Wörterbuch der Soziologie

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1) Gegenstand: Im Prinzip gibt es bei der Wahl des Evaluationsgegenstands kaum Einschränkungen. Objekte der Bewertung können Gesetze, Produkte, Dienstleistungen, Organisationen, Personen, Prozesse sowie soziale Tatbestände jedweder Art oder gar Evaluationen selbst sein. Häufige Evaluationsgegenstände sind allerdings Reformmaßnahmen, Projekte, Programme oder Policies.

2) Funktionen: Evaluationen können folgenden vier unterschiedlichen, aber miteinander verknüpften Funktionen dienen: (a) Der Gewinnung von Erkenntnissen, um die Prozessabläufe oder die Wirkungszusammenhänge in einem Programm zu verstehen. (b) Um Kontrolle auszuüben, indem festgestellt wird, ob die in der Planung festgelegten Ziele erreicht wurden. (c) Um Lernpotenziale zu eröffnen, die für die Weiterentwicklung von Programmen genutzt werden sollen. (d) Um Programme zu legitimieren, indem öffentlich belegt wird, wie nützlich, wirksam oder nachhaltig sie waren.

Da Evaluationen mittlerweile als Ausdruck mo derner, »evidence based policy« gelten, werden[110] Evaluationen mitunter auch missbraucht, indem sie dazu verwendet werden, politisch bereits getroffene Entscheidungen nachträglich mit Hilfe von Evaluationsergebnissen zu legitimieren. Diese »taktische« Funktion von Evaluation lässt sich jedoch nicht mit ihrem eigentlichen Zweck begründen, sondern stellt eher ihre pathologische Seite dar.

Die Festlegung auf eine prioritäre Funktion steu ert die Herangehensweise und bestimmt das Design und die Durchführung von Evaluationen. Diese können nicht nur verschiedene Funktionen erfüllen, sondern im Rahmen der einzelnen Phasen der Programmentwicklung auch unterschiedliche Analyseperspektiven und Erkenntnisinteressen verfolgen. Evaluationen können dazu genutzt werden, (a) die Planung eines Programms oder einer Maßnahme zu verbessern (ex-ante Evaluation), (b) die Durchführungsprozesse zu beobachten (ongoing Evaluation) oder (c) die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Interventionen ex-post zu bestimmen (ex-post Evaluation).

Evaluationen können demnach mehr formativ, d. h. aktiv-gestaltend, prozessorientiert, konstruktiv und kommunikationsfördernd angelegt sein, oder mehr summativ, d. h. zusammenfassend, bilanzierend und ergebnisorientiert.

Die Begleitforschung kann als eine besondere Form der Evaluation gelten, die sich ex-ante mit den Voraussetzungen bzw. der Planung oder (ongoing) mit der Implementation von Programmen beschäftigt. Anders als die meisten Evaluationen wird sie nicht nur punktuell, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Programmverlauf eingesetzt, sondern kontinuierlich – programmbegleitend. Dadurch können Längsschnittdaten gewonnen werden, die nicht nur kontinuierlich über Veränderungsprozesse informieren, sondern auch Ursache-Wirkungszuschreibungen erleichtern.

Eine besonders wichtige Form der Evaluation stellt die Wirkungsevaluation dar, die zum einen darauf abzielt, (idealerweise) möglichst alle beabsichtigten (intendierten) und nicht-intendierten Wirkungen zu erfassen und die zum anderen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit feststellen soll, welche Ursachen (die Programminterventionen oder andere Faktoren) dafür verantwortlich sind. Diese Aufgabe stellt eine der größten Herausforderungen einer Evaluation dar. Dies liegt vor allem daran, dass die soziale Welt einen hohen Komplexitätsgrad aufweist, d. h. die meisten sozialen Phänomene auf vielen Ursachen basieren. Interventionen haben zudem in der Regel nur einen geringen Eingriffsspielraum und ein niedriges Veränderungspotenzial. Oft sind die Programm- oder Leistungswirkungen nur schwach ausgeprägt, und es besteht selbst bei professionellem Einsatz von Auswertungsverfahren die Gefahr, dass sie im allgemeinen ›Rauschen‹ gar nicht erkannt werden.

3) Kriterien: Im Unterschied zu Normenreihen (wie ISO, oder EFQM) kann Evaluation nicht auf einen fixierten Kanon von Bewertungskriterien zurückgreifen. Sehr häufig orientieren sich die Bewertungskriterien allerdings am Nutzen eines Gegenstands, Sachverhalts oder Entwicklungsprozesses für bestimmte Personen oder Gruppen. Die Festlegung der Kriterien kann durch den Auftraggeber (direktiv), durch den Evaluator (wissens-/erfahrungsbasiert) oder durch alle Stakeholder (partizipativ) erfolgen, um möglichst viele Perspektiven zu berücksichtigen.

4) Evaluierende Akteure: Evaluationen können prinzipiell von internen oder externen Experten durchgeführt werden. Als intern werden Evaluationen bezeichnet, wenn sie von der gleichen Organisation vorgenommen werden, die auch das Programm oder das Projekt durchführt. Wird diese interne Evaluation von Mitarbeitern der Abteilung (dem Referat) durchgeführt, die gleichzeitig mit der operativen Durchführung des Programms betraut sind, dann wird von ›Selbstevaluation‹ gesprochen.

»In-house«- Evaluationen haben den Vorteil, dass sie rasch und mit geringem Aufwand durchgeführt werden können, dass die Evaluatoren in der Regel über eine hohe Sachkenntnis verfügen und dass die Ergebnisse sich unmittelbar umsetzen lassen. Schwächen der internen Evaluation werden vor allem darin gesehen, dass die Evaluierenden zumeist nicht über eine ausreichende Methodenkompetenz verfügen, dass es ihnen an Unabhängigkeit und Distanz mangelt und dass sie möglicherweise so sehr mit ihrem Programm verhaftet sind, dass sie aussichtsreichere Alternativen nicht erkennen.

Externe Evaluationen werden von Personen durchgeführt, die nicht dem Fördermittelgeber oder der Durchführungsorganisation angehören. In der Regel weisen externe Evaluatoren deshalb[111] eine größere Unabhängigkeit, eine profunde Methodenkompetenz und professionelles Evaluationswissen auf und kennen das Fachgebiet, in dem das Programm bzw. das Projekt angesiedelt ist. Zudem können externe Evaluationen reformerischen Kräften innerhalb einer Organisation zusätzliche Legitimität und Einflussstärke verleihen, die sie benötigen, um Veränderungsprozesse in Gang zu setzen.

5) Methodische Ansätze: Grundlegend für die Frage, wie evaluiert wird, ist die Wahl des Forschungsparadigmas. Grob kann zwischen zwei Hauptrichtungen unterschieden werden. Die einen betrachten Evaluation als ein empirisch-wissenschaftliches Verfahren, das der kritisch-rationalen Forschungslogik folgt und prinzipiell alle bekannten empirischen Forschungsmethoden für einsetzbar hält. Evaluation ist somit als angewandte Sozialforschung zu verstehen, die besondere Forschungsbedingungen zu berücksichtigen und ein spezifisches Erkenntnis- und Verwertungsinteresse hat, bei dem der Nutzen der Evaluationsergebnisse für die ›Praxis‹ im Vordergrund steht. Die zweite Hauptrichtung verbindet mit Evaluation einen anderen Anspruch und geht von anderen Voraussetzungen aus. Das Vorhandensein einer real existierenden Welt, die prinzipiell erkannt und »objektiv« mit Hilfe empirisch-wissenschaftlicher Verfahren erfasst werden kann, auch wenn diese Instrumente unvollständig und teilweise fehlerhaft sein können, wird bestritten. Stattdessen wird angenommen, dass »Realität« aus verschiedenen Perspektiven sozial konstruiert ist, die in Konflikten zueinander stehen können. Deshalb fordern die Anhänger dieses Ansatzes ein ›qualitatives‹ Denken, um die verschiedenen Sichtweisen und Interpretationen der ›Realität‹ erfassen zu können. Je nach wissenschaftstheoretischer Ausrichtung werden unterschiedliche Designs und Verfahren angewendet. In der Evaluationspraxis wird häufig ein sogenannter Methodenmix angewendet, der aus qualitativen und quantitativen Verfahren besteht. Dadurch sollen die Schwächen einzelner Ansätze durch die Stärken anderer ergänzt werden.

Literatur

Fitzpatrick, Jody L. et al., 2004: Program Evaluation. Alternative Approaches and Practical Guidelines, 3. Aufl., Boston u. a. – Rossi, Peter H. et al., 2004: Evaluation. A systematic Approach, Thousand Oaks u. a. – Shaw, Ian F. et al. (Hg.), 2006: The SAGE Handbook of Evaluation, Thousand Oaks u. a. – Stockmann, Reinhard, 2006: Evaluation und Qualitätsentwicklung, Münster. – Ders. (Hg.), 2007: Handbuch zur Evaluation, Münster. – Ders.; Meyer Wolfgang, 2010: Evaluation. Eine Einführung, Opladen/Farmington Hills.

Reinhard Stockmann

Evolutionstheorie

(engl. evolution theory)

Zur Evolution des Evolutionsbegriffes

Wenn man erklären will, wie etwas entstanden ist, brauchen wir eine Theorie, die diese Genese erklärt. Solche Entstehungsgeschichten gehören zum universalen Erklärungsrepertoire des Menschen. Meist handelt es sich dabei um die Erzählung einmaliger Ereignisse, die mit einem oft religiös begründeten Schöpfungsakt einhergehen und eine zeitlose, statische Welt zum Ergebnis haben. Bemerkenswerterweise sind hingegen evolutionäre Ideen, also Gedanken über langfristige, kontinuierliche und graduelle Prozesse der Veränderung oder Entwicklung erst recht spät in der Wissenschaftsgeschichte entstanden. Vorsokratikern wie Thales und Anaximander wurde zwischenzeitlich der Verdienst zugeschrieben, erste evolutionäre Ideen wie die der naturalistischen Erklärung des Lebens, der Anpassung und der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen formuliert zu haben (Osborn 1894). Aus biophilosophischer Sicht können all diese Ansätze jedoch nicht als Vorläufer eines Evolutionskonzeptes angesehen werden, da ihnen noch ein Selektionsmechanismus und die geschichtliche Idee des immerwährenden Wandels fehlt (Mayr 1984). Eine geschichtliche Dimension der Evolution kam erst mit dem in der Aufklärung aufkeimenden Fortschrittsglauben hinzu. Die historische Dimension wurde auch von H. Spencer (1862) aufgegriffen. Dessen Idee des »survival of the fittest« und seine teleologische Missinterpretation des evolutionären Geschehens als zielgerichtete Vervollkommnung hin zu einem idealen Endzustand sind jedoch irreführend, wurden allerdings unter dem Begriff des Sozialdarwinismus gefasst und in den Sozialwissenschaften teilweise bis zum heutigen Tage fälschlicherweise Darwin zugeschrieben. Als echter Vorläufer,[112] der als Erster eine konsequente Theorie evolutionären Wandels formulierte, kann Lamarck (1809) gelten, allerdings erlag er dem Irrtum, den evolutiven Mechanismus in der Vererbung erworbener Eigenschaften zu suchen. Praktisch alle soziologischen Evolutionstheorien zeigen eine gewisse Affinität zu diesem Konzept der intergenerationalen Weitergabe erlernter Eigenschaften. Dies zeigt sich am prägnantesten darin, der biogenetischen Weitergabe von Information einen tradigenetischen Transmissionmodus gegenüberzustellen und neben der biologischen eine soziokulturelle Evolution zu postulieren (dual inheritance theory; Boyd/Richerson 1985, 2005). Diese dualistische Sicht führte zu unterschiedlichen Auffassungen über deren Beziehung, deren einer Pol für die völlige Unabhängigkeit oder gar Emanzipation der soziokulturellen Evolution steht, bei der die soziokulturelle der biologischen Evolution gewissermaßen enteilt ist und bei dessen Gegenpol die biogenetische Evolution in einer Art Basis-Überbau-Beziehung das Primat über die soziokulturelle Evolution hat. Der aktuell interdisziplinär favorisierte Ansatz scheint jedoch eher darin zu bestehen, von zwei parallel verlaufenden Evolutionsprozessen auszugehen, die koevolvieren und über epigenetische Regeln miteinander verbunden sind. Dieser Ansatz, bei dem der Organismus sich in gewisser Weise seine Umgebung selbst definiert, geht auf das ökologische Konzept der »niche construction« zurück (Odling-Smee et al. 2003; Dawkins 1982; zur Grundidee bereits Darwin 1881).

 

Eine Art, den Unterschied zwischen biogenetischer und tradigenetischer Transmission von Information (Boyd/Richerson 1985, 2005) zu verdeutlichen, liegt in der Kontrastierung zum individuellem Lernen: Während Letzteres schnelle Anpassungen erlaubt, indem es eine unmittelbare, aktualgenetische Adaptation auf veränderte Bedingungen ermöglicht und genetische Veränderungen (genetisches »Lernen«, Dennett 1995) mit etwa 100 Generationen langsam vonstatten gehen, gelingen Anpassungen an soziokulturelle Veränderungen in der Regel innerhalb einer Generation (Berry et al. 2011). Werden diese unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten typologisiert, indem man ihnen unterschiedliche Transmissionseinheiten zuordnet, erfolgt eine unzulässige Reifikation des prozeduralen Geschehens, da kein Unterschied in dem, was letztlich übermittelt wird, vorliegt: Das zugrunde liegende Substrat, das letzlich Informationen übermittelt, ist sowohl beim bio- und tradigenetischen »Lernen« als auch beim individuellen Lernen nur das Gen. Dementsprechend ist eine befriedigende Definition, geschwiege denn Identifikation exogenetischer Transmissionseinheiten trotz intensiver interdisziplinärer Debatte seit dem Dawkinschen Mem-Postulat (1976) immer noch nicht gefunden (Aunger 2007). Die Debatte über den Platzhalter-Status des Mems erinnert hier stark an den von »Kultur« in der kulturvergleichenden Psychologie (Chasiotis 2007, 2011b).

Die Evolutionstheorie der natürlichen Selektion

Darwins (1844 bzw. Wallace 1858) Evolutionstheorie stellt genaugenommen eine Integration mehrerer untergeordneter Theorien mit geringerem Geltungsbereich dar, mit der Theorie der natürlichen Selektion als ihrem charakteristischen Bestandteil (neben Phylogenese, Speziation, gemeinsamer Abstammung und Gradualismus, Mayr 1984). Die drei zentralen Annahmen der modernen Evolutionstheorie sind Reproduktion, Vielfalt und Selektion (Campbell 1970; Dennett 1995). Darwin ging bei der Formulierung seiner Evolutionstheorie davon aus, dass der formgebende Mechanismus im Evolutionsgeschehen die natürliche Selektion sei, welche die einzelnen, genetisch einzigartigen Varianten (Individuen) danach ausliest, wie erfolgreich sie sich fortpflanzen. Diese Schlussfolgerung basierte auf der Beobachtung, dass innerhalb einer Art eine individuelle Vielfalt der Erbeigenschaften besteht. Wenn einige Eigenschaften eher zur Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit beitragen, breiten sich diese erblichen Eigenschaften in der Population aus, so dass sich im Laufe der Zeit die Verteilung der erblichen Merkmale in der Population einer Art verändern. Diesen Prozess nannte er natürliche Selektion durch differentielle Reproduktion. Die biologische Evolution erfolgt zufällig oder durch Neukombination entstehende, geringfügige und meistens unauffällige genetische Änderungen (Mutation, Gen-Drift, Migration) an der Genmenge eines Individuums bzw. der Gesamtpopulation. Durch diese Selektion ist die Evolution nicht – wie noch bis Mitte der 1960er Jahre angenommen – ein arterhaltender, sondern ein artenschaffender Prozess. Kriterium dieser in der Regel individuellen Selektion ist die Güte der Anpassung neuer Merkmalsausprägungen an die Umweltbedingungen, d. h. an die ökologische Nische und beim Menschen in besonderer [113]Weise an die soziale Komplexität der Umwelt. Da neue, durch zufällige genetische Änderungen auftretende Eigenschaften eines Lebewesens in der Regel keine Vorhandenen ersetzen, sondern den bestehenden hinzugefügt werden, zeichnet sich der Mensch wie alle anderen Lebewesen durch eine »geschichtliche Natur«, d. h. durch in seiner stammesgeschichtlichen Vergangenheit erworbene genetische Programme aus, die unsere gegenwärtigen phänotypischen Eigenschaften bestimmen (Mayr 1984, 2000). Tinbergen (1963) hat vorgeschlagen, zwischen phylogenetischen (ultimat-funktionalen), ontogenetischen (distalen) und aktualgenetischen (proximaten) Fragen zu unterscheiden. Die Differenzierung von Fragen nach den unmittelbaren Ursachen (»Wie kommt dieses augenblickliche Verhalten zustande?«) und solchen nach den stammesgeschichtlichen Ursachen (»Welche stammesgeschichtliche Anpassung erfüllt dieses Verhalten?«; zur Unterscheidung Mayr 1984, 2000) wurde zum zentralen Charakteristikum moderner evolutionärer Ansätze. Die Einbeziehung der Funktionslogik des Entstehens bietet eine völlig neue Perspektive auch für soziologische Fragestellungen (Berry et al. 2011; Brown et al. 2011). So gelang Lamba und Mace (2011) in einer neueren Untersuchung, in der sie intrakulturelle Varianz mitberücksichtigten, der Nachweis, dass Kooperationsverhalten eher von demographischen und ökologischen Faktoren abhängt als von kulturellen Normen. Sie interpretieren diesen Befund explizit als empirisches Gegenargument zu gruppenselektionistischen Annahmen zur Evolution von Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene.

Evolutionstheorien in der Soziologie

Die Evolutionstheorien in der Soziologie, die sich über Weber bis hin zur Theorie des sozialen Wandels in den 1960er Jahren erstrecken, gehen zumeist auf H. Spencer zurück und beinhalten dementsprechend mehr oder weniger explizit die Untersuchung von Selektionsmechanismen und einen gerichteten Fortschrittsgedanken. Problematisch ist neben dem Postulat einer Fortschritts- oder Steigerungsdynamik des sozialen Wandels die fehlende Anbindung an das individuelle Verhalten (Schmid 1998). Als ein Gegenentwurf können funktionalistische Theorien angesehen werden, deren Abwehr gegen den teleologischen Historizismus der Spencerschule darin bestand, Nützlichkeitserwägungen zur Erklärung sozialer Strukturen heranzuziehen. Beispiele dieses Funktionalismus sind vor allem die Theorien von Durkheim (z. B. zur sozialen Funktion der Religion, 1915), Parsons (1977) und in neuerer Zeit Luhmann (1984, 1997). Problematisch daran ist, aristotelisch gesprochen, Zweckursachen heranzuziehen, wo Wirkursachen gefragt sind: der Funktionalismus erklärt, warum eine soziale Institution ein Problem löst, kann aber nicht erklären, wie diese Institution entstanden ist. Ein weiteres Problem, das der Funktionalismus mit dem Strukturalismus teilt, ist seine Zeitlosigkeit. In gewisser Weise das Kind mit dem Bade ausschüttend, wurde der zielgerichtete Zeitpfeil nicht durch weniger teleologische Entwicklungsmodelle, sondern durch eine Wiederkehr des Immergleichen ersetzt, die am ehesten der aristotelischen Formursache entspricht (Bischof 1985, 2008). Das Hauptproblem in der Rezeption des Evolutionskonzepts in der Soziologie sind seine Gleichsetzung bzw. fehlende Abgrenzung von a) Entwicklung durch die Konfundierung von Phylo- und Ontogenese (Parsons 1977; s. auch das Autopoiese-Konzept von Luhmann 1983) und von b) Geschichte und somit von schlichtem historischen Wandel (Schmid 1998; Wortmann 2010). Diese fehlende Differenzierung zeigt sich auch bei der Beschreibung externer Einflussgrößen auf das Sozialverhalten; eine adäquate Umwelttheorie, die etwa Adaptationsleistungen auf der phylogenetischen (Selektion), ontogenetischen (Alimentation) und aktualgenetischen Ebene (Stimulation) zu unterscheiden vermag (Bischof 2008; Chasiotis 2010), ist schlichtweg nicht vorhanden.

Als Fazit ist Wortmanns Diktum (2010) somit zuzustimmen, dass es sich bei der Evolutionstheorie des Sozialen immer noch nur um ein, wenn auch vielversprechendes, Desideratum handelt. Laut Mayr (1984, 2003) bestand bis zum Beginn des 21. Jh.s das größte Hindernis auf dem Weg zu einer hinreichenden Wissenschaftsphilosophie darin, den Unterschied zwischen einer physikalistischen und biologischen Auffassung von Evolution nicht herausgearbeitet zu haben. So wäre der Versuch einer essentiellen Typologie menschlicher Gesellschaften laut Mayr (1984, 2003) physikalistisch. Diese auf Pythagoras und Platon zurückgehende Denkweise, deren ungünstige Einflüsse auf die abendländische Philosophie (Mayr 1991), vor allem auf die biologische (Mayr 1984), aber auch auf die psychologische Gedankenwelt (Bischof 2008) noch nicht gänzlich überwunden sind, geht davon aus, dass es in der[114] Wissenschaft darum geht, den zugrunde liegenden unveränderlichen »Typus«, die »Idee« oder »Essenz« eines veränderlichen Phänomens zu identifizieren (Chasiotis 2010, 2011b). Evolutionistische Theorien in der Soziologie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in typisch essentialistisch-physikalistischer Weise entweder alle Individuen als identisch, austauschbar und somit ignorierbar ansehen oder keine befriedigende Verhaltenstheorie für Individuen aufweisen (Wortmann 2010). Was Darwin jedoch im Wirken der artenschaffenden Evolution erkannt hat, ist das »Populationsdenken«, d. h. die Art nicht als zu erhaltenden Typus, sondern als variable Population zu betrachten. Damit postulierte er, die historisierte Einzigartigkeit der Individuen als Grundlage der Wissenschaft des Lebens zu betrachten. Dies ist ein Vermächtnis, dessen Implikationen immer noch erst in Ansätzen eingelöst worden sind.

Literatur

Aunger Robert, 2007: Memes; in: Dunbar, Robin; Barrett, Louise (eds.): Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, Oxford, UK, 599–604. – Berry, John W. et al., 2011: Cross-cultural psychology. Research and applications, 3rd ed., Cambridge, UK. – Bischof, Norbert, 1985: Das Rätsel Ödipus, München. – Ders., 2008: Psychologie, München. – Boyd, Robert; Richerson, Peter J., 1985: Culture and the evolutionary process, Chicago. – Dies., 2005: The origin and evolution of cultures, New York. – Brown, Gillian et al., 2011: Evolutionary accounts of human behavioral diversity. Philosophical Transactions of the Royal Society B, 366, 313–324. – Campbell, Donald, 1970: Natural Selection as an epistemological model; in: Naroll, Raoul; Cohen, Ronald (eds.), A handbook of method in cultural anthropology, NY, 51–85. – Chasiotis, Athanasios, 2007: Evolutionstheoretische Ansätze im Kulturvergleich; in: Trommsdorff, Gisela; Kornadt, Hans-Joachim (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie, Band I, Göttingen, 179–219. – Ders., 2010: Developmental Psychology without dualistic illusions; in: Frey, Ulrich J. et al. (eds.): Homo novus – A human without illusions, Berlin, 147–160. – Ders., 2011a: Evolution and culture. Online Readings in Psychology and Culture, Unit 9. Retrieved from http://scholarworks.gvsu.edu/orpc/vol9/iss1/1, 1–15. – Ders., 2011b: An epigenetic view on culture. What evolutionary developmental psychology has to offer for cross-cultural psychology; in: van de Vijver, Fons J. R. et al. (eds.): Fundamental questions in Cross-Cultural Psychology, Cambridge, 376–404. – Darwin, Charles, 1844: Essay. The foundations of the origin of species by Charles Darwin, Cambridge, UK (zuerst veröffentlicht von F. Darwin, 1909). – Ders., 1881: The formation of vegetable mould through the action of worms, with observations on their habits, London. – Dawkins, Richard, 1976: The selfish gene, Oxford, UK. – Ders., 1982: The extended phenotype, Oxford, UK. – Durkheim, Emile, 1915: The elementary forms of religious life, London. – Mayr, Ernst, 1984: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Berlin. – Ders., 2003: Das ist Evolution, München. – Lamarck, Jean-Baptiste, 1909: Zoologische Philosophie, Leipzig (1809). – Lamba, Shakti; Mace, Ruth, 2011: Demography and ecology drive variation in cooperation across human populations. Proceedings of the National Academy of Science, Early edition. Doi: 10..1073/pnas.1105186108. – Luhmann, Niklas, 1983: Evolution – kein Menschenbild; in: Riedl, Rupert; Kreuzer, Franz (Hg.), Evolution und Menschenbild, Hamburg, 193–205. – Ders., 1984: Soziale Systeme, Frankfurt a. M. – Ders., 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. – Odling-Smee, F. John et al., 2003: Niche construction: The neglected process in evolution, Princeton. – Osborn, Henry F., 1894: From the Greeks to Darwin, NY. – Parsons, Talcott, 1977: Social systems and the evolution of action theory, NY. – Schmid, Michael, 1998: Soziologische Evolutionstheorien; in: Preyer, Gerhard (Hg.), Strukturelle Evolution und das Weltsystem, Frankfurt a. M., 387–411. – Spencer, Herbert, 1862: First principles, London. – Tinbergen, Nikolaas, 1963: On aims and methods of ethology; in: Zeitschrift für Tierpsychologie 20, 410–433. – Wallace, Alfred, 1958: On the tendency of varieties to depart indefinitely from the original type; in: Journal of the Proceedings of the Linnean Society (Zoology) 3, 53–62. – Wortmann, Hendrik, 2010: Zum Desiderat einer Evolutionstheorie des Sozialen, Konstanz.

 

Athanasios Chasiotis

Experiment

Das Experiment (lateinisch: experimentum für »Versuch«, »Probe«; engl. experiment) ist eine methodisch kontrollierte Vorgehensweise, die in allen empirischen Wissenschaftsdisziplinen eingesetzt wird, um aus Theorien abgeleitete Kausalhypothesen (»T bewirkt Y«) zu überprüfen. In einem Experiment liegt eine Situation vor, in der die unabhängige Variable (T), also die vermutete Ursache eines Phänomens, systematisch variiert wird und Veränderungen der abhängigen Variablen (Y) gemessen werden. Zu einem idealen experimentellen Versuchsaufbau gehören im einfachsten Fall drei Elemente: die Aufteilung in eine Experimental- (oder engl. Treatment-) Gruppe und eine Kontrollgruppe, die zufällige Aufteilung der Versuchsobjekte des Experiments auf diese beide Gruppen (sog. Randomisierung) und das[115] kontrollierte Setzen des Treatments, also die Manipulation durch die Versuchsleiter. Ronald A. Fisher (1935) hat in seiner Abhandlung »The Design of Experiments« die wesentliche Grundlage für die statistische Behandlung von experimentell erhobenen Daten geschaffen. Wenn die genannten drei Voraussetzungen erfüllt sind, können, je nach Anzahl der Versuche bzw. Versuchspersonen, durch die Wahrscheinlichkeitstheorie abgesicherte Schlüsse gezogen werden.

Experimentelle Designs

Experimentelle Studien werden vor allem in den Naturwissenschaften, sehr häufig in der Psychologie und seltener in den empirischen Sozialwissenschaften eingesetzt. In den letzten Jahren hat sich das Experiment jedoch in der verhaltenswissenschaftlichen Ökonomik (behaviorial economics) als Methodik zur Datengenerierung verbreitet (Fehr/Gintis 2007). In der Soziologie werden experimentelle Designs vergleichsweise selten verwendet. Ein von Soziologen durchgeführtes Experiment stellt zum Beispiel die Studie von M. Salganik, P. Dodd und D. Watts (2006) dar, in der Ungleichheit und die Prognostizierbarkeit von Erfolg auf Märkten für kulturelle Güter untersucht wurden. Die Teilnehmer dieses Experiments sollten Musikdownloads unbekannter Bands bewerten, entweder mit (Treatmentgruppe) oder ohne Information (Kontrollgruppe) über die Bewertungen anderer. Ein wichtiges Ergebnis des Experiments war, dass vorhandene Information über Präferenzen anderer die Ungleichheit des Erfolgs deutlich erhöht. Der Vorzug eines methodisch kontrollierten Experiments gegenüber anderen Wegen, Daten zur Prüfung von Zusammenhängen zu erheben, liegt darin, die schwierige Aufgabe kausalen Schließens in idealtypischer Weise zu lösen. Voraussetzung ist allerdings, dass alle drei aufgeführten Elemente eines Experiments eingesetzt werden. Gegeben, dass die Randomisierung auf die Treatment- und Kontrollgruppe erfolgreich war und das Treatment nur durch die Versuchsleiter manipuliert wird, geht die Variation der abhängigen Variablen (Y) nur auf das Treatment (T) zurück und ein Kausalschluss »T bewirkt Y« wird möglich. Der Unterschied von Y (etwa im Mittelwert) zwischen beiden Gruppen wird Treatmenteffekt genannt. Sind einzelne Elemente eines Experiments nicht oder nur unvollständig gegeben, dann ist ein Kausalschluss nicht mehr zulässig.

Experimentelle Versuchspläne können auch wesentlich komplexer ausfallen. So ist es oft von Interesse, durch Vergleiche von Vorher- und Nachhermessungen in Treatment- und Kontrollgruppen zeitliche Veränderungen zwischen t1 und t2 zu erfassen. Der Treatmenteffekt wird in solchen Fällen mittels der Differenz zwischen den Gruppen und den zwei Messzeitpunkten berechnet. Solche Designs sind angebracht, wenn man davon ausgeht, dass auch ohne Setzen eines Treatments messbare Veränderungen (z. B. Reifung, Lernen) stattfinden. Außerdem ist es möglich, dass man den Zweigruppenvergleich systematisch erweitert. So können mehrere Treatment-Gruppen miteinander verglichen werden, etwa wenn verschiedene Treatment-Stärken eingesetzt werden. In den berühmten Milgram-Experimenten zur Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten wurde etwa die Distanz-Nähe-Beziehung zu den vermeintlichen Opfern variiert und hinsichtlich der gezeigten Reaktionen verglichen (Milgram 1963, 1974). Außerdem ist häufig von Interesse, mehrere Bedingungen (mehrere unabhängige Variable) zugleich systematisch zu variieren und dabei jeweils mehrere Ausprägungen von Treatments zu berücksichtigen. Man spricht dann von mehrfaktoriellen Designs, wobei hier häufig sog. Moderatoreffekte erforscht werden: Je nach Ausprägung einer Drittvariable Z fällt der Zusammenhang von T und Y anders aus. Beispielhaft sind etwa Studien zum sog. Stereotype-Threat zu erwähnen. Nach der Theorie des Stereotype-Threat ist die Aktivierung eines negativen Selbstbilds, das dann nachfolgend zur Leistungsverschlechterung in Testsituationen führt, von situationalen Faktoren (z. B. der konkreten Aufgabenstellung) abhängig (Aronson et al. 1999).

Qualitätskriterien

Qualitätskriterien der mittels Experiment gewonnenen Daten sind die interne und die externe Validität (oder Gültigkeit). Von interner Validität spricht man, wenn die Randomisierung und das Setzen des Treatments durch die Versuchsleiter den Anforderungen entsprechend erfolgt. Die Zufallsaufteilung von Versuchsobjekten (in den Sozialwissenschaften: Probanden) ist deswegen elementar, weil nur so weitere, unkontrollierte Einflussfaktoren in ihrer Wirkung ausgeschaltet werden können. Man geht davon aus, dass durch die Randomisierung mögliche Störgrößen zufällig auf Treatment- und Kontrollgruppe [116]verteilt werden und sich in ihrer Wirkung aufheben. Damit dies wahrscheinlich wird, ist eine gewisse Mindestbesetzung beider Gruppen notwendig. Weiterhin kann die Setzung des Treatments misslingen oder beeinträchtigt werden. In diesem Fall ist die interne Validität nicht gegeben. Externe Validität bezieht sich auf die Verallgemeinerbarkeit des Treatmenteffekts aus der experimentellen Situation, häufig in Laboren, auf nicht-experimentelle Situationen.

Ein allgemeines Problem experimenteller Forschung ist die mögliche Reaktivität der Erhebungssituation auf die Probanden. Sie reagieren nicht nur auf das gegebene Treatment, sondern unkontrolliert auf die Randbedingungen der Durchführung des Experiments. Bekannt sind etwa Versuchsleitereffekte. Je nachdem, wer die Experimente durchführt, zeigen sich andere Resultate. Wenn Probanden oder Versuchsleiter über die Forschungshypothese Bescheid wissen oder nur meinen, Bescheid zu wissen, kann dies die Ergebnisse beeinflussen. Diesbezüglich werden Doppeltblindversuche, bei denen weder Probanden noch Versuchsleiter wissen, wer in der Treatment- und wer in der Kontrollgruppe ist, empfohlen. Außerdem sind in vielen Experimenten die Probanden eine selektierte Gruppe, oftmals handelt es sich um Studierende. Selbst wenn man diese Probanden zufällig auf Treatment- und Kontrollgruppe verteilt, sind die Ergebnisse des Experiments hinsichtlich der Generalisierbarkeit oft stark beeinträchtigt.