Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte

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1.2.2 Sprachlich-kulturelle Gruppierungen im Urchristentum

Die Botschaft des Auferstandenen fasst in beiden sprachlich-kulturellen Gruppen des Judentums Fuß. Sowohl traditionsbewusste Juden aramäischer Sprache, als auch hellenistisch geprägte Diaspora-Juden griechischer Sprache werden Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde. Die Apostelgeschichte nennt die beiden Gruppen Hebräer und Hellenisten (vgl. Apg 6,1) und legt die Vermutung nahe, dass die beiden christlichen Teilgemeinden wegen der Sprachbarriere im Gottesdienst getrennt, in der karitativen Arbeit aber gemeinsam gehandelt haben. In diesem Sinn berichtet Apg 6,1-6 von einem Streit, der zwischen beiden Gruppen wegen der mangelhaften Versorgung der hellenistischen Witwen ausgebrochen und durch die Bestellung von sieben Männern behoben worden war.9 Diese Sieben übernehmen fortan den „Dienst an den Tischen“, während die zwölf Apostel nunmehr ungehindert den „Dienst am Wort“ wahrnehmen. Freilich ist von Stephanus und Philippus, den beiden Spitzenvertretern des Sieben-Männer-Kollegiums, bekannt, dass sie nicht nur „Armenpfleger“ der Jerusalemer Gemeinde, sondern auch verkündigende „Diener des Wortes“ sind. So dürften die Sieben – zumal sie durchwegs griechische Namen tragen – wohl Leitungsfunktionen im hellenistischen Teil der Jerusalemer Gemeinde ausgeübt haben.

Folgenschwer ist der heftige Konflikt der christlichen Hellenisten mit der griechischsprachigen Synagoge Jerusalems. Ein Ausschnitt dieses Streits spiegelt sich in der Stephanusgeschichte wider (Apg 6,8-7,60). Demnach dürfte die deutlich offenere und traditionskritischere Sicht der christlichen Hellenisten den Streit ausgelöst haben. Offensichtlich betonen sie besonders jene tempel- und gesetzeskritische Linie der Predigt Jesu, mit der sich schon Er den Hass pharisäischer und sadduzäischer Kreise zugezogen hatte. Wird Stephanus doch von den Zeugen und der jüdischen Behörde der Lästerung Gottes, Moses, des Tempels und des Gesetzes beschuldigt, ja, sogar der Absicht, unter Berufung auf Jesus den Tempel und das Gesetz abschaffen zu wollen (Apg 6,11-14; 7,48.53). Mit dieser wohl auch von anderen Hellenisten gepredigten Relativierung des Tempels und des Gesetzes überschreitet Stephanus aber die Grenze des von der Synagogendisziplin Zugelassenen. Die Behörde greift ein, er wird gesteinigt und die hellenistischen Christen sind nach seinem Martyrium um 31/32 gezwungen, als jüdische Ketzer aus der Stadt zu fliehen.10 Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass die beiden sprachlich-kulturellen Gruppierungen der Jerusalemer Urgemeinde nun auch räumlich voneinander getrennt sind, da nur die Hebräer in der Stadt verbleiben können. Schon an ihrem unterschiedlichen Schicksal wird deutlich, wie stark sich die beiden Gruppen theologisch voneinander unterschieden haben. Denn die Hebräer bieten der jüdischen Behörde offensichtlich keinen Anlass zum Einschreiten. Sie verkündigen Jesus als einen Messias, der – wie z.B. Mt 5,17-19 bezeugt – das Gesetz bis ins Detail zu halten lehrt. Während sich die geflohenen Hellenisten aufgrund ihrer in der Diaspora geformten Biographie aber immer mehr von einem lokal gebundenen religiösen Brauchtum lösen, verbinden die Hebräer ihren Jesusglauben weiterhin mit jüdischer Observanz. Freilich bleiben auch ihnen – vor allem wegen der im Judentum seit der Mitte des 1. Jahrhunderts wachsenden religiös-politischen Aufstandsstimmung gegen die Römer – Spannungen mit ihrer jüdischen Umwelt nicht erspart. Denn ihre auf Jesus und sein messianisches Verständnis zurückgehende friedliche Haltung gegenüber der römischen Staatsmacht reißt – neben den religiösen Differenzen – zwischen den christlichen Hebräern und den Juden auch einen politischen Graben auf, sodass die Hebräer um 66/67 kurzfristig in das ostjordanische Pella ausweichen.11

Abb. 4 Stephanus auf einem Mosaik des sechsten Jahrhunderts in der Basilika S. Lorenzo fuori le mura zu Rom.

Die spätestens seit der Verfolgung der Hellenisten beobachtbare Zweiteilung der Jerusalemer Gemeinde bringt aber nicht nur räumliche Trennung, sondern auch innerkirchliche Differenzen mit sich. Denn die geflohenen Hellenisten betreiben schon sehr bald außerhalb Palästinas eine erfolgreiche Heidenmission und vertreten dabei eine christliche Lehre und Lebenspraxis ohne Beschneidung und mosaisches Gesetz. Darauf reagieren die weiterhin jüdisch orientierten Christen mit heftigem Protest, weil sie überzeugt sind, dass die Taufe auf den Namen Jesu Beschneidung und Gesetzesgehorsam voraussetze. Als Folge dieser Unstimmigkeiten lässt sich ein Klärungsprozess erschließen, der etwa um 48/49 auf dem so genannten „Apostelkonzil“ verdichtet in Erscheinung tritt (vgl. Apg 15; Gal 2).

Unter den dazu in Jerusalem versammelten Christen lassen sich an erster Stelle christliche Hebräer pharisäischer Prägung namhaft machen. Sie bestehen gegenüber den Heidenchristen strikt auf deren Beschneidung und auf der Einhaltung des mosaischen Gesetzes. Vor allem der Herrenbruder Jakobus, eine maßgebliche Autorität und später das Haupt der Jerusalemer Gemeinde, plädiert nachdrücklich und offensichtlich über das „Apostelkonzil“ hinaus für diese Position. Petrus spielt eine eher vermittelnde Rolle, wenn er auch später gewissen judenchristlichen Eiferern aus dem Kreis um Jakobus bisweilen nachgibt (vgl. Gal 2,11-14). Nur der jüngst bekehrte Paulus – als eifriger Heidenmissionar in die Auseinandersetzungen hineingezogen – vertritt mit Entschiedenheit die Sache der bekehrten Heiden und kann die ausschlaggebenden Autoritäten der Jerusalemer Gemeinde, die Apostel und Presbyter, von einem gesetzesfreien Heidenchristentum überzeugen. So einigt man sich darauf, dass das Christentum bei den Heiden ohne jüdische Auflagen verkündet werden dürfe, bei den Juden aber an die jüdische Gesetzespraxis gebunden bleibe. Die Einheit bleibt also gewahrt; der juden- und der heidenchristliche Weg der Christusnachfolge ist gleichermaßen anerkannt.

BAUS (wie S. 4) 76f. (religiöse Gruppierungen im Judentum).

BROX (wie S. 4) 12-17 (religiöse und sprachlich-kulturelle Gruppierungen im Judentum; Apostelkonzil).

CHADWICK, Henry, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 6 (religiöse Gruppierungen im Judentum).

1.3 Die Lösung der Kirche von der Synagoge

Rabbi Jochanan ben Zakkai († ca. 80 n. Chr.) gilt als der Begründer eines neuen geistigen und politischen Zentrums des Judentums in Jabne (Jamnia) bei Jaffa. Unter ihm und seinem Nachfolger Gamaliel II. († ca. 120 n. Chr.) ergreift man auf jüdischer Seite Maßnahmen, um ohne Tempel und Hohen Rat das Weiterbestehen des Volks zu sichern. So müssen sich von nun an alle nach der Überlieferung der Ältesten (Halacha) richten, nach einer bisweilen eng wirkenden Gesetzessammlung, gegen die schon Jesus polemisierte (vgl. Mk 7,8-13). Der Tempelgottesdienst wird durch das regelmäßige Beten des Schema Israel (Dtn 6,4-9;11,13-21; Num 15,37-41) und des Achtzehnbittengebets ersetzt, die Opfer durch Almosen, Beten und Leiden.

Während anfangs zwischen Pharisäern und Christen, sofern Letztere gesetzestreu lebten, Duldsamkeit und bisweilen sogar Sympathie herrscht (vgl. Apg 15,5), wird etwa zwischen 70 und 132 in Jabne die birkat ham-mînîm des Achtzehnbittengebets, eine Fluchformel gegen religiöse Abweichler, auf auffällige Weise umformuliert. In dem Wort minim, mit dem man bisher ohne negative Konnotation die Vertreter jüdischer Sonderrichtungen bezeichnete, schwingt nun die Bedeutung häretische Abspaltung mit. Falls sich diese Sonderrichtungen fortan nicht unterwerfen, werden sie aus der Synagoge ausgestoßen und ihr Schrifttum vernichtet. In diesem Sinne betet man mit besagter Fluchformel:


Ein Widerhall dieser Verschärfung findet sich möglicherweise in den Evangelien. Nach Mt 10,17 werden die Jünger zwar vor das Synagogengericht gebracht und durch Auspeitschung bestraft, sie verbleiben aber im Synagogenverband, freilich als Übeltäter. In Joh 12,42 heißt es dagegen, dass viele Juden an Jesus glaubten, ihren Glauben aber wegen der Pharisäer nicht offen bekannten, damit sie nicht aus der Synagoge ausgestoßen würden. Diese Nachricht passt genau zur Situation nach dem Jahr 80, weshalb Johannes hier also wohl seine Erfahrungen einfließen lässt.

Wenn auch der Nazoräer-Zusatz der obigen Fluchformel laut der neueren Forschung wohl etwas später eingefügt wurde, so bezeugt doch bereits Justin der Märtyrer († um 165) die Verfluchung von Christen in der Synagoge. Warum grenzen sich die Juden so entschieden von den Christen ab? Ohne Zweifel vollzieht sich zwischen 70 und 135 die grundlegende Wandlung des jüdischen Volks von einem in Israel ansässigen Gottesvolk zu einer heimatlosen, ihres Tempels beraubten Nation, die nur durch die stark spiritualisierte rabbinische Religion zusammengehalten wird. Um in dieser bedrängten Situation als Volk überleben zu können, muss die ursprüngliche religiöse Vielfalt nun zugunsten einer massiven Einheitlichkeit aufgegeben werden. Das hat zur Folge, dass fortan eine sehr verengte Gesetzesauslegung gilt, die andere Richtungen nicht dulden kann, schon gar nicht die Judenchristen.

 

Diese halten trotz ihrer Ausschließung aus der jüdischen Volksgemeinschaft an der Beschneidung fest und feiern weiterhin den Sabbat und die anderen jüdischen Feste, was freilich viele Heidenchristen verstimmt. So entwickeln sich die judenchristlichen Gemeinden allmählich zu einsamen, von der übrigen Christenheit isolierten Kreisen. Doch bestehen noch im 4. Jahrhundert und später kleine judenchristliche Gemeinden in Syrien. Der gelehrte, des Hebräischen kundige Kirchenvater Hieronymus († ca. 419/20) fertigte nach eigenen Angaben sogar eine lateinische Übersetzung ihres Hebräerevangeliums an, das gegenüber den kanonischen Evangelien leicht abweichende Traditionen enthält und die Stellung des Herrenbruders Jakobus besonders betont. Insgesamt geraten die Judenchristen aber immer mehr an den Rand. Die Juden können ihnen ihr Christsein nicht verzeihen und die heidenchristliche Mehrheit der Kirche akzeptiert nicht, dass sie weiterhin an den Bräuchen und Riten des Judentums festhalten. So verlieren sie immer mehr ihre zwischen Christen und Juden vermittelnde Relevanz und verschwinden allmählich aus der Geschichte.

Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist aber von Anfang an ambivalent. Einerseits verbindet sie der gleiche Ein-Gott-Glaube, dieselbe Heilige Schrift und viele gemeinsame gottesdienstliche Strukturen und Gebräuche, sodass noch das im ausgehenden 1. Jahrhundert entstandene Johannesevangelium Jesus zur Samariterin sagen lässt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Andererseits ist Jesus der Stein des Anstoßes, den die Juden verwerfen und – so lautet der Vorwurf – sogar töten. Angesichts der verheerenden Folgen dieser Anschuldigung ist es wichtig, dieses spannungsreiche Verhältnis genauer zu betrachten.

Paulus ist stolz auf seine jüdische Herkunft (2 Kor 11,22; Gal 2,15; Phil 3,5). Für ihn ist Israel das auserwählte Volk, das berufen ist, den Messias hervorzubringen (Röm 9,3-5). Trotzdem fällt es ihm in Röm 9-11 nicht leicht, die momentane Ablehnung Jesu durch die Juden theologisch zu erklären. In 1 Thess 2,15 stellt er schließlich fest, dass die Juden Jesus und die Propheten getötet und die Christen verfolgt haben, weshalb sie „Gott missfallen und allen Menschen feind sind“.

Doch ist diese Stelle

1. eine Ausnahme in den paulinischen Schriften und

2. wird ihre Schärfe verständlich, wenn man bedenkt, welche Anfeindungen der Jude Paulus von seinen jüdischen Landsleuten zu erleiden hatte.

Die synoptischen Evangelien spiegeln nicht so sehr die tatsächlichen Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern und der jüdischen Führung wider, sondern das Verhältnis zwischen Juden und Christen zur Zeit ihrer Abfassung. Hinsichtlich des Leidens und Sterbens Jesu betonen sie, dass nicht in erster Linie menschliche Bosheit, sondern der Wille Gottes hinter diesem Geheimnis der Erlösung steht: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“, heißt es beispielsweise bei Lk 24,26. Freilich findet sich bei Mt 27,28 der Ruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, eine Verwünschung, die später von christlicher Seite sehr viel Unheil über die Juden bringen wird. Matthäus charakterisiert damit aber lediglich die konkrete Situation der Herrenpassion und beabsichtigt nicht eine auf ewig fortdauernde heilsgeschichtliche Verdammung der Juden.

Ein gewisser Antijudaismus, der sich schon in den synoptischen Schilderungen der Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern bemerkbar macht, verstärkt sich in den späten johanneischen Schriften des ausgehenden 1. Jahrhunderts. Aufgrund der nach 80 einsetzenden Ausgrenzung der Judenchristen aus dem jüdischen Synagogenverband, des dadurch verlorenen Status einer staatlich erlaubten Religion (religio licita), schließlich aufgrund der bisweilen bei den römischen Behörden vorgebrachten jüdischen Denunziationen ist die Offenbarung des Johannes sehr schlecht auf die Juden zu sprechen. Sie erkennt den Juden gar ihr Judentum ab und bezeichnet sie als „Synagoge des Satans“ (Offb 2,3; 3,9). Ähnlich schroff äußert sich das Johannesevangelium, indem es nicht – wie die Synoptiker – differenziert gegen einzelne jüdische Gruppierungen oder Führer polemisiert, sondern scheinbar ganz pauschal gegen die Juden. So haben die Juden nach Joh 8,44 „den Teufel zum Vater“, werden also – wenn man diese Stelle aus ihrem Zusammenhang reißt – auf eine Weise charakterisiert, die sich künftig verheerend auswirken sollte. Johannes meint damit freilich jene Juden, die Christus ablehnen, verfolgen und zu töten trachten, nicht aber die friedlichen und frommen Söhne und Töchter Israels.

In den nachfolgenden Generationen verschlechtert sich das Klima zwischen Juden und Christen noch mehr. So reklamieren die Christen bereits im frühen 2. Jahrhundert die Septuaginta (LXX), das in vorchristlicher Zeit von alexandrinischen Juden ins Griechische übersetzte Alte Testament, für sich und behaupten im Barnabasbrief, die Juden würden die rein geistig gemeinten Gesetzesvorschriften des Alten Testaments fleischlich missverstehen. Aus der Synagoge ausgestoßen, setzt man sich außerdem vom religiösen Brauchtum des Judentums ab, indem zu Beginn des 2. Jahrhunderts die syrisch-palästinische Didache die Fasttage keinesfalls mit den jüdischen zusammenfallen lässt und das althergebrachte Achtzehnbittengebet durch das mit sieben Bitten ausgestattete Vater unser ersetzt. Überhaupt wird der gegeneinander polemisierende Ton zunehmend schärfer, indem man die Juden z.B. pauschal als Heuchler oder als Denunzianten abqualifiziert.

Freilich begegnet im 3. Jahrhundert in der syrischen Didaskalia die Aufforderung, besonders in den Tagen des Pascha, während der Gedenkfeiern des Todes und der Auferstehung des Herrn, für die Juden zu beten. Auf dieser Linie bezeichnet die erneuerte Karfreitagsliturgie die Juden als das Volk, zu dem „Gott […] zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluß sie führen will.“

CHADWICK (wie S. 9) 17f. (Judenchristen).

DASSMANN, Ernst, Kirchengeschichte, Bd. 1 (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 10) Stuttgart Berlin Köln 1991, 54-70 (Lösung der Kirche von der Synagoge).

1.4 Anlass und Anfänge der frühchristlichen Mission

Die neu gewonnene Überzeugung der ersten Christen, dass sich im Glauben an Jesus Christus für jeden Menschen das alleinige Heil eröffne, bildet die Basis und den Motor der ersten christlichen Missionswelle. Dabei steht die frühe Kirche aufgrund ihrer Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi unter dem Druck, dass ihr für die vollständige Verbreitung des Evangeliums die Zeit zu kurz werden könne (vgl. Mt 10,23), oder dass die Weltmission eben deshalb möglichst schnell abgeschlossen werden müsse, weil erst dann das Ende kommen könne (vgl. Mt 24,14). Von solchen und ähnlichen Naherwartungen her erklärt sich der enorme Ausbreitungsdrang der frühen Kirche. In diesem Licht wird aber auch ihr außerordentliches Sendungsbewusstsein und der erstaunliche Erfolg ihrer Mission verständlich. Denn es steht fest: Die frühchristlichen Schriften bezeugen nicht nur eine theoretisch angezielte weltweite Ausbreitung des Christentums (vgl. z.B. Röm 10,18; Mt 28,19; Offb 7,9); vielmehr verwirklichen die frühchristlichen Missionare diese Zielsetzung in einem religionsgeschichtlich einmaligen Ausmaß. Die Anfänge dieser Ausbreitung lassen sich historisch am stetigen Wachstum der palästinischen Gemeinden festmachen. Freilich sollte man die dazu gemachten hohen Zahlenangaben der Apostelgeschichte (vgl. z.B. Apg 2,41; 4,4) nicht zu wörtlich nehmen, sondern als symbolische Aussagen angemessen interpretieren.

Förderlich für die Verbreitung der christlichen Lehre wirkt sich auch die im Stephanus-Martyrium greifbare Vertreibung der christlichen Hellenisten aus Jerusalem aus.12 Träger dieser die Grenzen Palästinas überschreitenden Mission der ersten Christengeneration sind Persönlichkeiten wie Philippus, Barnabas und Paulus. Doch ist mit vielen weiteren Missionaren der ersten Stunde zu rechnen, deren Namen nicht überliefert sind.

Die schnelle Ausbreitung der Kirche dokumentieren jene Orte, in denen sich erste christliche Gemeinden bilden. Tatsächlich existieren bereits Ende des 1. Jahrhunderts an die sechzig entsprechende Städte oder Landschaften. So bezeugen die neutestamentlichen Schriften christliche Gemeinden in Palästina, Syrien, Zypern, Kleinasien, Mazedonien und Kreta. In Italien kommen Puteoli (Apg 28,13f.) und Rom hinzu. Markus erwähnt Cyrene in der Pentapolis (Mk 15,21) und Paulus plant schließlich eine Spanien-Mission (Röm 15,24.28). Im 2. Jahrhundert gibt es Nachrichten über weitere Gemeinden in Griechenland, Kleinasien, Syrien und weiter östlich in Edessa und Mesopotamien, im Westen ergänzt durch Überlieferungen über Gemeinden in Dalmatien, Illyrien, Süditalien, Germanien, Gallien und Spanien. Schließlich fügen sich in dieser Ära im Süden noch Gemeinden im westlichen Nordafrika und in Ägypten zum Orbis Christianus (vgl. Abb. 5).

Da diese Gemeinden in den meisten Orten allerdings sehr klein gewesen sein dürften, sollte man die damalige Zahl der Christen nicht überschätzen. Sie bleiben bis zum 4. Jahrhundert eine zum Teil verschwindende Minderheit. Tertullian († nach 220) spricht allerdings von vielen Tausenden von christlichen Frauen und Männern, die sich vor dem Tribunal eines heidnischen Prokonsuls hätten versammeln können, und er behauptet gar:


Doch dürfte es sich bei dieser Behauptung um eine rhetorische Übertreibung handeln, die lediglich mit Nachdruck klarstellen will, dass inzwischen in allen Städten und an allen Orten Christen anzutreffen sind. Origenes († um 253) gibt sich wenige Jahrzehnte später in seinen diesbezüglichen Äußerungen wesentlich bescheidener. Ein für unsere Fragestellung repräsentatives Beispiel liegt aber vielleicht in der pontischen Provinzhauptstadt Neocäsarea vor. Als Gregor der Wundertäter dort um 240 sein Bischofsamt antrat, sollen in der Stadt und ihrer Umgebung nur siebzehn Christen gelebt haben; nach seinem Tod konnten alle Bewohner dieser Gegend als Christen bezeichnet werden. Natürlich sollte man diese Angaben nicht zu wörtlich nehmen. Aber wahrscheinlich spiegeln sie doch zweierlei überlokale Gegebenheiten wieder: einerseits die Mitte des 3. Jahrhunderts noch recht geringe Zahl der Christen und andererseits ihr Anwachsen im ausgehenden 3. Jahrhundert. Dassmann bleibt freilich vorsichtig. „Statistische Angaben über die Zahl der Christen [… in altkirchlicher Zeit] machen zu wollen, ist nicht nur schwierig, sondern schier

Abb. 5 Die christlichen Gemeinden im zweiten Jahrhundert.

unmöglich. [… Selbst] relative Zahlen lassen sich auf das ganze Imperium bezogen nur schwer angeben und schwanken entsprechend für die diokletianische Zeit [, also für das ausgehende 3. Jahrhundert,] zwischen fünf und zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung.“13 Die entscheidende Expansion des Christentums dürfte daher erst nach Kaiser Konstantin (306-337) erfolgt sein. Bis dahin bilden die Christen eine Minderheit, wenn ihr Einfluss in der römischen Gesellschaft auch wesentlich größer ist, als ihre Zahl. Denn ansonsten könnte man sich die feindlichen Maßnahmen des Staats und die im ausgehenden 2. Jahrhundert einsetzende Kritik der heidnischen Philosophen nicht erklären. Nicht nur die Christen, sondern auch ihre Gegner betrachten die Kirche offensichtlich als eine aufstrebende und dynamisch wachsende religiöse Gemeinschaft.

HOFMANN, Johannes, Antike und Christentum – eine fruchtbare Begegnung an der Wiege Europas, in: KRIMM, Stefan / SACHSE, Martin (Hg.), Wenn Kulturen aufeinandertreffen – europäische Begegnungen in Vergangenheit und Gegenwart (= Acta Hohenschwangau 2007) München 2008, 74-95; hier 74-77 (mit Quellen und Literatur).