Die Faxen Dicke

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Die Faxen Dicke
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Die Faxen Dicke
Die Faxen Dicke
Hörbuch
Wird gelesen Reiner Hänsch
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In der offenen, hölzernen Urwald-Empfangshalle des „Paradise Rock Resorts“ sehen wir die Bayern schon wässerige, gelbe Getränke schlürfen. Die Lotzes sitzen erschöpft auf ihren Koffern und das Ehepaar Leichenhalle redet auf einen einzelnen verunsicherten Eingeborenen hinter der Rezeptionstheke ein. Offensichtlich sind die beiden mit ihrem Zimmer nicht zufrieden, das sie noch gar nicht gesehen haben. Superior Double Deluxe Beachview Senator Suite, also SupDoubDelBeSeSui, hätten sie schließlich bestellt und keinen einfachen popeligen SupHiBung, also Superior Hillside Bungalow, ohne Senator und Deluxe und Suite und so weiter. Frau Leichenhalle macht einen Riesenaufstand deswegen. Ihr Mann wäre vielleicht sogar mit SupHiBung einverstanden. Dem ist heute alles egal.

Ich mische mich vorsichtig in das Gespräch ein und bedränge meinerseits den Eingeborenen mit der vorsichtigen Frage, ob denn noch mit jemandem zu rechnen sei, der sich auch um uns Gestrandete kümmern und uns zum Beispiel bei den Koffern helfen könne.

„Wann Minnit, pliess!“, sagt der thailändische junge Mann lächelnd zu mir und widmet sich erst mal wieder den aufständischen Bayern.

Steffi sieht mich an und knurrt böse. Tja, bevor die Koffer ganz durchgeweicht sind und wir auch die nächsten Tage keinen trockenen Faden am Leib haben, gehe ich also wieder hinaus in die tropische Katastrophe und rette so viele Koffer wie möglich, während Steffi sich um Max kümmert, der inzwischen fest eingeschlafen ist und zwischendurch ein paarmal heftig niest und, verdammt noch mal, immer noch Temperatur hat.

Ermattet sinke ich nach dem letzten Koffertransfer in einen der aufgestellten Korbsessel, stiere glasig in das Prasseln des gnadenlosen Regens hinaus, schütte den wässrigen Orangensaft, den eine plötzlich aus dem unheimlichen Nichts doch noch aufgetauchte, lächelnde thailändische Fee mir reicht, in mich hinein wie ein Verdurstender, sehe meine arme, kleine Familie traurig an, weil ich es so endlos bereue, sie in eine solch bedauernswerte Lage gebracht zu haben, und mache mich ergeben an das Ausfüllen der Anmeldeformulare.

Das Ehepaar Leichenhalle ist verschwunden. Die Lotzes auch.

Dann warten wir nur noch etwa fünfzehn Minuten auf das Ausstellen der „Bläckfäss-Kuhponns“, Breakfast Coupons, ohne die wir am nächsten Morgen zweifellos verhungern würden, wie man uns versichert, und als die freundliche Frau uns die Coupons mit den Worten „Wällkamm to Pelledei!“, Welcome to Paradise!, überreicht, haben wir es geschafft und sind dem Koma nahe.

Wir nehmen noch schemenhaft wahr, wie aus dem undurchdringlichen, lärmenden Grün eine hölzerne Hütte vor uns auftaucht, wie drei Betten vor uns erscheinen, ich registriere noch, wie ich automatisch in die Tasche greife, um dem Helferlein, das uns dann doch noch die Koffer hinterhergeschleift hat, einen weiteren grünen Schein in die Hand drücke, dessen Wert ich immer noch nicht kenne – und dann brechen wir kraftlos zusammen.

Es ist Heiligabend, die Matratzen sind bretthart und unser schönes Sauerland ist ganz weit weg. An den Rückruf bei Ulli habe ich auch nicht mehr gedacht.

25.12. Zweiter Tach: Well done

„Ts, ts, ts“, macht der Vorwurfsvogel. Er sitzt direkt vor meinem Fenster auf der Rückenlehne einer abgewetzten Sonnenliege und sieht mich frech und erwartungsvoll an. Ich weiß nicht, wie lange er mir schon Vorwürfe macht, bis ich endlich wach geworden bin, und ich weiß auch nicht warum, aber jetzt hat er es endlich geschafft, mich aus dem finsteren Totenreich der Langstreckenurlauber zurückzuholen. Ich sehe ihn ebenso interessiert an wie er mich. Er sieht prächtig aus, eigentlich besser als ich, ist recht groß, hat schwarzes Gefieder, das um die Beine herum weiß ist und an den Wangen fetzige, gelbe Streifen hat. Ich habe noch nicht einmal weißes Gefieder an den Beinen.

Um ihn besser zu sehen, muss ich gegen die Sonne anblinzeln. Ja, die Sonne. Es muss die Sonne sein, von der wir so lange geträumt haben. Die tropische, warme, glücklich machende Sonne. Sie blitzt durch das dichte, grüne Blätterwerk, das uns am Abend zuvor noch so unheimlich und abweisend vorkam, so als wollte der mächtige Urwald uns lästige, widerliche Eindringlinge wieder angeekelt ausspucken oder gar verschlingen. Diese Sonne entwickelt selbst durch die zerkratzten und ungeputzten Scheiben der kleinen Fenster unserer Hütte eine enorme Kraft.

Das Paradies? Haben wir es wirklich gefunden?

Max hustet im Schlaf. Er liegt in einem Bett, das quer zu unserem Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand unserer Behausung steht. Es ist eng, winzig und schäbig hier.

Wo sind wir? Strafgefangenenlager oder tropisches Obdachlosenasyl? Der optimistische Reisekatalog hat diese Behausung als SupHiBung, Superior Hillside Bungalow, angepriesen. Hört sich doch weitaus besser an, als es aussieht.

Max’ Husten hört sich jetzt allerdings schon fast so an wie das Bellen eines Seehundes, und das ist gefährlich. Wir kennen diese bösartige Art von Husten nur zu gut von hunderten durchwachten Nächten mit heißen und kalten Umschlägen, Tröpfchen, Zäpfchen, Säftchen und Wärmfläschchen. Oh, nein, bitte nicht. Bitte, nicht jetzt, wo wir doch im Paradies sind. Dieser Husten gehört ins Sauerland.

Steffi sitzt augenblicklich aufrecht im Bett. Den frechlauten Vorwurfsvogel hat sie nicht gehört, aber ihr Kind kann sie hören, wenn es am anderen Ende der Welt hustet. Sie fühlt ihn husten. Das war schon immer so. Während ich meistens aufwendig geweckt werden musste, wenn Max in seiner früheren Kindheit solche Hustenanfälle bekam, und mir dafür oft schwere Vorhaltungen machen lassen musste, war Vogelmama Steffi immer sofort da, wenn ihr Junges sie brauchte. Er ist eben immer noch ein Teil von ihr, weil er ja mal in ihr drin war. Das Ei. Ein großes Wunder. Mein Anteil an diesem Wunder ist da wohl eher zu vernachlässigen.

Steffi springt auf und der Vorwurfsvogel verschwindet ärgerlich krächzend.

„Der arme Kerl“, sagt sie. „Jetzt kriegt er auch noch diese Pest. Ausgerechnet jetzt. Warum sag ich denn immer, er soll den obersten Knopf zumachen, wenn er rausgeht, warum sag ich denn immer, er soll mit nassen Haaren überhaupt nicht rausgehen, warum sag ich das denn alles, wenn mir sowieso keiner zuhört?“

„Ach, wird schon wieder“, sage ich, aber das ist nicht unbedingt das Richtige.

„Wird schon wieder, wird schon wieder! Was Besseres fällt dir dazu auch nie ein“, schimpft sie weiter, und ich weiß, dass ich jetzt besser erst mal eine Weile die Klappe halte. Wenn sie in diesem Zustand ist, sollte ich lieber gar keine eigene Meinung haben. Das könnte sehr gefährlich werden. Für mich, für uns, für alle. Das kann für einen Außenstehenden schon mal so aussehen, als sei der Weiterbestand der ganzen Familie Knippschild, jetzt Nipsi, in Gefahr, was natürlich niemals so ist.

Steffi wühlt auch schon wütend in ihrer mitgebrachten Apothekentasche, die allein schon fast einen der riesigen Schrankkoffer füllt, und sucht das geeignete Gegengift für diesen verdammten Urlaubsversauer.

„Mist, ich hab doch an alles gedacht, aber den hab ich doch glatt vergessen. Der dämliche Prospan-Saft steht bestimmt noch auf der Kommode im Bad. Wenn man nicht an alles denkt!“

Steffi müsste jetzt eigentlich noch sagen: „Und du denkst sowieso an nichts“, aber das sagt sie dann nicht.

Sie blickt aus dem Fenster und sieht die Sonne. Und da wird sie still und verwandelt sich augenblicklich in ein staunendes, hübsches, kleines Mädchen. Ach, ich liebe sie doch sehr. Sie sieht die Sonne, nach der wir uns schon so lange gesehnt haben, die den finsteren, alles verschlingenden Dschungel vor dem Fenster in einen prachtvollen, tropischen Garten verwandelt hat.

„Ja, schön, nä“, sage ich, während ich sie so beobachte und lächle zufrieden und ziemlich blödsinnig dahin.

„Ja, schöön.“

Max bellt wieder und wacht auf.

„Cool“, sagt er statt „Guten Morgen“, als er aus dem Fenster blickt und bellt gleich noch mal. Wir verziehen die Gesichter und zucken bei jedem Huster rhythmisch zusammen.

Max bekommt erst mal irgendeinen Saft und eine Pille, und dann sieht sich die Familie Nipsi erstmalig in ihrem neuen Asyl um, das sie ja gestern Nacht überhaupt nicht wahrgenommen hat. Und man muss schon voller Anerkennung sagen: Es sieht absolut erbärmlich aus. Klein, eng, windschief mit enormem Renovierungsstau, einem rostigen, gefährlich eiernden und ächzenden Ventilator unter der Decke und vielen, vielen Ritzen in den dünnen Bretter- und Bambuswänden, durch die man sogar ein wenig von der gewaltigen Dschungelpracht sehen kann.

Ein Gecko klebt unter der Decke und schüttelt seinen Kopf. Nein, ich glaube, es sieht nur so aus. In Wirklichkeit bewegt er sich überhaupt nicht und wartet auf Fliegen. Auf uns hat er sicher nicht gewartet.

„Sah im Prospekt auch ganz anders aus“, sagt Steffi wieder und ihre Enttäuschung ist unüberhörbar. Sie hat aber durchaus recht. So haben wir es uns nicht unbedingt vorgestellt, das „Paradise Rock Resort“ aus dem Katalog „Traumziele der Erde“ auf der Trauminsel Ko Samui. So nicht.

O-Kli, o-Minib, o-TV … kein „Comfort“, kein „Senator“, kein „Deluxe“ und kein „Suite“. Bloß ein „Superior“, nach dem wir aber später noch suchen wollen.

„Wie viele Sterne hat denn der Schuppen?“, frage ich meine liebe Frau, weil ich’s einfach nur mal so wissen will.

„Keine Sterne“, antwortet sie bedrückt.

„Wie, gar keine Sterne?“

Das kann doch nicht sein. Selbst die allerübelste Absteige hat in den Katalogen immerhin noch fünf bis sechs Sterne, allerdings in der Landeskategorie, wie es immer so schön heißt, damit auch hinterher keiner den schwarzen Peter bekommt, wenn jemand vergeblich die Sterne gesucht hat.

 

„Drei Töffte-Sonnen“, sagt Steffi ganz traurig, als fühle sie sich allein verantwortlich für dieses Fiasko.

„Drei Töffte-Sonnen, Donnerwetter! Das hört sich doch gut an“, versprühe ich gut gelaunt etwas Optimismus, der aber leider sofort versickert.

Aus dem Wasserhahn tropft eine braune Brühe, die kaum eine Viertelstunde braucht, um wenigstens so klar zu werden, dass man sich trauen kann, einen Finger oder – für ganz Waghalsige – sogar die ganze Hand drunterzuhalten. Rüdiger Nehberg, der große Survival-Guru, hätte sich sicher auch noch das Gesicht da-mit gewaschen, die Zähne geputzt und hinterher noch einen köstlichen Tee damit aufgesetzt. Wir tun es erst mal nicht. Wir sind noch nicht so weit.

Ich werde gleich mal an der Lobby so richtig Wind machen. Nicht mit uns, Leute! So nicht. Da muss ein anderer Bungalow her. Wir wollen einen SupZiDuTeKliMe. Mindestens. Wenn nicht gar „Senator“ oder „Deluxe“ mit Minibar, TVSat, mit ALLEM!

„NICHT auf die Zahnbürste!“, bremst Steffi im letzten Moment unseren kränklichen, schwächelnden Max aus, der sich ganz artig die Zähne putzen will.

„Nicht auf die Zahnbürste! Hier ist extra Mineralwasser dafür“, ruft sie und reicht ihm eine der Plastikflaschen, die wohl freundlicherweise eigens für diesen Zweck bereitstehen.

„Mmh.“ Missmutig und achselzuckend lässt Max es über seine Zahnbürste laufen und putzt nachlässig und ohne Kraft und rechten Eifer seine Zähne.

„Fröhliche Weihnachten!“, rufe ich effektvoll meinen Leuten zu, als sie gemeinsam aus dem Bad kommen, und weise geheimnisvoll mit den Armen rudernd und etwas albern winkend auf die Päckchen, die ich in Windeseile auf dem Bett ausgebreitet und einigermaßen weihnachtlich zu drapieren versucht habe.

„Bescheeerung!“

„Ach du Scheiße“, sagt Steffi. Das finde ich jetzt nicht sehr weihnachtlich und ich sehe sie dafür auch einigermaßen vorwurfsvoll an.

„Weihnachten. Hab ich total vergessen.“

„Geil“, sagt Max, der Weihnachten zwar auch vergessen hat, aber das wichtigste Geschenk schon längst an seiner Form ausgemacht und brutal aufgerissen hat.

„Geil, ein Advance SP!“

Damit meint er die neueste Version eines Game Boys, von der er schon lange sehr dringend schwärmt. Die anderen winzigen Päckchen enthalten vier dazu passende Editionen, wie man die Software dafür nennt, und er ist glücklich. Volltreffer.

„Und das ist für dich“, säusele ich und halte Steffi ein kleines, ehemals im fernen Leckede-Hintersten liebevoll eingepacktes, aber nach fast zehntausend Kilometern Transport hoffnungslos zerknittertes Päckchen hin.

„Ich hab nix für dich!“, empört sie sich, „ich will nix“, und weist mein Päckchen entschlossen zurück.

„Ach, Steffi, ist doch nur ’ne Kleinigkeit, mach doch kein Geschiss draus“, spiele ich die ganze Sache runter, obwohl ich es doch ein klein wenig genieße, diesmal ein Geschenk für sie zu haben, wo sie offenbar keins für mich hat, denn meistens ist es andersherum. Ich drücke ihr das Päckchen gönnerhaft in die Hand. Sie nimmt es peinlich lächelnd an und öffnet es ganz vorsichtig und umsichtig.

„Ooooch, schööön, Oooohrringe!“

„Ja, schön, nä.“

Sie gefallen ihr also. Na bitte. So einfach ist das. Kurz nachgedacht und – schwupp – das richtige Geschenk ausgewählt.

„Aber ich hab doch gar keine Löcher“, meint sie dann ganz schüchtern und auch ehrlich bedauernd, dass sie mir jetzt doch noch das tolle Geschenk vermasseln muss.

„KEINE LÖCHER?“

Ich kann es gar nicht glauben und sehe sofort erst mal nach. Stimmt. Sie hat keine Löcher in den Ohrläppchen. Ja, hat denn nicht jede Frau Löcher in den Ohren? Mmh, meine jedenfalls nicht, und ich kann mich jetzt auch sehr dunkel erinnern, dass sie mir mal erzählt hat, dass es zu Entzündungen gekommen sei und dass sie dann die Sache mit den Löchern lieber gelassen hat. Es gäbe ja schließlich auch hübsche Clips.

„Naja … aber sie gefallen dir, ja?“

„Ja, seeehr schööön“, sagt sie höflich, und dann ist das Thema Geschenke und Weihnachten erst mal durch. Ist mir auch ganz lieb so. Tja, Clips. Naja.

„Zehn vor zehn“, stoße ich dann erschrocken mit Blick auf meine Uhr hervor und wühle schon panisch in meinen Taschen auf der Suche nach den Bläckfäss-Kuhponns.

„Wo hab ich die verdammten Zettel nur hingesteckt?“

Unser Leben scheint nur noch von Zetteln bestimmt zu sein.

Und wir brauchen sie ja unbedingt, um heute, am ersten Morgen im Paradies, nicht zu verhungern. Das hatte man uns ja noch eingeschärft. Da, ich habe sie. Ganz unten in den tiefsten, bisher unerforschten Tiefen der Tausend-Taschen-Hose.

So nenne ich meine geliebte grünbraune Expeditionshose, die ich so gerne trage, weil alles reinpasst, was man braucht oder auch nicht unbedingt braucht, aber erst mal lieber noch aufheben will. Manchmal dauert es bis zu einem halben Jahr, bis verschiedene sorgfältig, ausgewählte, aufgehobene seltene und unwiederbringliche Erinnerungsstücke wie Tankquittungen, Strafzettel oder Notizzettel mit wichtigen Adressen und Telefonnummern als zusammengeklumpte Papiermasse wieder auftauchen, weil meine Steffi natürlich nie die Taschen durchforstet, bevor sie meine Sachen brutal in die Waschmaschine stopft. Ts, ts, ts.

Die Bläckfäss-Kuhponns sind jedenfalls noch nicht zerfasert oder irgendwie beschädigt, nur leicht zerknittert, und das ist auch gut so, denn schließlich sind sie überlebenswichtig. Rüdiger Nehberg hat sicher keine.

Nur bis „tännäclock ey ämm“ gäbe es Frühstück. Auch das hat man uns gestern Abend noch eindringlich ins Koma geflüstert und außerdem steht es auch auf den Coupons drauf.

Jaja, Urlaub ist nicht einfach so rumhängen. Es gibt feste und eindeutige, ernsthafte Spielregeln, an die man sich auch halten muss. Wer mogelt, fliegt raus! Schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Der reibungslose Ablauf des durchorganisierten Urlaubsvergnügens muss einwandfrei gewährleistet sein, und wie ich das Räderwerk des Pauschalurlaubs kennengelernt habe, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass man auch hier im Paradies keine Gnade kennt.

Also hüllen wir uns, soweit noch nicht geschehen, in weitere sommerliche Kleidungsstücke wie kurze Hose, T-Shirt und leichte Bluse.

Ach, ist das schön, endlich mal die Jacken, Unterhemden, Schals, Pullover, Wollmützen, Mäntel, Thermojacken, Moonboots … also praktisch die gesamte Antarktis-Ausrüstung und vor allem die Schirme und Gummistiefel weglassen zu können! Und so eilen wir befreit aus der knarzenden Tür unserer Armenhütte in die sonnige, tropische Freiheit.

Ist das schön hier! Alles grün und dazwischen niedliche, halb zusammengebrochene Hütten wie unsere, aus denen sich wieder ganz andere Menschen aus ganz anderen Teilen der Welt quälen und ebenfalls ohne braunes Wasser im Gesicht den Tag begrüßen wollen und offensichtlich in Richtung Frühstücks-Arena hasten. Wahrscheinlich habe ich recht und das Frühstückszeitfenster schließt exakt um zehn Uhr. Ey ämm.

„Morng!“, ruft uns jemand aus der Nachbarhütte zu. Wir drehen uns erschrocken um und sehen Herrn Lotze-oder-so freundlich übers ganze Gesicht grinsen. In der rechten Hand eine dicke qualmende Zigarre.

„Na, wie isses? Chut cheschlaf’n? Schön hoite, woll?“

Etwas irritiert antworte ich: „Morgen! Gut. Ja … und ja.“

„Iss dat nich häärlich hia? Äntlich aus’m usseligen Doitschland raus, woll?“, sagt unser Nachbar und nuckelt an seiner dicken Zigarre.

‚Woll‘, sagt der? Ich wette, er kommt ungefähr da her, wo wir

auch herkommen.

„Un so schön waam, woll!“

Noch mal ‚woll‘. Ich winke irritiert, aber einigermaßen freundlich zurück.

„Pädder, getz mach den scheiß Stumpen aus! Wir müssen los!“, höre ich da noch hinten aus der Lotze-Baracke.

„Wo sind meine Schuhe?“, fragt Max und bellt noch mal, dass wir wieder rhythmisch mitzucken. Es tut uns jedes Mal selber weh und wir sehen uns mitleidend, aber auch genervt an. Zum einen natürlich wegen des verdammten Hustens, zum anderen aber wegen der Frage. Max weiß wirklich nie, wo seine Sachen liegen, und es scheint ihm auch egal zu sein. Seine Mutter wird ihm schon alles bringen. Ich sei angeblich genauso, er hätte das von mir. Aber das ist nur Steffis unverbindliche Meinung.

„Geh ohne Schuhe“, antworte ich ihm fröhlich und aufmunternd und fühle mich schon wie der ausgemachte Naturbursche, der entschlossen ist, endlich zum wahren, einfachen Leben zurückzufinden.

„Einfach so!“

Rüdiger Nehberg.

„Baarfuuß?“, fragt er mit blankem Entsetzen in den Augen.

„Ja, das geht hier. Barfuß. Natur, verstehst du? Wie Robin Kruse. Schon mal gehört?“

Ich weiß, dass er eigentlich Crusoe und Robinson heißt, aber Kruse hießen mal unsere Nachbarn, und die haben ihren Sohn Robin genannt. Das fand ich mutig.

Wir schaffen es nur bis etwa hundert Meter vor das Frühstücksgebiet – man kann es schon sehen – als Max in einen Nagel tritt, der im Paradies eigentlich gar nicht vorkommen sollte.

„Aua, aua“, jammert er, hüpft auf einem Bein und hält den vernagelten Fuß mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Au, verdammt, tut das weh, tut das weh.“

Ich bin kurz davor ’Stell dich nicht so an!’ zu sagen, aber ein Blick von Steffi genügt, diesen Ratschlag noch mal gründlich zu überdenken. Also wird im Handumdrehen daraus ein mürrisches „Lass mal sehen!“

Ich sehe mir fachkundig die Bescherung an und komme zu der halbwegs fundierten Meinung, dass es nur halb so schlimm sei. Der Nagel steckt ja noch nicht mal im Fuß drin. Er hat ja nur eine kleine, rote Delle hinterlassen, die in der Mitte einen winzigen Blutstropfen bildet. Wirklich winzig. Ich doziere aber trotzdem wissenschaftlich-pseudomedizinisch und absolut klugscheißerisch wie immer, dass man aber erst mal abwarten müsse, ob sich daraus eventuell eine Blutvergiftung ergeben würde. Ich kann’s eben nicht lassen. Das sähe man ja ganz einfach, indem die Vene (oder ist es die Ader?), die zum Herzen führt, nach einer Weile rot wird. Dann wäre es immer noch Zeit, etwas zu unternehmen.

„Blutvergiftung?“ – Steffi ist außer sich. Ich hätte dieses böse Wort einfach nicht benutzen sollen, es könnte mich um das heutige Frühstück gebracht haben. „‚Blutvergiftung‘, sagst du? Weißt du, was das heißt? Der Junge stirbt!“

„Jaaa, sicher … also, nein! Nein! … Es ist ja keine Blutvergiftung, es blutet ja noch nicht einmal“, versuche ich, das Unheil abzuwenden und das Frühstück zu retten. „Es ist auf jeden Fall KEINE BLUTVERGIFTUNG, Steffi, bitte, glaub mir.“

„Ach was, aber du hast ja gerade selbst gesagt, das kann man erst sehen, wenn die Vene zum Herzen rot wird. Willst du etwa so lange warten und Brötchen essen?“, schnauzt Steffi mich an und ist jetzt richtig wütend geworden. Ich bezweifle außerdem, dass es hier Brötchen geben wird, sage darüber aber erst mal nichts.

„Wir gehen jetzt zurück zu unserem Bungalow und ich wasche das auf jeden Fall aus, bevor ich in mein Brötchen beiße“, sagt sie mit einer Bestimmtheit, der man lieber nicht widersprechen sollte. Und dass sie unsere verfallene Baracke jetzt schon offiziell Bungalow nennt, finde ich richtig süß. Superior Hillside Bungalow, um genau zu sein.

„Nimm aber das Mineralwasser dafür“, gebe ich ihr noch als gut gemeinten Tipp mit auf den Weg, bin aber jetzt natürlich in einen ausgewachsenen Gewissenskonflikt geraten. Einfach und egoistisch den Weg zum nahen Frühstücksgelände antreten und meine Familie dem Schicksal überlassen, das kann ich ja nun auch nicht bringen. Was mache ich?

„Ach, es tut schon nicht mehr weh“, sagt da glücklicherweise der hungrige Max und steht auch schon wieder vorsichtig auf bei-den Füßen. „Lass uns lieber frühstücken gehn. Is schon wieder gut, ehrlich“

Steffi sieht ihn kritisch und zweifelnd an, aber vielleicht ist es auch bei ihr der Hunger, der sie magenknurrend einlenken lässt, nicht aber, ohne zu sagen: „Gut, dann machen wir’s eben am Tisch MIT MINERALWASSER!“

Und dann stiefeln wir los. Max humpelt ein wenig.

Es ist fünf Minuten nach zehn. Wir sind wohl die Letzten. Alle sind schon da, alle Tische besetzt, und die Bayern lächeln uns in Siegerpose zu. Erster! Sie haben sich den schönsten Platz auf dem hölzernen Deck gesucht, ganz vorne neben einer krummen Palme mit Blick auf das Meer.

Das Meer! Wir können es sehen und riechen. Oh, ist das schön. Herrlich blau und weit liegt es vor und etwas unter uns und noch etwa zwei-, dreihundert Meter entfernt. Aber es ist da und glitzert in der tropischen Sonne Ko Samuis, unseres Paradieses für die nächsten zwei Wochen. Die dicke schwarze Regenwolke, die sich von hinten energisch und bedrohlich ins Bild schiebt, ignorieren wir erst mal einfach. Die ist ja noch so weit weg.

 

„Melli Klissmä! Hau ah ju, Sir Missa Nipsi. Gutt molning, Madam Missi Nipsi. Hello Boy, wott jo nehm? Jo Bläckfäss-Kuhponns, pliess“, schiebt sich einer der Bediensteten sprechend und von rechts in das traumhafte Bild. Ich stutze noch einen kleinen Moment über „Melli Klissmä“, aber dann ist es mir auch schon klar, wir haben ja heute Weihnachten.

„Merry Christmas!“, antworte ich also fröhlich und reiche ihm lächelnd, aber etwas nervös, da wir die Zeit um fünf Minuten verpasst haben, den Coupon. Wenn das mal keinen Ärger gibt!

Aber er weist uns nur noch mal höflich darauf hin, dass es nur bis „tännäclock ey ämm Bläckfäss“ gäbe, dann gibt er uns den letzten noch freien Tisch – direkt neben der Toilette – ohne Sicht, ohne Palme, ohne Hoffnung. Verlierer.

Die Bayern grinsen hämisch. Na, wartet, denke ich. Morgen sind wir früher da. Die Sauerländer kommen noch!

Steffi sieht sich die fast tödliche Verletzung von Max jetzt genauestens an, gibt dann aber zögerlich Ruhe, weil wirklich nichts mehr zu sehen ist. Und von einer roten Spur des Todes bis zum Herzen schon gar nicht. Sie prüft das aber alle zwei bis drei Minuten mit einem sorgfältigen Blick auf den Fuß nach.

„Wott ju wont, Sir“, verneigt sich der nette, junge thailändische Mann, der eine Art folkloristische, landesübliche Tracht zu tragen scheint, die aber schon leicht zerschlissen, farb- und freudlos und teilweise auch in Fetzen an ihm herunterhängt und ihre besten Tage schon lange hinter sich hat. Er ist sehr freundlich und reicht mir bedenkenlos eine zerfledderte, laminierte Speisekarte, die sicher schon Generationen von Touris nachdenklich und interessiert auf der Suche nach der richtigen Essensentscheidung in ihren sonnenölverschmierten Händen gewendet, geknetet und bearbeitet haben müssen und deren Preise alle mit kleinen Schildchen überklebt und sicherlich speziell für uns saftig erhöht worden sind. Aber wir sind ja Pauschalis

Bläckfäss inkluussiff.

„Wott ju häv?“, frage ich zurück, schon recht gewandt, wie ich meine, mit der neuen Thai-Englisch-Sprache umgehend.

„Koffie, tii, tooss, sklämbel ägg, boil ägg, flei ägg, orän dschuu.“

Das hört sich doch nach einer gewaltigen Auswahl an, und ich nicke ihm wohlwollend und anerkennend zu. Meine liebe Steffi frage ich allerdings etwas nörgelig: „Gibt’s kein Buffet hier?“ Steffi zuckt mit den Achseln. Dann frage ich eben den freundlichen, jungen Mann: „No buffet?“

„No baffej“, bestätigt er mir freundlich lächelnd, schüttelt eifrig den Kopf und wartet höflich und weiterhin lächelnd auf unsere Entscheidungen betreffs der etwas eierspeisenlastigen Frühstückskarte. Ich entscheide mich spontan und locker für „flei ägg“, also Fried Eggs, jaja, ich habe schon verstanden, „Koffie“ und „Orän Dschuu“. Steffi nimmt fatalistisch ergeben das gleiche plus Mineralwasser und Max nur Tooss und Marmelade.

„Mmh, kein Buffet, schade, kein Käse, keine Wurst und leider auch keine typischen thailändischen kleinen Schweinereien“, bemerke ich nur so nebenbei, und das ist auch wirklich schon alles.

Aber Steffi fühlt sich durch diese so dahingesagten, nichts Böses wollenden Worte dermaßen angegriffen, dass sie aufgebracht kontert: „Ach, und dafür willst du MICH jetzt wohl verantwortlich machen? Weil ICH den Prospekt nicht sorgfältig genug studiert habe, was DU natürlich gemacht hättest. Das willst du doch damit sagen, oder etwa nicht?“

„Aber Steffi, ich meine doch nur ‚schade‘. Mehr nicht. Ist doch egal. Das Beste ist doch: Wir haben uns und sind gesund.“

Das sagen wir immer, wenn was wirklich Schlimmes passiert ist und man froh sein darf, überhaupt noch am Leben zu sein.

Ist also eher falsch.

Steffi ist den Tränen nahe und schluckt schwer. Max holt seinen neuen Game Boy Advance SP heraus und vertieft sich in ein unglaubliches Hundespiel, bei dem man junge Hunde aufziehen, füttern und trainieren muss. Es ist so realistisch, dass sie sogar auf Teppiche pinkeln oder auf den Rasen kacken. Sagenhaft.

„Wir hätten alles ganz anders machen müssen, ich weiß“, schluchzt sie, „aber es musste ja alles so schnell gehen und da hab ich gedacht …“

„Ist doch alles gut, Steffi, ich find’s prima hier, wir haben doch alles, was wir brauchen, man gibt uns zu essen und ist freundlich zu uns und besonders teuer ist es auch nicht, obwohl wir uns etwas mehr schon hätten leisten können. Zum Beispiel ein tolles Frühstücksbuffet.“

Das war’s.

Sie bricht regelrecht zusammen, schluchzt laut los und ist nicht mehr aufzuhalten. Das Ehepaar Leichenhalle sieht interessiert zu uns herüber und steckt die Köpfe zusammen, und auch die anderen Gäste scheinen eine aufregende, abwechslungsreiche Szene zu erwarten. Ehestreit im Urlaub ist ein besonders beliebtes Betätigungsfeld für gerade angekommene Neu-Touris, und wird von allen immer wieder gern als willkommene Abwechslung im langweiligen Urlaubsalltag angenommen. Der Stress der Anreise steckt noch in allen Knochen und das unerwartete Freizeitloch, das sich plötzlich vor einem auftut, ist so groß und tief, dass es einem Angst macht, und da öffnen sich schon mal die Ventile.

Es ist augenblicklich still und sogar die Wiener Caféhausmusik, die die ganze Szenerie bisher geradezu gespenstisch untermalt hat, verstummt. Die folkloristischen Bedienungen halten erschrocken inne mit dem freundlichen Ausschank von Koffie oder Tii und dem Ausliefern der drei verschiedenen Zubereitungsarten von Ägg.

Steffi verschwindet in der Toilette, von daher ist unser Platz strategisch durchaus günstig gewählt, und ich lächle den Leuten freundlich zu und warte sehnsüchtig auf Steffis Rückkehr und meine Flei Ägg.

Eins ist jetzt schon klar: Wir sind in einer ganz üblen Absteige gelandet. Darüber kann auch die Freundlichkeit des bemühten Folklore-Personals nicht hinwegtäuschen. Das „Paradise Rock Resort“ liegt in den letzten Zügen und man nimmt noch mit, was so an bekloppten Touristen angespült wird.

Was soll’s, wir sind jetzt hier und machen Urlaub. Jetzt erst recht!

Das Frühstücksareal selbst ist eine gefährlich wippende, knarrende, nach drei Seiten offene Holzebene, die dem Deck eines abgewrackten Bananenfrachters gleicht. Es ist alles zerschunden und zerrieben von Millionen von Touristen, die hier schon seit Jahrhunderten durchgeschleust worden sind und sich auf diesen Brettern von Koffie, Flei Ägg und Orän Dschuu ernährt haben, beziehungsweise knapp dem Hungertod entgangen sind, denn wirklich genießen kann man weder den Koffie noch die Flei Ägg. Der Kaffee ist eine üble, braunschwarze Brühe, die dem Aussehen nach eher dem ähnelt, was aus unserem Wasserhahn kommt. Es gibt nur eine vage Erinnerung an das aromatische Heißgetränk aus Südamerika, wenn man vorsichtig daran riecht. Den Rest überdeckt, wenigstens auf unserem Platz, der Gestank aus der Toilette. Die Flei Ägg sind unten verbrannt und das Gelbe ist hart. Schlimmer kann man Spiegeleier nicht versauen. Und der Toast ist eben einfach Toast, nicht einmal langweilig genug, um verdient zu haben, hier überhaupt erwähnt zu werden. Marmelade gibt’s auch. Die Lasche der Verpackung bekommt man aber nur mit den Zähnen auf.

Das ist also Urlaub? Na gut. Man muss sich eben dran gewöhnen. Aber: Ich habe bis jetzt noch ein nicht einziges Mal an meine Zeitung im Sauerland gedacht. Ob’s die wohl noch gibt? Für mich jedenfalls die nächsten zwei Wochen nicht. Aber Ulli oder Don Camillo muss ich später trotzdem unbedingt anrufen. Vielleicht brauchen sie mich ja doch. Es könnte ja doch was passiert sein – endlich mal. Ach ja, das Handy ohne Ladegerät …