Wörterbuch des besorgten Bürgers

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Antifa

Die Antifaschistische Aktion umfasst Gruppen und Organisationen im radikalen und autonomen Spektrum der Linken in Deutschland, einschließlich einiger Knalltüten. Gegenstand ihrer Kritik und Aktionen sind ( völkischer) Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus. Sie richtet sich gegen Neonazis, Neue Rechte und chauvinistische oder rassistische Tendenzen in Politik und Staat.

Das Verhältnis zwischen Antifa und Staat ist insofern − sagen wir − angespannt. Zwar macht spätestens seit Deutschland als Land der Vielfalt vermarktet wird und Gerhard Schröder im Jahr 2000 zum »Aufstand der Anständigen« gerufen hat das Wort Staats-Antifa die Runde. Der gewachsene Standortnationalismus verzichtete zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit in den globalen (Arbeits-)Märkten zumindest auf die offensichtlichen Teile des traditionellen deutschen Rassismus. Auch fließen mittlerweile ein paar Mittel für die Förderung von Demokratie und Antidiskriminierung. Aber die Reaktionen aus der Antifa-Szene auf diese Entwicklungen waren skeptisch. Es gibt weiterhin direkte Aktionen, immer dort, wo Nazis gefährlich werden, und gegen den Staat, wo er Nationalisten schützt; kombiniert mit gelegentlichem »Ausschlafen gegen Rechts« (und für ganz andere Verhältnisse). Von staatlicher Seite ist die Feindbestimmung immer noch recht klar: Dank der Extremismusdoktrin gehört die Antifa-Szene weiterhin zum liebsten Feindbild der Verfassungsschutzbehörden und anderer Teile des Sicherheitsapparats ( Extremismus).

Aus besorgter Perspektive handelt es sich bei der Antifa um eins der am besten getarnten taktischen Instrumente des Systems, das besonders seit der »Machtübernahme« durch Angela Merkel an Bedeutung gewann. Seine Hauptfunktion besteht darin, die Verbreitung der Wahrheit bei Demonstrationen, an Informationsständen oder auf Veranstaltungen zu stören. Schon vor der jüngsten Besorgniswelle war der Begriff Staats-Antifa in rechten Kreisen falsch verstanden und zum Kampfbegriff gegen einen vermeintlichen Konsens des Systems zwischen Altparteien und Linken ( links) umgedeutet worden. Fortan galt jede Form der Störung als Ausdruck der staats-antifaschistischen Zersetzung des deutschen Volkswiderstands − vom (gegen Rechts selten eingesetzten, aber aus der Opferperspektive gern kolportierten) Polizeiknüppel bis hin zu allen möglichen Formen zivilgesellschaftlicher Proteste.

Natürlich wurden auch bei dieser Geschichte die Sorgen endlos potenziert. So zieht seit Februar 2015 ein unglaublich echtes internes Rundschreiben eines Antifa e. V. seine Kreise in den Besorgten-Netzwerken, mit dem endlich Klarheit geschaffen wurde: staatliches Demogeld (»25 Euros! das sind 50Mark!! pro stunden!!!1«, !!1!1!!), organisierte Anfahrt, gestellte Arbeitskleidung. Seither hat sich die Meldung verselbstständigt, etwa als die taz sie wiederholte. Erika Steinbach (damals CDU) vertwitterte die offensichtliche Satire als authentisch, die AfD formulierte dazu Landtagsanfragen. Die Jusos forderten auf ihrem Bundesparteitag eine Erhöhung des Demogeldes auf 45 Euro (»jez reicht es entgültig!1!!«). Entstanden ist ein soziales Experiment, das die verschwörungstheoretische Elastik laufend weiter testet. Vom Antifa e. V. und der bald aufgrund der enormen zu verwaltenden Summen gegründeten Antifa GmbH sowie der zugehörigen Antifa-Gewerkschaft werden seitdem täglich neue staatlich finanzierte Schmankerl für die Mitglieder angeboten − und noch jedes davon hat es in den besorgten digitalen Äther geschafft. [mr]

Antifa e. V.

Antifa

Araber

Von manchen Dingen hat man klare Vorstellungen. Je genauer man jedoch hinschaut, desto mehr verschwimmen sie. Ist vom Araber die Rede, weiß eigentlich jeder, was gemeint ist. Aber wie präzise ist das? Nicht sehr, wenn im Alltag regelmäßig von Türken als Arabern gesprochen wird.

Für die Definition, was der arabische Raum ist, wird meist eins von drei Kriterien geltend gemacht: Sprache, Politik, Religion. Mit der arabischen Welt identifiziert wird oft die islamische Welt. Nur umfasst diese viel mehr Länder und Araber sind hier in der Minderheit. Und nicht alle Araber sind Muslime. Die Arabische Liga mit ihren 22 Mitgliedstaaten gibt da schon ein besseres Bild. Die Ausbreitung der arabischen Sprache als Kriterium für einen homogenen Raum ist das gängigste. Demzufolge zählen 24 Länder zum arabischen Raum, darunter Israel. Die Türkei und der Iran dagegen keinesfalls. Von Arabern zu sprechen ist also in vielen Fällen weder sinnvoll noch genau. [tp]

Asylant

Aus Asyl (Zufluchtsort) und der Endung -ant als Bezeichnung für eine Person gebildet, ist das Wort Asylant nicht unbedingt semantisch negativ beladen. Es könnte schlicht eine Person bezeichnen, die an einem Zufluchtsort lebt. Doch dem Begriff haftet etwas Abwertendes an. Grammatisch ist das kaum zu erklären: Die hin und wieder ins Feld geführte negative Konnotation, die mit der Endung -ant einhergeht, ist nicht konsequent erkennbar. Zwar stehen Simulant, Querulant oder Dilettant in einem schlechten Licht, aber Lieferant oder Musikant durchbrechen diese Systematik.

Dennoch sollte zumindest den Menschen, die vor 1985 geboren wurden, die (deutsche) mediale und politische Verwendungsgeschichte von »Asylant« präsent sein. Ab den späten 1970ern wurden Menschen, die einen Antrag auf Asyl stellten, Asylanten genannt; mit der Bezeichnung kam eine Parallelform zu Flüchtling auf. Nun wurde nicht mehr (wie nach dem Zweiten Weltkrieg) auf den Grund von Migration abgestellt, die Flucht, sondern das Ziel wurde markiert: Menschen wollten in Deutschland Asyl, vielleicht sogar dauerhaft. Zudem waren mit Asylanten nicht allgemein Ausländer gemeint, sondern vor allem Migranten aus armen Ländern − nicht Franzosen oder US-Amerikaner, sondern Rumänen, Russen, Vietnamesen.

Kurz nach 1989 brachen sich Rassismus und Fremdenhass Bahn: Die frühen 1990er waren besonders im Osten geprägt von neonazistischen Morden und Gewalttaten. Der Gipfel war das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992. Über Monate hatten Medien den Begriff Asylant mit Metaphern zu hetzerischen und Panik verbreitenden Schlagzeilen kombiniert, so etwa die Bild im April 1992: »Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt − wann sinkt das Boot?« Politiker sprachen vom »ungebremsten Zustrom von Asylanten«, dem nur mit »einer neuen Mauer« Einhalt geboten werden könne ( Mauer). 1993 wurde das Asylrecht stark eingeschränkt, das Wort Asylant verschwand aus Politik und Medien. Nun war die Rede von Asylbewerbern − ein Begriff, der auf den ersten Blick positiver klingt, aber in dem steckt, dass sich Menschen um Asyl bewerben müssten. Ein Umstand, der gerade mit der Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Asyl, wie es die Genfer Flüchtlingskonventionen und die Menschenrechte fordern, einen Beigeschmack hat.

Besorgten ist diese Wortgeschichte schnurz. Oder sie sprechen bewusst weiterhin von (Merkel-)Asylanten, die ihnen die Arbeit wegnehmen, Frauen schänden, das Land madig machen ( Danke, Merkel!). Auch in anderen Komposita mit Asyl zeigt sich der fremdenfeindlich besorgte Kern: Mittlerweile gehen Wortungetüme wie Asylforderer oder -anspruchsteller um, die jeweils die angebliche Dreistigkeit der Geflohenen betonen. Die AfD tut sich schwer, einfach von Asyl zu reden. In ihrem Parteiprogramm findet sich häufiger Asylzuwanderung, die kaum verhehlen kann, dass Zuwanderung hier als Problem verstanden wird. Den »rechtstreuen Asylbewerbern« stehen die »irregulären Migranten« gegenüber. Vermutlich hatte die AfD gute Medienberater, die sich an die 1990er erinnern können. Ausweichmanöver und Wortschöpfungen sollen die Xenophobie verdecken. [ng]

Asylforderer

Asylant

 

Asylindustrie

Eigentlich treibende Kraft hinter der Flüchtlingskrise ist die Asylindustrie. In gewissen Kreisen etablierte sich die zeitgemäße Notwendigkeit, auf jede Meldung zu fragen: »Cui bono?« Nur wer erkennt, wem der Lauf der Ereignisse in die Taschen spielt, erkenne auch, was wirklich los ist. Industrie kann erst mal ein neutrales Wort sein und eine bestimmte, eben industrialisierte Produktionsform meinen oder einen Wirtschaftszweig. Im letzteren Fall kann sich ein negativer Beiklang einstellen, wenn etwa die Musikindustrie beklagt wird, die weniger auf den künstlerischen Wert achtet als auf Chartplatzierungen. Der Vorwurf des schnöden Geldverdienen-Wollens steht bei Asylindustrie im Vordergrund. Hier hat man sich gierige Profiteure vorzustellen, die rücksichtslos mit Blick aufs eigene Konto an der Füllung des selbigen arbeiten.

Wer seine Immobilie für Flüchtlingswohnungen an eine Kommune vermietet, wer dort im Wachschutz arbeitet oder als Sprachlehrer, Dolmetscher oder Sozialarbeiter ein- und ausgeht, auch wer all das plant und verwaltet, gehört dazu. Es braucht nicht viel Fantasie, sich das wahre Ausmaß vorzustellen. Es geht bei der Vorstellung von der Asylindustrie längst nicht mehr um so etwas Banales wie die Frage, ob es nicht gut ist, wenn Geflüchtete ein Dach über dem Kopf finden, und auch nicht darum, ob jemand für Leistungen, die er zur Verfügung stellt, nicht auch entlohnt werden sollte. Vielmehr geht es um die Unterstellung, dass ein weitreichendes, aber so inoffizielles wie intransparentes Netzwerk ein monetäres Interesse an Flüchtlingen hat und somit daran, dass deren »Strom« nicht abnimmt ( Flüchtlingswelle). [fr]

Asylkritik

Bekannt wurde der Begriff (auch: Asylkritiker oder asylkritisch; verwandt: Islamkritik, Israelkritik) während des Aufstiegs von Pegida und AfD. Unbesorgten stieß sein Gebrauch zuerst in konservativen und linksliberalen Massenmedien auf − erstmals irgendwann 2014. Von Anfang an war klar, dass der Begriff nicht adäquat repräsentiert, was damit beschrieben wird. Als sich beispielsweise im sächsischen Heidenau eine »asylkritische Demonstration« als Gewaltorgie entlarvte, fiel bei einigen Medien der Groschen: Vertreter dieser Haltung sind Feuer und Flamme für ihre Kritik und richten sie ganz konkret auf alles, was irgendwie nach pro Asyl (synonym zu deutschenfeindlich) aussieht − Menschen, Unterkünfte, Initiativen, Stadtteile.

Heute wird der Begriff medial demonstrativ noch von der Jungen Freiheit und anderen rechten (oder sächsischen) Zeitungen genutzt. Einige haben explizit verkündet, darauf zu verzichten. Die Nachrichtenagentur dpa ließ mitteilen, dass der Begriff angesichts der Praktiken selbsternannter Asylkritiker verharmlosend sei. Angestrengt nachgedacht wurde da allerdings nicht, denn die verkündete Alternative Fremdenfeindlichkeit ist aus ähnlichen Gründen schon seit Jahrzehnten dämlich falsch.

Bei Asylkritik handelt es sich um einen Euphemismus, mit dem menschenverachtende Inhalte und Taten als selbstverständliche Meinungsäußerung verharmlost werden. Das haben mittlerweile die meisten Beteiligten verstanden − Nazis und Besorgte, AfD und Pegida, weil sie genau das wollen; der lernfähige Teil der Öffentlichkeit, weil sie erkannt haben, was da passiert. Alle anderen sollten sich fragen, wo sie stehen. Anfangen könnte damit vielleicht der sächsische Verfassungsschutz. Anstatt entsprechende Diskussionen aufzunehmen, hat sich die Behörde entschlossen, gleich einen Begriffsapparat für ihre »Berichterstattung zur Asylthematik« zu entwickeln. »Asylbezogene Veranstaltungen« sind demnach dann »asylfeindlich«, wenn sie von »Rechtsextremisten« organisiert werden ( Extremismus). Ansonsten sind sie »asylkritisch«. Wie − so hat die Behörde messerscharf erkannt − Pegida, weshalb es da nichts zu beobachten gebe. Das scheint sächsische Staatsräson zu sein, denn der damalige Innenminister Markus Ulbig (CDU) geht noch einen Schritt weiter, wenn er von einem irgendwie legitimen »Mantel der Asylkritik« spricht, unter dem illegitime Gewalt und Rassismus verdeckt würden; oder wenn er den Kern der Probleme in der »Auseinandersetzung zwischen Asylgegnern und Asylbefürwortern« entdeckt. Man könnte bei diesen Verhältnissen eine ausgewiesene »Sachsenkritik« entwickeln − wenn man es nicht besser wüsste. [mr]

Atheismus

christlich-jüdisch

Aufwachen

Wer aufwacht, hat vorher geschlafen. Nun, mit offenen Augen, ist wieder ein frischer Blick auf die Welt möglich. Der Aufgewachte durchschaut, was läuft. Er ist kritisch bis unbequem, denkt selbst und plappert nichts nach. Dahinter steckt eine bestechende Strategie: Dieser kritische Geist ist qua seines Durchblicks in der Lage, auch den größten Stuss auf der Palette des Verschwörungsdenkens als Wahrheit zu verkaufen.

Auf das Aufwachen folgt das Aufstehen. Den Aufstand − in Rekurs auf 89 auch schon mal Wende 2.0 genannt − können freilich nicht einzelne nachdenkliche Zeitgenossen stemmen. Dafür braucht es entflammte Massen. Das Leiden des Aufgewachten stammt nicht vom Spott der Zeitgenossen − der ist ihm Bestätigung. Er leidet daran, dass so viele noch schlafen und sich einlullen lassen. Würden alle aufwachen und aufstehen, dann könnte man sich wehren, zur Mistgabel greifen und den Eliten zeigen, was man von ihnen hält. So aber bleibt der Erwachte der einsame Rufer in der Wüste, der tagein, tagaus unermüdlich das Flämmchen der Erleuchtung am Leben erhält. [fr]

Aussterben

Umvolkung

Bahnhofsklatscher

Gutmensch

BRD GmbH

Deutschland GmbH

Bürger

Besorgte sind immer auch Bürger − ausschließlich. Sie sind keinesfalls etwas anderes, beispielsweise Neonazis, Landtagsabgeordnete oder Rassisten, sind »weder rechts, noch links« ( Mitte), »weder für die eine, noch für die andere Seite«. Nach ihrem Selbstverständnis verkörpern sie eine neutrale Zone innerhalb allen politischen Geschehens und äußern aus diesem zentral gelegenen Vakuum lediglich ihre Sorgen und Ängste. Nun ist der Standort zwar recht bequem, sich mit »gesundem Menschenverstand« selbst aus jeglichem Kontext herauszunehmen und von einer behaupteten neutralen Position aus zu sprechen, das bleibt aber Verschleierungsstrategie oder schlichtweg idiotisch.

Das Wort Idiot leitet sich vom altgriechischen Begriff für eine Privatperson ab, die zwar öffentliche Ämter wahrnehmen könnte, es aber nicht tut. Ihr Gegenstück war der polites − eine Figur, auf die bis heute Überlegungen zur Stellung des Bürgers in einer demokratischen Gesellschaft zurückgreifen. Die idiotische Sphäre war die des oikos, also der Wirtschaft im Sinne der Reproduktion und Überlebenssicherung. Als gäbe es eine begriffsgeschichtliche Kontinuität vom Idioten der griechischen Polis zum besorgten Bürger, begründen auch letztere ihren aufgewühlten Gemütszustand mit der Sorge ums alltägliche Überleben und verweisen auf die Cent-Stücke ( D-Mark), die vom vielen Umdrehen bereits abgegriffen sind. Im Zustand ihrer seelischen Aufwallung bemerken sie jedoch nicht, dass sie sich das Politische zueigen machen und es gleichzeitig ablehnen − und so zu dialektisch oszilierenden Subjekten werden.

Dass der Bürger von seiner Begriffsherkunft den Verteidiger eines befestigten Zufluchtsorts bezeichnet, dürfte mehr zum besorgten Selbstverständnis passen, da man sich im Belagerungszustand wähnt ( Invasionsarmee). Hinderlich dagegen: Bereits im 12. Jahrhundert vollzog sich eine semantische Verschiebung hin zum Burgbewohner statt des Verteidigers. Darin spiegelt sich das Hauptdilemma der besorgten Rhetorik: Bürgerschaft setzt, im Gegensatz zur Herrschaft, ein Verständnis der Horizontalität voraus. Sie ist eine Assoziation der Freien und Gleichen, in welcher sich aus Herkunft, Gewohnheit und Tradition keine Vorteile ableiten lassen, ebenso wenig wie die Ungleichbehandlung jener, die aus vertrauten Mustern herausfallen. In ihrem Avantgarde-Anspruch (»Wacht endlich auf!«, Aufwachen), der allen Kritikern die politische Unmündigkeit und Korrumpiertheit attestiert, schlägt sich dagegen vielmehr ein patriarchales Herrschaftsdenken nieder. [rs]

Bürgerwehr

Es »wird zeit das endlich die demos in bürgerwehr aufgeht«, fordert ein Kommentator, »und unser ja unser land das deutschland aufräumen und die regierung stürtzen und dan raus mit den migranten alle es ist unser land was sytehmatich von ausen her zerlegt wird wollt ihr das?? jetzt heist es aufstehn unschuldige sterben weil regierung versagt«. Mit dem Aufruf, eine Bürgerwehr müsse richten, wo Demonstrationen in seinen Augen versagten, ist der Schreiber nicht allein.

»Bürger, wehrt Euch!« lautet eine der Besorgtenparolen. Bürgerwehr klingt harmlos, nach Mieterschutzbund und Fußgängerverein. Mensch Bürger nutzt sein gutes Recht, lässt sich nicht alles gefallen. So unproblematisch und gewaltneutral ist die Bürgerwehridee nicht, das zeigt schon ihr idealisierter Urmythos. Noch immer gilt vielen die Alte Schweizer Eidgenossenschaft als Vorbild eines mit Spießen bewaffneten Bürgerbundes, der erfolgreich das Ritterheer der habgierigen Habsburger schlug. Das waren damals natürlich nicht alles Menschen, die sich freiwillig zusammenschlossen, sondern es gab widersprüchliche Eigeninteressen, Abhängigkeiten und Standesunterschiede. Tatsächlich kam im Mittelalter für freie Stadtbürger eine Verteidigungspflicht auf. Sie hatten sich an der Waffe fit zu halten und im Angriffsfall ihre Stadt zu schützen. Daraus entwickelten sich im 19. Jahrhundert militärische Einrichtungen, die Arbeiteraufstände oder die Erhebungen der Märzrevolution 1848 bekämpften. Dem Willen des »gemeinen Menschen« dienten sie gerade nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden sie. Besonders in Süddeutschland erinnern bis heute Vereine aus Traditionspflege an diese Bürgerwehren.

 

Faustrecht statt Folklore bestimmt das Denken gegenwärtiger Bürgerwehren. Mögen manche wirklich der Nachbarschaftshilfe verpflichtet sein, so sind die meisten doch vom Ungeist der Besorgten bewegt. Diese Form der Selbstjustiz − der juristische Rahmen für eine legale Bürgerwehraktivität ist sehr eng − ist nicht nur problematisch, weil sie de facto das Gewaltmonopol des Staats infrage stellt. Unausgebildete Menschen maßen sich im Namen des Schutzes der Öffentlichkeit Personenkontrollen, Festsetzungen, gar den Einsatz körperlicher Gewalt an. Das den Reichsbürgern zugehörige »Deutsche Polizeihilfswerk« läuft in Ostdeutschland als Vollstrecker eines Fantasiestaats auf und setzte schon mal Gerichtsvollzieher mit Kabelbindern fest. Wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung, versuchten Mord und versuchte schwere Körperverletzung hat Ende 2017 die Bundesstaatsanwaltschaft Anklage gegen Anhänger der Bürgerwehr Freital (Erzgebirge) erhoben (Urteile wurden bis Drucklegung nicht verhängt). [tp]

Christentum

christlich-jüdisch, Abendland

christlich-jüdisch

Die Rolle der »christlich-jüdischen Tradition« bei der kolportierten Notwendigkeit, das Abendland gegen die Islamisierung zu verteidigen, erscheint wie ein Phantomschmerz. Denn das sächsische Geburtsland von Pegida ist wie andere ostdeutsche Bundesländer für die Konfessionslosigkeit seiner Einwohner bekannt. Manche würden auch behaupten, dass es Antisemiten dort leichter haben als Juden. Vielleicht deshalb strengt sich die Evangelische Kirche in Sachsen nun an, dem Phantom eine pegida-gerechte Gestalt zu geben. So profilierte sich der Landesbischof Carsten Rentzing vor seiner Ernennung mit homophoben Aussagen. Und für den ob seiner DDR-Opposition bekannten ehemaligen Pfarrer Theo Lehmann drückt sich in dieser Haltung der auch in Kirchensachen bewundernswerte »sächsische Weg« aus. Diesen ebnet er für die Spaziergänge von Pegida, an denen er teilnimmt, um seine Kritik am Islam als »antichristliche Religion« zu demonstrieren.

Tatsächlich meint die christlich-jüdische Tradition gerade nicht die christlichen Kirchen. Erfunden haben ihn Vertreter meist aus dem Lager der Unionsparteien zu Hochzeiten der Leitkultur- und Integrationsdebatten (die dabei den schon zuvor umstrittenen Begriff einer jüdisch-christlichen Tradition noch verkehrten, um ihre Prioritäten zu verdeutlichen). Meist in Verbindung mit Aufklärung gebraucht, dient das Konstrukt einer vermeintlich aufgeklärten Variante des antimuslimischen Rassismus. Und die geht so: »Unser« Rechtsstaat und seine freiheitlichen Grundwerte in »unserem« Grundgesetz wie die Gleichstellung der Geschlechter, Freiheit der Kunst, Meinungsoder Religionsfreiheit seien das Ergebnis besagter Tradition (übrigens auch die sexuelle Freiheit). Denn im Gegensatz zum Islam mit seinen »kriegerisch-arabischen Ursprüngen« hätte diese erst die Aufklärung ermöglicht. Einige Tatsachen wurden allerdings unter den Stammtisch fallen gelassen: zum Beispiel, dass Christentum und Judentum die längste Zeit vor allem durch Glaubenskriege und Antisemitismus »verbunden« waren und − ach ja − die Shoah als dialektische »Kleinigkeit« der westlichen »Zivilisation« auch etwas mit diesem Verhältnis zu tun hat. Schließlich verdrehen die Apologeten des christlich-jüdischen Abendlands den einfachen Umstand, dass die von ihnen gefeierten Freiheiten gegen die Kirchen erkämpft wurden.

Bei so viel kaschiertem Horror fällt nicht auf, dass mit diesem Bezug das Kunststück gelingt, Muslimen selbst gegenüber intolerant sein zu dürfen − mit dem Verweis auf ihre angebliche kulturell-religiös bedingte Unfähigkeit zu Toleranz und Freiheit. Einige Kirchenvertreter und andere Konservative haben mittlerweile gelernt, zumindest für den Moment einen liberalen Umgang mit den Blüten aufgeklärter Gesellschaften zu suggerieren und zum Beispiel Schwule und Lesben einzubeziehen, damit diese Rechnung gegen den Islam aufgeht. Bei den Homophoben von AfD, Pegida und sächsischer Kirche allerdings ist man selbst für diesen Kniff zu blöd. [mr]