Wörterbuch des besorgten Bürgers

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Cui bono?

»Wem zum Vorteil?«: Angesichts von Verbrechen, historischen oder aktuellen politischen Geschehnissen ist die Frage, wer davon profitiert, folgerichtig, um auf eine erste Spur der Verantwortlichkeit zu kommen. Nur kann beim Suchen nach dem möglichen Motiv nicht stehen bleiben, wer wirklich aufklären will. »Wem das Verbrechen nützt, der hat es begangen«, wie Seneca in seiner Tragödie Medea schreibt, ist eben nicht die ganze Antwort. So verführt die eilig beantwortete Frage zum Fehlschluss.

In der Verschwörungstheorieecke blüht »Cui bono?« seit Langem als Pauschalerklärung für dies und das. Weil die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Krieg zogen, müssten sie hinter den Ereignissen stecken. Die Pharmaindustrie habe HIV auf die Menschheit losgelassen, um sich dadurch auf Jahrzehnte einen Absatzmarkt zu sichern. Dass jemand Nutznießer eines Umstands sein kann, ohne diesen verursacht zu haben, kommt den »Cui bono?«-Rhetorikern nicht in den Sinn. Komplexes lässt sich derart einfach zu hübsch auf simple Antworten reduzieren. Ein Beispiel: Die islamistischen Anschläge von Paris? Um Pegida-Demos zu verbieten! USA und Zionisten schüren damit antimuslimischen Hass! Wohnungen für Flüchtlinge werden dadurch freigemacht!

Lustigerweise geriet Pegida selbst unter »Cui bono?«-Beschuss. Ken Jebsen, Galionsfigur der Querfront-Friedensmahnwachen, mutmaßte, Pegida wurde von oben installiert. Damit werde gerechter Volkszorn kanalisiert, statt das System revolutionär zu erschüttern. [tp]

D-Mark

Der Geldfetisch ist in kapitalistischen Verhältnissen keine abnorme Vorliebe, sondern deren Grundlage. Er ist Ausdrucksmittel des Tauschwerts. Einen besonderen Fetisch beten die Besorgten wie viele andere Deutsche in der D-Mark an. Wenige Währungen sind symbolisch derart aufgeladen. Im Westen gilt die Deutsche Mark, ab 1948 Zahlungsmittel, als Zeichen von Wirtschaftswunder und nationaler Stärke. Die Rede von der harten Westmark bestimmte bald die Ereignisse von 89: »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!« führten Demonstranten auf Transparenten mit. So wurde sie auch zum Symbol für die Wiedervereinigung. Den späteren Bezahlvorgang mit dem Euro empfanden hingegen viele als Schmach.

Bis heute wird der 1999 eingeführte Euro − die D-Mark war bis Dezember 2001 als Bargeld im Umlauf − als »Teuro« wahrgenommen. Tatsächlich führte die Währungsreform zunächst zur Verteuerung, auch weil Unternehmen die Umrechnung mit großzügigem Aufrunden zur Preissteigerung nutzten. Auf lange Sicht gebe es aber nur eine gefühlte Inflation, versicherte die Mehrheit der Ökonomen. Geholfen hat das nichts. Laut einer Umfrage der GfK-Marktforscher anno 2016 sollen noch 45 Prozent aller Deutschen bei Kaufentscheidungen in D-Mark umrechnen.

Nostalgie und Nationalismus: Euro und D-Mark sind auf Besorgtendemos gern gezeigte Insignien mit gegensätzlicher Symbolkraft. Der eine steht nicht nur für eine vermeintlich schwache Währung, sondern für den gesamten politischen Apparat der Europäischen Union. Die Mark erinnert an imaginierte bessere Zeiten und strahlt zugleich die Hoffnung aus, mit der D-Mark-Rückkehr würden solche wieder anbrechen. [tp]

Danke, Merkel!

Besorgt ist oft gleichzusetzen mit pauschal, wie sich an der zynischen Formulierung »Danke, Merkel!« zeigt. Mit der schließen Besorgte gern, nachdem sie auf Missstände hingewiesen haben. »Wir werden von muslimischen Asylanten überrannt!«, »Bald werden wir kein Weihnachten mehr feiern dürfen!«, »Alles geht den Bach runter, und zwar wegen der Flüchtlingspolitik in diesem Land!« − »Danke, Merkel!« Die Bundeskanzlerin fungiert dabei als so etwas wie eine Führerin mit negativem Vorzeichen: Eine Person, die alles (hin-)richtet.

Im September 2016 plante die AfD, Plakate mit dieser Phrase zu drucken, die direkt nach möglichen Terroranschlägen in Deutschland verbreitet werden sollten. Als Pauschalvorwurf an die Bundeskanzlerin und Verhöhnung der Opfer. Eine Facebook-Seite mit eben diesem Namen ironisiert den Beleidigte-Leberwurst-Ausdruck mittlerweile. Ob kaputte Bierflaschen, leere Klopapierrollen oder selbstverschuldete Fahrradunfälle − immer gilt: »Danke, Merkel!« [ng]

Demokratie

Sie wird umstandslos geliebt und ist Fixstern aller Debatten, ob besorgt-bürgerlich, staatstragend oder progressiv. »Pegida bekennt sich voll und ganz zum Grundgesetz, zur Demokratie und zum Rechtsstaat«, hieß es auf der Dresdner Bühne. Dieses Bekenntnis ist entweder Folge einiger Stangen Kreide, die Festerling für mediale Zwecke gefressen hat. Oder, das macht die Angelegenheit deutlich komplizierter, hier wird unter Demokratie etwas ziemlich Unübliches verstanden.

Im besorgten Oberstübchen ist alles recht einfach: Weil Demokratie Volkssouveränität heißt und sie und niemand anderes das Volk sind, müssten eigentlich die besorgten Bürger das Zepter schwingen. Wenn da nicht die linksversiffte diktatorische Elite wäre. Politiker seien eigentlich Angestellte des Souveräns, die nur leider ihren Dienst nicht tun, wie vom Volk geheißen. Diese gesinnungslosen und korrumpierten Angestellten drücken stattdessen ihren Minderheitenterror gegen das Volk durch. Angetrieben wird diese Argumentation vom Phantasma, tatsächlich und ohne Zweifel die Mehrheit zu repräsentieren.

Das besorgte Demokratieverständnis leidet allerdings unter einigen Aporien. Oder − anders formuliert − der Sinn des Begriffs wird soweit verwässert, dass sich seine moralische und sachliche Aussagekraft bedenklich einer Nulllinie nähert. Los geht es beim robust vorgetragenen Anspruch, auf vergleichsweise kleinen Kundgebungen für die Gesamtheit der Bevölkerung zu sprechen. Diese Haltung untergräbt ein wesentliches demokratisches Moment: die Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven. Weil das wahre Volk, biologisch verknotet, patriotisch bis in die Haarspitzen ist und sich für Spaziergänge begeistert, sind alle abweichenden Meinungen undemokratisch. Von diesem Moment an müssen Besorgte nicht länger in umständliche Debatten über Repräsentation eintauchen oder verschiedene Varianten von Aushandlungsprozessen diskutieren. Noch weniger bedarf es einer Klärung der Frage, wer eigentlich in welcher Form mitbestimmen darf. Die Logik des »Wir für alle« zwingt dazu, Elemente direkter Demokratie für das Phänomen selbst zu halten und folglich Volksentscheide als einzige Lösung demokratischer Defizite zu beschwören. Die vermeintlich demokratische Funktion der souveränen Menge besteht dann darin, die apodiktischen Forderungen, die von den Bühnen schallen, mit brüllender Zustimmung zu untermauern. Das Volk sekundiert den Führern und drückt seine Souveränität aus − wer dagegen ist, kann nicht zum Volk gehören. Wann immer politische Gegner Thema sind, ruft es umgehend »Volksverräter«.

Nun ist die Geschichte der Demokratie lang und kompliziert. An ihrer griechischen Wiege war sie jener mächtige Impuls der Anteillosen, die mittun wollten. Sie war der Name für die Einsicht, dass es keinen natürlichen Grund für irgendeine Ordnung gibt, dass nichts aus sich heraus Macht und Herrschaft begründet. Der Ort der Macht müsse leer bleiben, brachte der Philosoph Claude Lefort diese wichtige Kontur »eigentlicher« Demokratie auf den Begriff. Die gegenwärtigen Staatsformen, die diesen Namen tragen, lassen einen solchen Impuls kaum erkennen, was seit längerer Zeit heftige Kritik auf den Plan ruft. Die Defizite deutscher und europäischer Institutionen, deren demokratische Kontur bestenfalls blass erkennbar ist, wird vom besorgten Denken in eine andere Richtung aufgelöst: Man muss nur das Diktat der völkischen Beobachter, um ihren Vorteil bemüht und jede Form von Pluralität für widernatürlich haltend, als eigentliche Demokratie definieren. [rf]

deutsche Frau

Ein Blick auf die klassische Verteilung der Geschlechterrollen, die nicht nur im AfD-Programm beschworen werden, zeigt: Die deutsche Frau soll nicht modern sein. Die Erziehung der drei Kinder findet in den ersten Jahren daheim statt, die Frau besinnt sich auf familiäre, nicht berufliche Verpflichtungen ( Familie). Sie ist weich, kümmert sich, erträgt. Sie schenkt der Volksgemeinschaft Nachwuchs und erzieht ihn zu deren wertvollen Mitgliedern. Sie zeigt, dass sie Angst hat vorm »Schwarzen Mann«, der auf ihrer weißen Haut Abdrücke hinterlässt; ist ein Opfer, das sich von deutscher Männlichkeit beschützen und rächen lässt.

 

Die Diskussionen um die Ereignisse der Silvesternacht 2015 in Köln zeigten, wie scheinheilig dieser Beschützerinstinkt ist. Noch 1997 stimmten 138 Bundestagsabgeordnete dagegen, auch Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen, darunter Horst Seehofer (CSU) und − nicht ganz so männlich, aber ähnlich reaktionär − Erika Steinbach (damals noch CDU). Bis Köln wurde die »Nein-heißt-Nein«-Debatte abgetan als hysterisches Gekeife einiger Nachfolgerinnen der damals schon nervigen 68er-Feministinnen. Seitdem wollen vorrangig besorgte Männer entscheiden, wann ein Pograpscher im Büro rein freundschaftlich ist und der anzügliche Blick eines Nichtdeutschen einer Vergewaltigung gleichkommt.

Im Kern ist die Debatte vor allem sexuell aufgeladen: Besorgte Männer wie Frauen, die zuvor das Einfordern von Frauenrechten als zickiges Abwerten von Männern im Allgemeinen verstanden und nicht als Konzept von Gleichberechtigung, konnten es plötzlich nicht lassen, sich einzumischen − gepaart mit von eigenen sexuellen Fantasien angetriebener Geilheit.

Die Feindbilder des männlichen Besorgten sind Frauen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen und auf sich selbst achten. Für diese Männer bedeutet das: Sie werden nicht mehr gebraucht − weder als Ernährer, Unterstützer, Chef, noch als Sexualpartner. Plötzlich haben sie neben der Kastrationsangst ( Gummimuschi) noch den Verlust des Heldenstatus zu erdulden. Wer beschützt ihre blonden Frauen und Mädchen vor den Männerhorden, vor den Schwarzen mit den langen Schwänzen und den frauenverachtenden Muslimen? Wer erklärt ihnen, den unschuldigen Naivchen, wie gefährlich diese Welt für Frauen ist? [ng]

deutsche Sprache

Sie nennen sich Patrioten und wollen die deutsche Sprache retten. Sie tauschen Handynummern, packen Babys in Plüsch, wenn sie zur Grillparty gehen, sie mögen Auto und Vorgarten, kuscheln bei Kaffee mit dem Onkel und rauchen Zigaretten, bis ihnen blümerant um die Rosette wird. Sie haben Respekt vor Chef und Sporttrainer, lieben Wein, aber verachten andere Drogen, leben vielleicht ihre Emotionen auf der Toilette aus und machen eine Szene, wenn das Militär schlecht wegkommt. Von kriminellen Handlungen distanzieren sie sich prinzipiell, denn sie sind moralisch integer. Alle kursivierten Begriffe haben einen anderen Ursprung als Germanisch.

Besorgte wie Peter Hauk (CDU) fordern eine Deutschpflicht im Internet, die CSU will sie auch in Moscheen. Schließlich reden die alle so komisch, da weiß man nie, was die wieder planen! (Dass zur freien Religionsausübung auch die Sprache gehören muss, kann man getrost ignorieren, denn in katholischen Kirchen wird ausnahmslos auf Deutsch gebetet. Wobei, Halleluja ist hebräisch.) Mit diesen zum Scheitern verurteilten Attacken versuchen Besorgte nicht nur, arabisch- oder türkischsprachige Gruppen zu germanisieren, sondern auch, Einfluss auf einen Bereich zu nehmen, der lebendig, dynamisch und zwangsläufig nie abgeschlossen ist. Sprachkontrolle funktioniert selbst in Ländern mit strikteren Vorgaben (Frankreich oder Island) kaum, weil sich Sprache im Ganzen nicht steuern lässt. Man mag einzelne Begriffe kritisieren, aber pauschale Sprachpflichten untergraben Vielheit, die einigen gefährlich, weil fremd vorkommt. Ein solcher Versuch kann nur danebengehen.

Die wenigsten besorgten Urlauber oder gar Auswanderer werden sich daran halten, ausschließlich die Sprache des Gastlandes zu sprechen; etwa Holger Apfel, vormals NPD und mittlerweile Kneipier auf Mallorca, oder Lutz Bachmann, der in Südafrika vermutlich wenig Afrikaans oder eine der vielen anderen Amtssprachen des Landes gelernt hat − und für seinen neuen Arbeitsmittelpunkt Teneriffa auch kein Spanisch-Diplom mitbringt. Die Besorgten fordern, die »Neuen« sollten »genau wie wir damals« diese komplizierten Grammatik- und Rechtschreibregeln lernen. Gut gebrüllt, Löwe. Wir haben aufgehört, die Fehler in besorgten Statements zu zählen.

Die Idee einer homogenen Sprache, die sich nicht verändert und nur aus sich selbst heraus Wortschatz generiert, ist so alt wie absurd. Schade nur, dass es im besorgten Umkreis noch keine Lexikvorschläge à la Dörrleiche für Mumie oder Jungfrauenzwinger für Kloster gibt. Zu Hochzeiten des deutschen Sprachpurismus im 17. und 18. Jahrhundert war Latein des Bösen Wurzel; heute ist es Englisch. Aber sogar Michael Klonovsky, früher beim Focus, später publizistischer Berater von Frauke Petry, nannte sich selbst Spindoctor. »Propagandabeauftragter« ist sprachhistorisch vermutlich nicht Deutsch genug. [ng]

Deutschland GmbH

Die Kurzform für die Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH fasst alles zusammen: Die BRD oder Deutschland ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Wer diesen Gedanken noch absurd findet, dem werden zahlreiche Fakten offeriert. Gelernte Ostdeutsche finden hier erstaunliche Ähnlichkeiten zur DDR: Diese stand unter der Knute der Sowjetunion, während Deutschland eigentlich von den USA beherrscht wird, die nach wie vor die Besatzungsmacht bilden. Ein Redner mit dem Pseudonym Friedrich Fröbel behauptete bei Legida, dass Angela Merkel von »amerikanischen V-Frau-Führern« gelenkt werde, man »von Herr zu Vasall« miteinander spreche. Horst Seehofer komme in der »amerikanischen Tyrannis« die Rolle des »Egon Krenz der BRD« zu, für den Fall, dass Merkel irgendwann abtreten sollte.

Klingt unglaubwürdig? Man nehme seinen Ausweis. Als Staatsangehörigkeit wird »deutsch« angegeben, ohne Staatsnennung. Fast ganz oben steht Personalausweis. Genau, Personal. Der Inhaber des Dokuments gehört also zum Personal der BRD GmbH. Und wie ist der Name des Personals geschrieben? In Großbuchstaben. In Großbuchstaben mussten angeblich auch die des Schreibens mächtigen Sklaven im Alten Rom ihre Unfreiheit bestätigen. Ergo: Das Personal der GmbH ist auch deren Sklave. (Das alte Latein kannte übrigens nur Großbuchstaben.) Man kann sich erstaunlich lange damit aufhalten, den Ausweis anzuschauen und da Dinge zu lesen − von den Illuminaten bis zu Satan ist für jede Verschwörungsnische etwas dabei.

Bleiben wir bei der BRD. Die ist kein souveräner Staat, was man daran merkt, dass sie keine Verfassung hat. Das Grundgesetz gilt nicht, auch wenn es sich »das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt« selbst geschenkt hat, wie es in der Präambel heißt ( Verfassung). Außerdem hat der Bundestag eine Steuernummer. Man möchte meinen, dass das auch besser so ist, denn der Bundestag hat Betriebe und muss Umsatzsteuer abführen. Tatsächlich beweist die Steuernummer aber, dass das Land nicht souverän ist.

Die Reichsbürger sind besonders aufgeweckte Kerlchen, denn sie wissen sogar, dass das Deutsche Reich nie aufgehört hat zu existieren. Sie haben dafür Belege, außerdem ihre eigenen Ausweispapiere und lehnen es ab, Steuern zu zahlen oder sich an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Natürlich fahren sie gerne über die Straßen des Vasallenstaats oder nutzen dessen Gesundheitssystem, wenn sie krank sind. Aber wer an den Vasallenstaat Steuern zahlt, hat sich bereits versklaven lassen. Und wer will schon Sklave sein? [fr]

Diktatur

Besorgte Bürger sehen sich diktatorischen Verhältnissen ausgesetzt. Merkel- oder Meinungsdiktatur ist beständig zu hören, und hinter allem regieren böse US-Mächte. Alles sei wie vor 89 und erzwinge einen Aufstand. Gesellschaftskritik ist das eine. Die Selbststilisierung zum Opfer einer Diktatur ist etwas anderes. Im Sinne einer Minimaldefinition von nichtdiktatorischen Welten muss es möglich sein, einen Herrscher oder eine -clique unblutig abzusetzen. Nun sind die Strukturen von Macht und Herrschaft komplex. Man weiß nicht so genau, wer wen in welcher Form regiert. Unbeschränkt und diktatorisch sind die hiesigen Zustände schon deshalb nicht, weil die Besorgten unbehelligt und öffentlich ihre Lageeinschätzung zum Besten geben können ( Meinungsfreiheit).

Eine Diktatur ohne benennbaren und sichtbaren Diktator (oder Gruppe, etwa das Militär oder eine Einheitspartei) ist zudem ein Selbstwiderspruch. Wenn niemand den Schülern die Wörter ansagt, die sie schreiben sollen, wird es kein Diktat geben. Wie schließlich die vermeintlich freie und demokratische Welt aussehen soll, wissen die Besorgten offenbar auch nicht so genau ( Demokratie, Freiheit). [rf]

direkte Demokratie

Die Sache mit der Demokratie ist an sich schon schwierig. Was heißt »Herrschaft des Demos«? Wer ist das? Funktioniert die Idee der Repräsentation, also die Vorstellung, dass einzelne für viele entscheiden? Das sind Fragen, die dieser Tage hochkochen − in Zeiten, in denen immer häufiger von Postdemokratie oder Oligarchie (der Herrschaft des Reichtums) gesprochen wird.

Es gibt verschiedene Formen von Demokratie als Herrschaftsform. Die Schweiz steht dabei ständig Modell, wenn eine Variante ins Spiel kommt, die mehr Gewicht auf Volksentscheide und weniger auf das Element der Repräsentation legt. Das hat Vor- und Nachteile, die kritisch beschaut und gewichtet werden müssen. Auf der Habenseite steht mehr Einfluss der »einfachen« Leute ( kleiner Mann) und damit mehr Identifikation mit Entscheidungen. Dagegen spricht der Umstand, komplexe Themen auf markige Parolen für einfache Ja-Nein-Abstimmungen eindampfen zu müssen.

 

Die Besorgten schließlich haben die direkte Demokratie für sich entdeckt. Getragen von der Illusion, als Volk die Mehrheit zu sein und dementsprechend das Abstimmungsergebnis schon zu kennen, fordern sie mit Penetranz entsprechende Entscheide auf Bundesebene − die haltlose Reduktion der Sachverhalte inklusive: für oder gegen Merkel, für oder gegen Mauern, Minarette, GEZ, Koalition mit Putin usw. Im Prinzip steckt dahinter eine Vorstellung von Demokratie im Stile der Sportpalastrede: »Wollt ihr Asylsuchende?« »Nein!« Dass die Besorgten noch ihrem bittersten Hass das Mäntelchen namens direkte Demokratie umhängen, zeigt ein Interview aus dem sächsischen Bautzen. Ein leerstehendes Hotel, das als Unterkunft für Geflüchtete vorgesehen war, wurde im Februar 2016 angezündet und brannte teilweise aus. Kurz darauf wetterte ein junger Mann in eine TV-Kamera: »Es wurden tausend Häuser angezündet, null Verletzte, also geht es eindeutig nur gegen Frau Merkel. Wären das richtige Nazis gewesen, dann wären dort Menschen drin gewesen. (…) Das zeigt, dass es eindeutig direkte Demokratie ist, die hier abläuft.« Ein richtiger Nazi ist also nur, wer tatsächlich Menschen tötet. An diesem Punkt ist es völlig egal, welche Spielart oder Tradition von Demokratie zu bevorzugen wäre. Wenn selbst brennende Häuser als irgendwie demokratisch durchgehen, ist Hopfen und Malz verloren. [jf]

Ehre

Eine Frage der Ehre? Selbst die Bundesregierung hat keine Lust mehr auf die Ehren-Floskel. Daher spricht sie statt vom Ehrenamt lieber von Freiwilligendienst und zivilem Engagement − was sich auch besser ins neoliberale Konzept der Abtretung sozialstaatlicher Pflichten an die Gesellschaft fügt.

Ehre fungierte bis lange in die Neuzeit als zentrale Kategorie des sozialen Miteinanders und bedeutete nicht weniger als Geschäftsfähigkeit. Sozialethische Normen wie Treue, Aufrichtigkeit, Freundschaft fügten sich zum komplexen Wertesystem, mit dem das Verlangen nach Anerkennung verbunden war. Ehre verbürgte die soziale und ökonomische Kreditwürdigkeit. Daran knüpft zum Beispiel auch das im 19. Jahrhundert entstandene Ehrenamt als (Selbst-)Verpflichtung des Bürgers an, sich gesellschaftlich zu betätigen. Ehre ist demnach ein verinnerlichter äußerer Zwang, dem man nach allen Mitteln gerecht werden muss, um Gesellschaftsfähigkeit auszudrücken. Und sei es im letzten Gefecht des Duells, mit dem man seine Ehre wiederherstellen konnte. Im Nationalsozialismus kam der Ehre eine besondere Überhöhung zu. Um nur zwei Beispiele zu nennen: »Meine Ehre heißt Treue« (SS-Leitspruch) und das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«.

In der Demokratie bedarf es dieses Prinzips nicht, weil Anerkennung und Gleichwertigkeit prinzipiell allen Passinhabern zukommen und sie − zumindest der Idee nach − am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Stichwort: die grundgesetzlich gewährte Würde. Ehre als Identität stiftendes Merkmal ist daher aus der Selbstwahrnehmung vieler Individuen verschwunden, was nicht heißt, dass diese Menschen nicht einem eigenen ethischen Kompass folgen würden. Nur ist dessen Kollektivierung, und das ist der Kern des Ehrprinzips, perdu.

Es wundert nicht, dass Ehre besonders mit Blick auf den soldatischen Charakter angesprochen wird und gerade konservative bis völkisch-nationalistische Kreise auf sie pochen. Dem Motto der Jenaer Urburschenschaft von 1815, »Ehre, Freiheit, Vaterland«, folgen nicht nur Burschenschaften als Dreisatz ihrer Leitkultur. Aussagen, die »Volk« und »Ehre« im Zusammenhang führen, sind in nazistischen Kreisen Legion. Durch die Besorgtenerweckung fand ein älterer Liedermacher-Song − Im Sommer des Jahres 1996 hatte mein Freund Lüne beim Pilzesuchen plötzlich eine Melodie im Kopf. Auf dem Heimweg erhielt er als »Zugabe« aus der geistigen Welt den Text dazu übermittelt − endlich den ersehnten großen Umlauf. Im Lied heißt es: »Wo ist das Erbe uns’rer Ahnen, was wissen wir vom alten Brauch. / Geschichte hat man uns genommen, Ehre und Achtung, Seele auch.« [tp]

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