Wörterbuch der Soziologie

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Formen qualitativer Interviews

Die meistverwendeten Formen qualitativer Interviews:

 Leitfadeninterview bzw. leitfadengestütztes Inter view

 Narratives Interview

 Experteninterview

Die verschiedenen Formen qualitativer Interviews können nach der Interviewführung, nach ihrem Gegenstand und teilweise auch nach bestimmten, dem Befragten zugeschriebenen Merkmalen unterschieden werden: Beim Leitfadeninterview handelt es sich um eine Interviewführung, die tendenziell stärker durch den Interviewer strukturiert wird. Er agiert anhand eines vorab entworfenen Fragenleitfadens, soll sich dabei allerdings an den Themensetzungen und -verknüpfungen des Befragten orientieren und den Leitfaden flexibel einsetzen. Inhalt sind hierbei sowohl Fragen nach Handlungen und Erleben als auch zu Einstellungen und Deutungen. Zu beachten ist, dass die Forschungsfragen nicht umstandslos [48]in Leitfadenfragen umgesetzt werden können und dass die Fragen in alltagssprachlichen und nicht in wissenschaftlichen Begriffen formuliert sein müssen (also nicht: »Wann fällt Ihnen Ihr Doing Gender auf?« »In welchen Situationen ist Ihnen Ihr Habitus hinderlich?« »Welche Rolle spielt Bildungspanik bei Ihren Entscheidungen?«).

Das narrative Interview ist eine Interviewform, in der die Befragte auf eine initiale Frage ohne Unterbrechungen antworten und das von ihr Erlebte vollständig ausformulieren kann. Gegenstand ist ein vergangener oder bis heute andauernder Handlungsprozess, an dem die Befragte selbst beteiligt war; am häufigsten werden narrative Interviews zur Erhebung von Biographien eingesetzt.

Bei Experteninterviews handelt es sich zumeist um Leitfadeninterviews, bei denen dem Befragten ein besonderer Status zugeschrieben wird, nämlich Träger von »Expertenwissen« zu sein. Darunter wird meist Wissen über institutionalisierte Interaktionsbeziehungen oder über dritte Akteure verstanden (z. B. Richter, die über die Interaktion zwischen Strafverteidigern und Staatsanwälten und deren Einflüsse auf die Urteilsfindung befragt werden).

Auswertung qualitativer Interviews

Die so erhobenen Daten zeichnen sich durch eine geringe formale Vergleichbarkeit aus; dies erfordert eine kaum standardisierbare Auswertung der einzelnen Interviews. Die Auswertung beginnt mit einer Analyse des Interaktionsgeschehens, insbesondere beim Interviewbeginn, mit besonderem Augenmerk auf die Selbstdarstellung des Befragten. Nach einer Sequenzierung in Sinneinheiten bzw. einem Nachzeichnen des thematischen Verlaufs bei Leitfadeninterviews bewegt sich die Analyse am Textverlauf entlang. Es werden hierbei nicht allein die oberflächlichen Aussagen extrahiert (»hat sich für Karriere entschieden«, »ist mobil«, »hat aus Liebe geheiratet«), sondern anhand einer Analyse der formalen, sprachlichen und thematischen Besonderheiten werden die prägenden Deutungs- und Wahrnehmungsstrukturen und Handlungsverläufe des erhobenen Falls rekonstruiert; gerade auch im Widerspruch zur Selbstpräsentation. Wie bei quantitativen Befragungen gibt es auch in qualitativen Interviews Antworttendenzen, die sich an der sozialen Erwünschtheit orientieren; im Gegensatz zur quantitativen Erhebung erhält man jedoch in einem gelungenen qualitativen Interview ausreichend viele Kontextinformationen, um widersprüchliche Aussagen und die Handlungswirksamkeit von postulierten Einstellungen erkennen zu können. Dies verweist aber darauf, dass ein Interview vollständig, also als Fall, interpretiert werden muss. Das – bisweilen praktizierte – Herauspicken von einzelnen Passagen reicht von der Auswertungstiefe her nicht aus. Für das narrative Interview wurden unterschiedliche narrationsanalytische Auswertungsverfahren entwickelt. Grundsätzlich finden bei der Interviewanalyse die eingeführten qualitativen Auswertungsverfahren wie z. B. die Objektive Hermeneutik oder die Dokumentarische Methode der Interpretation Anwendung.

Literatur

Zur standardisierten Befragung: Diekmann, Andreas, 2007: Empirische Sozialforschung, 4. Aufl., Reinbek. – Beiträge in der Zeitschrift »Methoden-Daten-Analysen. Zeitschrift für empirische Sozialforschung«, ab 2007 (s. a. die Publikationen unter www.gesis.org).

Zu qualitativen Interviews: Bogner, Alexander et al. (Hg.), 2009: Experteninterviews, 3. Aufl., Wiesbaden – Hoffmann-Riem, Christa, 1980: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie – der Datengewinn; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, 339–372. – Küsters, Ivonne, 2009: Narrative Interviews, 2. Aufl., Wiesbaden. – Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2009: Qualitative Sozialforschung, 2. Aufl., München, 91–159.

Nicole Burzan/Ivonne Küsters

Beobachtung

Die Beobachtung (engl. observation) ist Grundlage empirischer Forschung, da wissenschaftliche Erkenntnisprozesse allgemein auf sinnlichen Erfahrungen der Wahrnehmung und Beobachtung beruhen (Bortz/Döring, Kap. 4). Im engeren Sinne ist die Beobachtung eine empirische Methode der Untersuchung von Verhalten in den Human- und Sozialwissenschaften. Im Vergleich zu sprachbasierten Verfahren (z. B. Befragung) wird bei Methoden der Beobachtung eher der Anspruch betont, dass sie einen unmittelbaren, weitgehend unverfälschten Zugang zu menschlichem Verhalten liefern. In der experimentell orientierten Psychologie liegt dabei ein Schwerpunkt auf der Beobachtung unter standardisierten Bedingungen, um eine größtmögliche Kontrolle [49]von Störvariablen zu gewährleisten. Da aus soziologischer Perspektive die Beobachtung eine geeignete methodische Zugangsweise zur Prüfung theoretischer Fragen hinsichtlich der Herstellung sozialer Wirklichkeit in alltäglichen Interaktionen ist, steht die Beobachtung in natürlichen Verhaltenskontexten im Mittelpunkt (z. B. teilnehmende Beobachtung). Zur ergänzenden Dokumentation werden hierzu auch visuelle Medien (Foto, Video) herangezogen, die z. B. mittels Bildanalyse untersucht werden (Flick, Kap. 17–21). Beobachtung ist ein Sammelbegriff für eine Reihe teilweise sehr unterschiedlicher Datenerhebungstechniken (z. B. Beobachtung sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltens, Beobachtung kultureller Zeichen wie Kleidung). Davon abhängig variieren das methodische Vorgehen und damit einhergehende Probleme der Reaktivität (vgl. nicht-reaktive Verfahren).

Formen der Verhaltensbeobachtung

In Abgrenzung zur Alltagsbeobachtung bezieht sich systematische Beobachtung auf spezifische Fragestellungen und erfolgt daher zielgerichtet und geplant. Dies beinhaltet eine systematische Aufzeichnung der Daten sowie die Sicherstellung von Reliabilität und Validität (Hoyle et al.). Ferner wird eine Differenzierung zwischen systematischer und freier Beobachtung, die nicht hypothesengeleitet erfolgt, vorgenommen (Greve/Wentura). Der Beobachtung durch trainierte externe Beobachter (Fremdbeobachtung) steht die systematische Beobachtung und Protokollierung des eigenen Verhaltens gegenüber (Selbstbeobachtung), die z. B. in der psychologischen Diagnostik Anwendung findet (z. B. Tagebuchmethode) (Bodemann).

Methoden der Beobachtung lassen sich hinsichtlich ihres Standardisierungsgrades einteilen. Die Kontrolle über die Durchführungsbedingungen ist hoch in künstlich erzeugten Situationen, in der durch Stimuli gezielt ein bestimmtes Verhalten evoziert wird (z. B. emotionale Reaktion auf Musik). Je nachdem, ob Beobachtung im natürlichen Verhaltenskontext erfolgt oder in einem Labor, ist der Ort der Beobachtung ein weiteres Unterscheidungskriterium (Feld-/natürliche vs. Laborbeobachtung). Ebenso ist zu berücksichtigen, inwieweit die untersuchten Personen wissen, dass sie Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung sind oder der Beobachter verdeckt agiert (offene vs. verdeckte Beobachtung). Bei der teilnehmenden Beobachtung ist der Beobachter in der Situation selbst anwesend, um eine bestimmte Rolle im sozialen Geschehen zu übernehmen oder gezielt mit den untersuchten Personen zu interagieren. Bei der nicht teilnehmenden Beobachtung hingegen ist der Beobachter nicht präsent (teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung).

Die Auswertung des beobachteten Verhaltens kann unmittelbar oder technisch vermittelt erfolgen. Die Auswertung aufgezeichneter Beobachtungsdaten (z. B. Ton-/Videoaufnahmen, Transkripte) bietet Vorteile gegenüber einer unmittelbaren Kodierung in der aktuellen Situation. Aufzeichnungen erlauben die wiederholte Betrachtung der Beobachtungsepisoden und tragen zur Reduzierung von Beobachtungsfehlern bei. Verschiedene Verhaltensaspekte können getrennt und nacheinander ausgewertet werden. Dies erlaubt zu prüfen, wie hoch die Beurteilerübereinstimmung ist. Digitale Videoaufnahmen erleichtern heute übliche computergestützte Auswertungen mit Programmen, die komplexe Auswertungsprozeduren (z. B. Sequenzanalyse) vereinfachen (Bakeman/Quera). Bei allen Auswertungsmethoden erfolgt eine Informationsreduktion. Diese Reduktion hängt davon ab, welche Aspekte des Verhaltens im Zeitverlauf erfasst werden sollen (z. B. sprachliches oder nicht sprachliches Verhalten) (Greve/Wentura).

Beobachtungs- und Beschreibungssysteme

Grundlage einer systematischen Beobachtung ist die Festlegung für die Fragestellung relevanter Beobachtungseinheiten. »Als Beobachtungseinheit wird derjenige Bestandteil in einem Verhaltensablauf bezeichnet, der dem Untersucher als kleinstes, nicht reduzierbares Ereignis zur Analyse des Verhaltens notwendig erscheint« (Cranach/Frenz: 286). Je nach theoretischem Interesse unterscheiden sich die gewählten Beobachtungseinheiten. In der Soziologie und Sozialpsychologie ist die Untersuchung von sozialen Interaktionen von Interesse (z. B. Kooperation in Gruppen), die Persönlichkeitspsychologie interessiert sich für individuelle Unterschiede in Verhaltensmustern (z. B. Wirkung von Stress auf Essverhalten), während in der Entwicklungspsychologie Veränderung und Stabilität von Verhalten im Mittelpunkt stehen (z. B. in Eltern-Kind-Interaktionen). Beobachtungseinheiten können qualitativer und quantitativer [50]Natur sein und hinsichtlich der zeitlichen Auflösung variieren. In Studien zur emotionalen Entwicklung wurde festgestellt, dass kulturelle Unterschiede bestehen, wie Mütter auf negative Emotionen ihrer Kinder reagieren (d. h. Sensitivität; Trommsdorff). Emotionen lassen sich hinsichtlich qualitativer (z. B. positiv, negativ) und quantitativer Merkmale (z. B. Intensität, Häufigkeit, Dauer) unterscheiden. Ebenso kann Sensitivität als eine qualitativ variierende Einheit (d. h. Formen der Sensitivität unterscheiden sich zwischen Kulturen) verstanden werden, deren Ausprägungen sich auf individueller Ebene einschätzen lässt. Bezieht sich die Erfassung von Sensitivität auf eine Interaktionssequenz mit einer Dauer von mehreren Minuten, lassen sich Verhaltensmerkmale auf der Mikroebene heranziehen (z. B. Position der Augenbrauen, Mundwinkel), um die Intensität des emotionalen Ausdrucks zu beurteilen (mikro- vs. makroanalytische Beobachtung). Beobachtungseinheiten variieren, je nachdem, ob sie natürliche Verhaltenseinheiten (z. B. weinen) oder komplexe soziale Handlungen (z. B. Aufmerksamkeit suchen) abbilden (Bakeman/Quera).

 

Bei der Verhaltensbeobachtung nimmt ein Beobachter stets Zuschreibungen vor und erschließt Beobachtungseinheiten aufgrund des wahrgenommen Verhaltens (Cranach/Frenz). Bei der Beobachtung von Begrüßungsritualen werden Beobachter mit hoher Übereinstimmung, zumindest in einer bestimmten Kultur, Förmlichkeit und Höflichkeit beurteilen können. Kann eine hohe intersubjektive Übereinstimmung nicht gelingen (z. B. Kulturvergleich), ist es unerlässlich, direkt wahrnehmbare Beobachtungseinheiten (z. B. Körperkontakt) zu wählen.

Beobachtungen werden in Form von Beschreibungssystemen festgehalten. Aufzeichnungen in schriftlicher Form, die sich der Alltagssprache bedienen, umfassen Selbst- und Fremdbeobachtung (z. B. Tagebuch) oder Verlaufsprotokolle. Dies sind unsystematische Ereignisprotokolle, die einer weiteren inhaltsanalytischen Auswertung bedürfen. Index-Systeme beinhalten eine Aufzeichnung von Verhaltensmerkmalen, z. B. ethologische Verhaltensprotokolle, in denen bestimmte in einer Situation auftretende Verhaltensweisen oder Merkmale, die einen übergeordneten Aspekt (z. B. Verhaltensmuster) repräsentieren, registriert werden (Faßnacht). Ziel eines Kategoriensystems ist es, das beobachtete Verhalten möglichst erschöpfend zu beschreiben und anhand definierter Kategorien zu klassifizieren. Ein Kategoriensystem bestimmt Struktur und Regeln, die für eine systematische Zuordnung der beobachteten Verhaltenseinheiten zu einzelnen Kategorien erforderlich sind. Einzelkategorien müssen inhaltlich und definitorisch voneinander abgrenzbar sein, um eine eindeutige, exklusive Zuordnung der untersuchten Beobachtungseinheiten zu den Kategorien zu gewährleisten. Die Erstellung eines Kategoriensystems ist somit eine Voraussetzung für die spätere Übersetzung beobachteter Verhaltenseinheiten in numerische Variablen zwecks statistischer Datenverarbeitung. Mit diesem Schritt kann Beobachtung als eine Form der Messung im wissenschaftlichen Sinne verstanden werden (Greve/Wentura).

Eine Alternative zu nominalen Klassifikationssystemen stellen dimensionale Systeme dar, bei denen Ratingskalen zur Anwendung kommen. Die Verwendung von Ratingskalen anstelle kategorialer Maße kann die Erfassung sozial komplexer Verhaltensweisen erleichtern und Informationen liefern, die bei der Verwendung rein verhaltensbasierter Kategorien verborgen bleiben. Ein kulturinformierter Beobachter, der auf einer Skala die Qualität einer Mutter-Kinder-Interaktion beurteilt, berücksichtigt möglicherweise kulturelle Besonderheiten, die durch eine Erfassung von Häufigkeit und Dauer rein verhaltensbezogener Beobachtungseinheiten (z. B. Körperkontakt) nicht abgebildet würden. Im Vergleich zu nominalen Kategoriensystemen sind Ratingskalen weniger zeitintensiv und können vergleichbar zuverlässige Ergebnisse liefern (Bakeman/Quera). Ein weiteres Beispiel ist die Sequenzanalyse, die es ermöglicht, Verhaltensmuster zu identifizieren und strukturelle Zusammenhänge im zeitlichen Verlauf zu untersuchen. Voraussetzung ist das Vorliegen zeitlich fortlaufend erhobener Daten zu mehreren Messzeitpunkten (Bakeman/Quera).

Objektivität der Verhaltensbeobachtung

Einschränkungen der Zuverlässigkeit und Objektivität können aufgrund von Urteilsverzerrungen seitens der Beobachter und durch die Tatsache der Beobachtung selbst entstehen. Da Beobachtung auf der individuellen Wahrnehmungsleistung der einzelnen Beobachter basiert, ist die Herstellung einer hohen Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern (Interrater-Reliabilität) eine Voraussetzung, um die Objektivität einer Beobachtung zu gewährleisten. Unterschiedliche Quellen für Beobachtungsfehler[51] sind bei der Auswertung zu berücksichtigen. Bei der Verwendung globaler Ratingskalen besteht die Gefahr, dass bei der Kodierung extreme Werte vermieden werden (zentrale Tendenz), die Beurteilung durch den Gesamteindruck oder besonders saliente Verhaltensmerkmale überlagert wird (Halo-Effekt) oder Erwartungshaltungen des Beobachters die Urteilsbildung beeinflussen. Auch können Personenmerkmale des Beobachters (z. B. Geschlecht, Alter) zu Urteilsverzerrungen führen. Neben Auswahl und Training der Beobachter ist die Kontrolle der Auswertung unerlässlich, um Verzerrungen infolge von Beobachtungsfehlern entgegenzuwirken (Greve/Wentura). Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Kodierung werden sichergestellt, indem die Übereinstimmung zwischen unabhängigen Beobachtern ermittelt wird oder ein Abgleich der Auswertung mit einem zuvor etablierten Expertenrating erfolgt. Zur Prüfung der Interrater-Reliabilität wird z. B. Cohens Kappa als statistisches Maß verwendet (Bakeman/Quera). Eine Alternative für die Prüfung der Interrater-Reliabilität bei qualitativen Verfahren, die mit weniger Einschränkungen hinsichtlich der Anzahl der Beobachter, Skalenniveau, Stichprobengröße und fehlender Werte verbunden ist, stellt Krippendorffs Alpha dar (Hayes/ Krippendorff).

Grundsätzlich können Beobachtungsfehler jedoch auch durch die untersuchten Personen verursacht werden. Insbesondere Beobachtung ist anfällig für Probleme der Reaktivität, wenn die untersuchten Personen ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über die Untersuchungsabsicht verändern (Versuchspersoneneffekt). Bei teilnehmender Beobachtung über einen längeren Zeitraum (z. B. Feldforschung), wenn Beobachter und untersuchte Personen direkt miteinander interagieren, ist nicht auszuschließen, dass die Messung anhaltende Änderungen im Verhalten zur Folge hat (z. B. um Erwartungen des Beobachters zu erfüllen; Hawthorne-Effekt; Greve/Wentura).

Methoden der Beobachtung stellen besondere Herausforderungen an Planung und Durchführung der Datenerhebung (z. B. Reaktivität) und -auswertung (z. B. Entwicklung eines Kategoriensystems, Training der Beobachter). Methoden der Beobachtung sind jedoch eine wichtige Alternative für die Erfassung von Verhalten, wenn die Verwendung anderer Verfahren (z. B. Befragung) schwierig ist (z. B. komplexe soziale Interaktionen in Gruppen) oder untersuchte Personen nicht über ihr Verhalten Auskunft geben können (z. B. Kleinkinder) (Greve/ Wentura; Schnell et al., Kap. 7). Generell empfiehlt es sich, unterschiedliche Datenquellen (z. B. Befragungen wie Selbst- und Fremdbericht) mit Methoden der Beobachtung zu kombinieren (Triangulation; Schnell et al., Kap. 7).

Literatur

Bakeman, Roger; Quera, Vincenç, 2011: Sequential analysis and observational methods for the behavioral sciences, New York. – Bodemann, Guy, 2006: Beobachtungsmethoden; in: Petermann, Franz; Eid, Michael (Hg.): Handbuch der psychologischen Diagnostik, Göttingen, 151–159. – Bortz, Jürgen; Döring, Nicola, 2009: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Heidelberg. – Cranach, Mario von; Frenz, Hans-Georg, 1969: Systematische Beobachtung; in: Graumann, Carl Friedrich (Hg.): Handbuch der Psychologie, Band 7, Sozialpsychologie, Göttingen, 269–331. – Faßnacht, Gerhard, 1995: Systematische Verhaltensbeobachtung: Eine Einführung in die Methodologie und Praxis, München. – Flick, Uwe, 2007: Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung, Reinbek. – Greve, Werner; Wentura, Dirk, 1997: Wissenschaftliche Beobachtung: Eine Einführung, Weinheim. – Hayes, Andrew F.; Krippendorff, Klaus, 2007: Answering the call for a standard reliability measure for coding data; in: Communication Methods and Measures, 1, 77–89. – Hoyle, Rick H. et al., 2009: Research methods in social relations, Belmont Drive, CA. – Schnell, Rainer et al., 2011: Methoden der empirischen Sozialforschung, München. – Trommsdorff, Gisela, 2007: Entwicklung im kulturellen Kontext; in Trommsdorff, Gisela; Kornadt, Hans-Joachim (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie: Themenbereich C, Serie VII, Bd. 2: Kulturelle Determinanten des Erlebens und Verhaltens, Göttingen, 435–519.

Tobias Heikamp

Berufssoziologie

Gegenstand

In der Berufssoziologie (engl. occupational sociology/sociology of occupations) bzw. in berufssoziologischen Analysen geht es um die Bedeutung des Berufs für Individuen, Organisationen und gesellschaftliche Teilbereiche und genauer: um eine soziologische Beschreibung dieser Verhältnisse. In der mittelalterlichen Gesellschaft war der Beruf nicht nur ein Teil des Lebens, sondern er bestimmte die[52] Existenz des ›ganzen Hauses‹ sowie das ›ganze Leben‹ der in ihm arbeitenden und wohnenden Personen. Der Beruf fungierte als Leitgesichtspunkt für die ganze Lebensführung und war der bestimmende Orientierungsrahmen für betriebliche Organisationen. Diese umfassende Stellung hat er in der modernen Gesellschaft freilich längst eingebüßt, was gleichwohl nicht heißt, dass er bedeutungslos geworden wäre, worauf schon Helmut Schelsky (1960/1965) in seinem einflussreichen Aufsatz »Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft« hingewiesen hat. Obwohl Schelsky sehr wohl die Gefahr sieht, dass der »in seiner Lebensbedeutung reduzierte Beruf nur als Mittel und Zweck für die Lebenserfüllung in anderen Lebensbereichen angesehen« und damit zum »bloßen Job« werden könnte (240), betont er, dass auch in dieser teilhaften Bedeutung, die der Beruf jetzt noch für das menschliche Leben hat, »die Berufstätigkeit immer noch der wichtigste Faktor für die soziale Bestimmung des menschlichen Lebens in unserer Kultur« ist (240) und dass die Menschen »im Wesentlichen nach ihren Berufen sozial eingeordnet« werden (S. 241). Der Beruf ermögliche nämlich den Menschen nach wie vor den Großteil ihrer Sozialkontakte und strukturiert ihren Alltag und ihren Lebenslauf; er bestimmt ihre Einkommens- und ihre Vermögensverhältnisse und damit auch ihren sozialen Status und ihr soziales Prestige; und schließlich prägt er ihre Selbst- und Fremdeinschätzung, also das Bild, das sie von sich beziehungsweise andere von ihnen haben. Und, so kann man hinzufügen, auch Organisationen sind natürlich immer noch zwingend auf das berufliche Wissen ihrer Mitarbeiter angewiesen.

Hiermit ist bereits ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Arbeit und Beruf angedeutet. Der Arbeitsbegriff ist sehr weit gefasst: nicht nur Arbeiter arbeiten, sondern auch Angestellte, Beamte und Selbstständige, und die Gesellschaft mit ihren Teilbereichen und Organisationen ist auf diese Arbeit angewiesen. Der Berufsbegriff setzt dagegen spezifischer an und bezeichnet darüber hinaus die jeweilige Form der Arbeit. Als zusätzliches Moment kommt beim Beruf zum einen immer auch die Form der Ausbildung/Qualifizierung für die (berufliche) Arbeit hinzu und zum anderen kann man von Berufen erst sprechen, wenn sich »Arbeit in ausdifferenzierter Rollenstruktur (…) konstituiert« (Luckmann, Sprondel 1972, 13). Berufe lassen sich so gesehen als »die soziale Organisation der Arbeit« (ebd.: 17) beschreiben oder anders: als berufliche Organisation des Arbeitens, d. h. als Berufsform. Und genau diese »Berufsform von Arbeiten in ihren vielfältigen Aspekten ist der Gegenstand der ›Berufssoziologie‹« (Daheim 2001, 22).

Geschichte des Berufsbegriffs

Die Geschichte des Berufsbegriffs hat ihren Ursprung in der Theologie. Gemeinhin gilt Martin Luther mit seiner Übersetzung des griechischen Wortes für Arbeit als Wegbereiter der reformatorischen Lehre vom Beruf – es geht jetzt um die Berufung zur Arbeit, die das alte Verständnis der Arbeit als Buße ergänzt. In enger Beziehung zur besonderen Form der Ehre fungiert der Beruf im Weiteren in der geburtsständischen Gesellschaft für lange Zeit als ein zugeschriebener sozialer Status. Und erst unter den rationalistischen Einflüssen der Aufklärung im 18. Jh. ist die Berufsidee dann zunehmend säkularisiert worden. In der Vorstellung des deutschen Idealismus erfolgt die Berufung zu einem Beruf nicht mehr durch Gott, sondern determiniert sich durch Eignung und Neigung des Menschen, womit gleichsam ein Weg der sozialen Positionierung von Herkunft zum Aufstieg über den Beruf auf Grund von Anlage, Talent und Begabung durch freie Berufswahl eingeleitet wurde.

 

Die hier nur in aller Kürze angedeutete Geschichte des Übergangs von einem religiösen zu einem weltlichen Berufsbegriff nachgezeichnet zu haben, ist zunächst einmal das Verdienst des Soziologen Max Weber, der damit zudem das Berufsthema an theoretisch zentraler Stelle der neuen Disziplin Soziologie in Deutschland positioniert hat. In seiner Protestantismusstudie etwa fragt Weber nach den aus der modernen Berufsethik resultierenden Folgen für die kapitalistische Ökonomie und bestimmt das Berufsmenschentum und dessen Ausformungen als Fach- und Geschäftsmenschentum als grundlegendes Erklärungsmuster für den modernen Kapitalismus. Und in seiner Herrschaftssoziologie bestimmt er darüber hinausgehend auf der Grundlage des Fachmenschentums die Legitimation über Kompetenzen gleichsam als das Merkmal der modernen Gesellschaft – welche die Legitimation über Herkunft früherer Gesellschaftsformationen ersetzt – und versucht auf dieser Grundlage den modernen Staat, das Berufsbeamtentum und die bürokratische Organisationsform zu bestimmen.

[53]Berufssoziologie als Disziplin

Damit hat die Soziologie schon in ihrer Begründungsphase der Theorie und Geschichte des Berufs große Aufmerksamkeit gewidmet. Insbesondere in den Arbeiten von Max Weber und Émile Durkheim, die sicherlich noch nicht als Berufssoziologen bezeichnet werden können, finden sich bereits grundlegende, einen Anfang markierende Überlegungen zu einer Soziologie des Berufs. So hat etwa Durkheim (1996, 41 ff.) die Berufsgruppe als Vermittlungsglied zwischen den Individuen und der Gesellschaft herausgestellt, und Weber (1985, 80) hat mit seiner Bestimmung des Berufs als »jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person (…), welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist« sozusagen das Zeitalter der modernen Berufskonzeption eingeleitet.

Im Weiteren ist dann insbesondere die Bedeutung von Talcott Parsons herauszustellen. Dieser war zwar wie Durkheim und Weber kein Berufssoziologe im engeren Sinne, hat aber gleichwohl mit der umfangreichen Thematisierung des Berufs- und Professionenkomplexes in seinem Werk für viele Jahre die berufssoziologischen Diskussionen bestimmt. Parsons verbindet dabei die Analysen von Durkheim zur beruflichen Rollendifferenzierung und von Weber zur Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und arbeitet die Berufsrollen als Bestandteil der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme heraus. Diese Systeme sind auf eine fortschreitende Ausdifferenzierung von bestimmten Leistungen angewiesen, sie etablieren dazu passende berufliche Positionen, die sie sozialen Akteuren zuweisen, damit diese ihrer beruflichen Rolle erwartungsgemäß spezialisierte Leistungen erbringen.

Als eigenständiges Fach kann sich die Berufssoziologie erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren; es kommen erste lehrbuchartige Monographien auf den Markt, die das Wissen der Disziplin systematisieren. In den folgenden Jahren werden dann verstärkt Monographien und Sammelbände zur Berufsproblematik mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen publiziert. In der Berufssoziologie geht es dann anders als etwa in der Berufspädagogik zum einen um die Ausarbeitung von nicht auf den Bildungsaspekt beschränkten Berufstheorien, die sowohl die Bedeutung der beruflichen Arbeit für Personen als auch die gesellschaftliche Funktion des Berufs untersuchen (s. etwa Beck et al. 1980). Und zum anderen geht es um empirische und theoretische Berufsanalysen, die sich nicht nur auf die Tätigkeiten auf der Ebene der Facharbeiter und Fachangestellten beschränken, die zumeist im dualen System ausgebildet werden, sondern auch noch den Bereich der hochqualifizierten akademischen Berufe wie Professionen und Wissensarbeit, aber auch solche neuen Arbeitsformen wie die des Arbeitskraftunternehmers (Voß, Pongratz 1998) einbeziehen.

Gleichwohl wird in der Soziologie auch dem Berufsbildungsthema wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, was man insbesondere im Rahmen der Diskussionen um die moderne Wissensgesellschaft beobachten kann. Soziologisch sind an dem Thema Berufsbildung insbesondere zwei Themenkomplexe interessant, die jeweils Verknüpfungen zu anderen soziologischen Teildisziplinen erfordern. In Verbindung mit der Organisationssoziologie kann etwa untersucht werden, in welcher Art und Weise betriebliche Organisationen die im Beruf enthaltenen Kompetenzbündel zur Steigerung ihres Betriebskapitals nutzen. In den aktuellen Debatten über lernende und wissende Organisationen wird z. B. danach gefragt, wie das individuelle in den Köpfen der Mitarbeiter ›versteckte‹ Wissen in das kollektive Wissen der Organisationen inkorporiert werden kann. Und in Verbindung mit der soziologischen Ungleichheitsforschung wird nach der Bedeutung gefragt, die dem beruflichen Wissen im Ungleichheitsgefüge der modernen Gesellschaft zukommt.

Obwohl also dem Berufsthema immer noch eine große Bedeutung zugeschrieben werden muss, mag es überraschen, dass es – zumindest in Deutschland – die Berufssoziologie als eigenständige Teildisziplin der Soziologie eigentlich gar nicht mehr gibt. So beheimatet etwa die Deutsche Gesellschaft für Soziologie keine Sektion Berufssoziologie mehr, wohl aber die Sektionen Arbeits- und Industriesoziologie, Organisationssoziologie, Professionssoziologie sowie Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, die sich sozusagen das Berufsthema teilen. Exemplarisch seien hier nun zwei Aspekte des Berufsthemas, die Ungleichheitsdebatte und der Bereich der hochqualifizierten Berufe, angesprochen.

[54]Beruf und soziale Ungleichheit

Im Rahmen von Klassen- und Schicht-Konzepten war die Ungleichheitsforschung bis in die siebziger Jahre hinein weitgehend berufszentriert, der Beruf wurde als der zentrale Bestimmungsfaktor sozialer Ungleichheit und als der beste einzelne Indikator der Sozialstruktur einer Gesellschaft (Blau/Duncan 1967) interpretiert. Dabei wird die Existenz und Struktur sozialer Ungleichheit im Wesentlichen durch ökonomische Ursachen erklärt. Obwohl seit den siebziger Jahren in zunehmenden Maße andere Ungleichheiten ins Bewusstsein gerückt sind, konnte man den Beruf noch viele Jahre lang (in Abkehr von Herkunft) als ein zentrales Medium der sozialen Differenzierung in der modernen Gesellschaft bestimmen. In der gegenwärtigen Soziologie wird jedoch mehr und mehr davon ausgegangen, dass dem Beruf diese Zentralstellung nicht mehr zugeschrieben werden kann.

Die ehemals herausragende Bedeutung des Berufs ist vor allem in Zusammenhang mit konstatierten Entschichtungstendenzen der Gesellschaft in Frage gestellt worden. Neben der vertikalen Ungleichheit entlang der Berufshierarchie richtet sich das Augenmerk nun verstärkt auf horizontale Ungleichheiten wie Geschlecht, Kohorte, Region, Alter, Nation etc. Dieser Perspektive folgend sind die subjektiven Lebensweisen der Menschen nicht mehr im Wesentlichen Konsequenzen des Berufs; dieser ist nur noch eines unter vielen ungleichheitsrelevanten Kriterien in modernen hoch individualisierten Gesellschaften. Allerdings ist das nicht unbestritten, so wird dagegen argumentiert, dass – besonders durch die Verschiebung und Entwertung anderer sinnintegrierender Instanzen und Beziehungen wie Religion, Ehe und Familie bedingt – der Beruf eine zunehmend identitätsrelevante Bedeutung erhält. Auch wird ins Feld geführt, dass soziale Ungleichheiten und Lebenschancen in erheblichem Ausmaß von traditionellen Schichtkriterien wie Berufsposition und Bildungsniveau abhängen.