageseinrichtungen für Kinder

■ Elterninitiativen

■ Verbände der freien Wohlfahrtspflege

■ Kirchen und andere Religionsgemeinschaften

■ Gewerkschaften

■ Bildungseinrichtungen

■ Bürgerinitiativen, Trägervereine etc.

■ Träger von Heimen und anderen Diensten oder Einrichtungen der Erziehungshilfe

■ Träger im Bereich der Jugendgerichtshilfe

■ Vereine zur Führung von Vereinsvormundschaften

■ privatgewerbliche Träger

In Deutschland gibt es Tausende von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe. Sie existieren zum Teil schon länger als die Bundesrepublik Deutschland, die Länder und die derzeit bestehenden kommunalen Gebietskörperschaften. Traditionell überwiegen gemeinnützige, verbandlich, kirchlich oder gewerkschaftlich organisierte Organisationen und Institutionen, die zudem vielfach auch auf überörtlicher, Landes- oder Bundesebene zusammengeschlossen sind. Außerdem existieren zahllose Initiativen und Gruppen vor Ort sowie in noch relativ geringer Zahl privatgewerbliche freie Träger. Freie Träger erbringen den deutlich überwiegenden Teil der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vor (Wabnitz 2015, 219; vgl. auch Münder et al. 2013, vor § 69 Rz. 8 ff. Deutscher Bundestag, 14. Kinder- und Jugendbericht, 284 ff.).

Die freie Kinder- und Jugendhilfe entscheidet selbst, ob und in welchem Umfang sie tätig wird. Sie bedarf insoweit keiner staatlichen „Konzession“ oder Erlaubnis. Begehren freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe jedoch öffentliche Förderung, müssen sie die dafür bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. §§ 74 ff.) akzeptieren.

1.3.2 Öffentliche (Kinder- und) Jugendhilfe

Öffentliche (Kinder- und) Jugendhilfe umfasst alle in Übersicht 7 genannten öffentlich-rechtlichen Rechtsträger und Behörden, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII wahrnehmen.

Übersicht 7

Öffentliche Kinder- und Jugendhilfe

1. Träger der öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe als Träger der wichtigsten Jugendbehörden Jugendamt (JA) und Landesjugendamt (LJA) sind

■ örtliche Träger nach § 69 Abs. 1 und 3, die ein JA zu errichten haben; sie sind sachlich zuständig für fast alle Einzelfall bezogenen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und tragen insoweit die Gesamtverantwortung nach § 79 Abs. 1, sowie

■ überörtliche Träger nach § 69 Abs. 1 und 3, die ein LJA zu errichten haben und dort „überörtliche“, im Wesentlichen beratende und unterstützende Aufgaben wahrnehmen.

2. Andere Jugendbehörden sind

■ kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände, die nicht örtliche Träger der öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe sind; sie engagieren sich insbesondere im Bereich der Kindertagesbetreuung und der Jugendarbeit,

■ oberste Landesjugendbehörden nach § 82 Abs. 1, in den Flächenländern die „Jugendministerien“, die landesweite Aufgaben erfüllen, sowie

■ die oberste Bundes(jugend)behörde nach § 83 Abs. 1, die im Bereich der Bundesregierung nationale und internationale Aufgaben wahrnimmt.

Für die Praxis der Sozialen Arbeit primär wichtig sind die Träger der öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe nach § 69 Abs. 1. Diese sind zugleich Rechtsträger der – von ihnen juristisch zu unterscheidenden (!) – Jugendbehörden nach § 69 Abs. 3, den bundesweit ca. 560 Jugendämtern und bzw. den 17 Landesjugendämtern (Zahlenangaben aus: Deutscher Bundestag, 14. Kinder- und Jugendbericht 2013, 291).

1.3.3 Zusammenarbeit der öffentlichen mit der freien (Kinder- und) Jugendhilfe

Charakteristisch für das System der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII sind die in Übersicht 8 genannten fünf Strukturprinzipien.

Übersicht 8

Zusammenarbeit und Verhältnis von Trägern der freien und der öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe nach dem SGB VIII

1. partnerschaftliche Zusammenarbeit, § 4 Abs. 1 Satz 1, bei Achtung der Selbstständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung, Aufgabenwahrnehmung und Organisation, § 4 Abs. 1 Satz 2; vgl. auch § 71, §§ 74, 77, 78, 78a ff., § 80 (Zusammenarbeit in JHA/Arbeitsgemeinschaften, bei der Finanzierung und der Jugendhilfeplanung);

2. Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger, § 79, die auch allein Adressaten von Leistungsverpflichtungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 und ggf. von Rechtsansprüchen sind;

3. Leistungserbringung durch freie und öffentliche Träger, § 3 Abs. 2 Satz 1, bei grundsätzlichem Vorrang der freien Träger, § 4 Abs. 2 („Subsidiaritätsprinzip“). Die öffentliche Jugendhilfe soll also im Bedarfsfall zunächst prüfen, ob Angebote der freien Jugendhilfe vorhanden sind oder – ggf. mit öffentlicher Förderung (siehe 4.) – geschaffen werden können, und zunächst von eigenen Maßnahmen absehen. Ein „absolutes Betätigungsverbot“ der öffentlichen Jugendhilfe folgt daraus aber nicht.

 

4. Förderung der Träger der freien Jugendhilfe durch die öffentliche Jugendhilfe, § 4 Abs. 3 i. V. m. §§ 74 ff;

5. besondere Situation im Bereich der „anderen Aufgaben“: Wahrnehmung derselben durch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 3 Abs. 3, wobei allerdings anerkannte Träger der freien Jugendhilfe gemäß § 76 (bei Fortbestehen der Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger) bei bestimmten Aufgaben beteiligt werden können.

Das dargestellte Gesamtsystem der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland stellt ein historisch gewachsenes, bewährtes, aber auch kompliziertes Verhältnis und Zusammenspiel von freien und öffentlichen Trägern dar. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem grundlegenden Urteil vom 18.7.1967 (E 22, 180, 200, 202) in diesem Zusammenhang von einer „gemeinsamen Bemühung von Staat und freien Jugend- und Wohlfahrtsorganisationen“ sowie von der hier „üblichen und bewährten Zusammenarbeit“ zwischen den Trägern der öffentlichen und freien (Kinder- und) Jugendhilfe gesprochen. Partnerschaftliche Zusammenarbeit ist dabei der wesentliche Maßstab und gleichsam das „Leitmotiv“ für das Verhältnis zwischen der öffentlichen und der freien (Kinder- und) Jugendhilfe.

Literatur

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hrsg.) (2008): Kinder- und Jugendhilferecht von A–Z

Deutscher Bundestag (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht

Gadow, T., Peucker, C., Pluto, L., van Santen, E., Seckinger, M. (2013): Wie geht's der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen

Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.) (2011b): Die Bücher des Sozialgesetzbuchs. Einführung für die Soziale Arbeit

Internationaler Jugendaustausch- und Besucherdienst (IJAB) (2007): Kinder-und Jugendpolitik. Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland

Jordan, E., Maykus, S., Stuckstätte, E. (2012): Kinder- und Jugendhilfe. 3. Aufl.

Kepert, J., Kunkel, P. (2017): Handbuch Kinder- und Jugendhilferecht

Kreft, D., Mielenz, I. (2017): Wörterbuch Soziale Arbeit. 8. Aufl.

Münder, J., Wiesner, R., Meysen, Th. (Hrsg.) (2011): Kinder- und Jugendhilferecht. Handbuch. 2.Aufl.

Otto, H.-U., Thiersch, H., Treptow, R., Ziegler, H. (Hrsg.) (2018): Handbuch Soziale Arbeit. 6.. Aufl.

Wabnitz, R. J. (2004a): Zur Rechtsstellung von Trägern der freien Jugendhilfe, insbesondere auf Bundesebene

Wabnitz, R. J. (2018b): Hessisches Kinder- und Jugendhilfegesetzbuch (HKJGB). Kommentar. 3. Aufl.

Wiesner, R., Schindler, G., Schmid, H. (2007): Das neue Kinder- und Jugendhilferecht. Einführung, Texte, Materialien

Fall 1: Prüfschema und Arbeitsanleitung zur Lösung kinder- und jugendhilferechtlicher Fälle

Die Eheleute A und B haben vier Kinder und erbitten Auskunft darüber, ob und ggf. welche Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ihre Kinder bzw. sie als Eltern vom JA oder von Trägern der freien Jugendhilfe erhalten können.