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Wortbildung im Deutschen

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2.3 LuxemburgischLuxemburgisch

Das Luxemburgische ist im Ursprung ein westmoselfränkischer Dialekt, der seit der Staatsgründung Luxemburgs 1839 zu einer eigenständigen Sprache ausgebaut wurde. Seit 1984 ist das Luxemburgische eine der drei Amtssprachen Luxemburgs (vgl. Gilles 1998) sowie Nationalsprache und wird in der Forschung als Ausbau-, jedoch nicht als Abstandsprache bezeichnet (Kloss 1978). Der Blick auf die PL-DIM im LuxemburgischenLuxemburgisch zeigt allerdings, dass die morphologische Entwicklung einen eigenen Weg geht und weder eine Anlehnung an das Deutsche noch an die restlichen moselfränkischen Dialekte zu beobachten ist. Auch wenn eine profunde historische Analyse dieses Prozesses aufgrund der dünnen Quellenlage im Luxemburgischen nicht möglich ist, lässt sich der Weg zumindest aus theoretischer Perspektive rekonstruieren.

Das moderne LuxemburgischLuxemburgisch verfügt über drei DiminutivDiminutiv-PluralPlural-Suffixe, die auf Grundlage phonologischer und prosodischer Besonderheiten der Basis zugewiesen werden (vgl. Tabelle 4):


BasisSG-DIM-SuffixPL-DIM-SuffixBeispiel
ein- oder mehrsilbigAuslaut /ʃ, x/häufig auch /k, ŋ, ts, ks/-elchen-elcherBich-elchen – Bich-elcher ‚Büchlein‘Stéck-elchen – Stéck-elcher ‚Stückchen‘Mitz-elchen – Mitz-elcher ‚Mützchen‘
zweisilbig, trochäischandere Auslaute-chen-cherÄppel-chen – Äppel-cher ‚Äpfelchen‘Auto-chen – Auto-cher ‚Autochen‘
einsilbig oder zweisilbig + jambischandere AuslauteBeem-ercher ‚Bäumchen‘Blied-ercher ‚Blätt(er)chen‘Blimm-ercher ‚Blümchen‘Geschicht-ercher ‚Geschichtchen‘Stéck-chenStéck-ercher ‚Stückchen‘

Tabelle 4

Pluralzuweisung bei Diminutiven im LuxemburgischenLuxemburgisch (nach Bruch 1949, 1973; Braun et al. 2005; Schanen/Zimmer 2005)

Die Allomorphe in Tabelle 4 gehen auf verschiedene Quellen zurück: Zum einen findet sich, wie in den moselfränkischen Dialekten auf deutscher Seite, das komplexe el-haltige Suffix mit identischer formaler Zuweisung (wie in Bichelchen u.a.). Daneben existiert das im MoselfränkischenMoselfränkisch geläufige einsilbige Suffix -cher für zweisilbige trochäische Lexeme (z.B. Äppelcher) und das komplexe Suffix -ercher/-erchen für einsilbige (z.B. Beemercher) oder jambische Lexeme (z.B. Geschichtercher). Die Zuweisung der Suffixe hat demnach zum Ziel, im DiminutivDiminutiv PluralPlural Daktylen zu erreichen.

Nimmt man also den Status der komplexen PluralPlural-DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch des 18. und 19. Jahrhunderts als Ausgangssituation, ist festzuhalten, dass das Luxemburgische die dort begonnene Entwicklung konsequent weiterführte. Anders als das Deutsche hat es das Suffix in sein System integriert, funktionalisiert und obligatorisiert, anstatt es wieder abzubauen. Dafür trennte sich das Suffix fast vollständig von den Zuweisungsprinzipien des er-Plurals (einsilbige oder jambische Maskulina und Neutra) und ließ sich so auf neue Basen übertragen. Die einzigen ererbten Gemeinsamkeiten mit dem er-Plural belaufen sich auf die prosodischen Beschränkungen für neue Basen: nur einsilbige oder zweisilbige jambische Basen sind mögliche Kandidaten (vgl. Tabelle 4). Die Genus-Beschränkungen des er-Plurals auf Neutra und Maskulina hat das komplexe Suffix dagegen komplett abgebaut: das Suffix ist auf jeden Stamm anwendbar, der den prosodischen Merkmalen entspricht. Damit hat das Luxemburgische im Gegensatz zum Deutschen mit den PL-DIM die Genusschranke zum Femininum hin überwunden. Während die Suffix-Zuweisung im Deutschen stilistisch markiert ist, hat das Luxemburgische nach dem Übertritt der Genusschranke klare phonologische und prosodische Zuweisungsprinzipien geschaffen.

Die Belege aus den auf den Wenkersätzen aufgebauten Fragebögen zum luxemburgischen Sprachatlas bestätigen tendenziell schon für das 19. Jahrhundert die erläuterte Allomorph-Verteilung. Beim Lexem Apfelbäumchen (N=232) muss der Regel entsprechend das zweisilbige er-haltige Suffix zugewiesen werden, da es sich beim Zweitglied des KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum um einen einsilbigen Stamm handelt (wie in Äppelbeemercher). Tatsächlich überwiegen die zweisilbigen Suffixe deutlich (92 %) und nur wenige Belege im Norden des Landes weisen das einsilbige moselfränkische Suffix -cher zu (wie in Äppelbeemcher; 8 %). Die gleiche Tendenz lässt sich auch beim Belegwort Schäfchen (N=267) beobachten. Das zweisilbige Suffix findet sich in 96 % der Fälle (wie in Scheewercher), während sich die Fälle mit einsilbigem Suffix auf die Orte in direkter Grenznähe zu Deutschland beschränken. Das Lexem Äpfelchen (N=284), bei dem aufgrund des zweisilbigen Stammes ein einsilbiges Suffix zu erwarten ist, entspricht mehrheitlich dieser Erwartung (wie in Äppelcher; 76 %). Die übrigen Lexeme mit überraschendem zweisilbigem Suffix (24 %) zeigen teilweise Synkopen in der Basis (wie in Äpplercher), womit wieder ein Daktylus erreicht wäre.

Die luxemburgische Pluralzuweisung bei Diminutiven hat sich also vollkommen von den Strategien der Nachbarvarietäten entfernt und vergrößert somit den sprachlichen Abstand zwischen dem LuxemburgischenLuxemburgisch einerseits und dem MoselfränkischenMoselfränkisch und DeutschenDeutsch andererseits. Die politische Grenze zwischen den beiden Ländern scheint sich also sukzessiv als Sprachgrenze zu etablieren.

3 Rückgang im DeutschenDeutsch und MoselfränkischenMoselfränkisch – Erfolgsmodell im LuxemburgischenLuxemburgisch

Erklärungen für den jeweiligen Misserfolg der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch und MoselfränkischenMoselfränkisch und ihren Erfolg im LuxemburgischenLuxemburgisch ergeben sich aus dem jeweiligen Sprachsystem. Obwohl alle drei Varietäten eine overte Pluralmarkierung bei Substantiven vorzuziehen scheinen, überwiegen je nach Sprache jedoch andere Prinzipien im Zusammenhang mit der idealen Pluralmarkierung. Die Gründe für den jeweiligen (Miss-)Erfolg können vielfältige Ursprünge haben, weshalb alle Möglichkeiten angesprochen werden sollen. Am wahrscheinlichsten ist es, den jeweiligen (Miss-)Erfolg als Zusammenspiel aller Argumente zu deuten.

Ein Hauptargument für das Verschwinden des PL-DIM-Suffixes im Deutschen ist die Trochäus-Präferenz bei Pluralen (vgl. u.a. Dammel/Kürschner/Nübling 2010: 601). Die ideale PluralPlural-Form im Deutschen ist demnach zweisilbig und endet möglichst auf einer Reduktionssilbe. Diesem trochäischen Output im Plural stünden die PL-DIM entgegen, da sie für einen daktylischen Output sorgen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Deutsche einen daktylischen Plural vermeidet und stattdessen zum trochäischen Nullplural zurückkehrt. Im LuxemburgischenLuxemburgisch ist der daktylische Output dagegen unproblematisch, da bei der Pluralisierung „im Luxemburgischen (…) keine prosodische Konditionierung zu erkennen [ist]“ (Dammel/Kürschner/Nübling 2010: 630). Diese Aussage muss für die PL-DIM leicht relativiert werden: Für sie scheint sich der Daktylus sogar als präferierter Rhythmus durchgesetzt zu haben, da alle Allomorphe im Normalfall einen Daktylus oder zumindest daktylusähnliche Strukturen (wie in Geschichtercher) hervorrufen.

Als weiterer Erklärungsansatz für den Rückgang im Deutschen und MoselfränkischenMoselfränkisch und den Anstieg im LuxemburgischenLuxemburgisch eignet sich auch ein Blick in die phonologisch-typologische Gestalt der Varietäten. Während das Deutsche im Laufe seiner Geschichte den Weg von einer Silben- zu einer Wortsprache begangen hat und heute stark wortsprachlich geprägt ist, hat sich das Luxemburgische als Mischsprache eingependelt.1SilbenstrukturMoselfränkischDeutschLuxemburgisch Auch die moselfränkischen Dialekte haben, ähnlich wie das Luxemburgische, sowohl Merkmale einer Silben- als auch einer Wortsprache. Die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv weisen eine deutlich bessere SilbenstrukturSilbenstruktur mit klarer CV-Struktur auf als die Diminutiv Plurale mit den einsilbigen Suffixen, da durch den vokalischen Anlaut Resilbifizierungen stattfinden können. Dagegen ist bei den Nullpluralen und dem einsilbigen Suffix -cher die jeweilige Silbengrenze auch eine klare Morphemgrenze.


(2)lux.{bee.m}{er.cher}vs.msfrk.{beem.}{cher}vs.dt.{Bäum.}{chen}
CV.CV.CVCVC.CVCVC.CVC

Das Deutsche als Wortsprache markiert Wort- und Morphemgrenzen stark, entweder durch Reduktionssilben oder Konsonantencluster. Aus diesem Grund ist ein Nullplural mit klar segmentierbarem Stamm und Derivationssuffix für das Deutsche typologisch erwartbar. Als Mischsprache sind dem LuxemburgischenLuxemburgisch auch silbenoptimierende Prozesse nicht fremd, weshalb gerade die gute SilbenstrukturSilbenstruktur der PL-DIM dem luxemburgischen Muster zuträglich ist. Das MoselfränkischeMoselfränkisch, das ähnlich silbensprachlich ist wie das Luxemburgische, verzichtet dagegen auf das komplexe Suffix und damit auf die Resilbifizierung. Als mögliche Erklärung für diese auffällige Abweichung vom nah verwandten Luxemburgischen ist die Beeinflussung der Dialekte durch den überdachenden deutschen Standard zu berücksichtigen. Dieser Einfluss scheint schwerer zu wiegen als die strukturellen Kriterien.

 

Auch die Unterschiede in der Gebrauchsfrequenz des er-Plurals können einen Einfluss auf die Ausbreitung und Etablierung der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv gehabt haben. Im DeutschenDeutsch zeigte der er-Plural nach dem 18. Jahrhundert rückläufige Tendenzen und blieb nur in einer Klasse mit ca. 100 Lexemen stabil (vgl. Nübling demn.). Die Plural-Diminutive schwanden etwas zeitversetzt, aber deutlich gründlicher, sodass heute nur ein Lexem seinen Plural regelmäßig mit komplexem Suffix bildet (nämlich Kinderchen), während für alle anderen Lexeme mit er-Plural die Markierung im Diminutiv fakultativ ist. Im LuxemburgischenLuxemburgisch blieb der er-Plural stabil und breitete sich sogar auf weitere Lexeme aus (vgl. Dammel demn.). Dadurch war das Muster der er-Plurale deutlich präsenter und die Plural-Diminutive konnten sich etablieren und analogisch ausbreiten. Für die moselfränkischen Dialekte ist der Status der er-Plurale bisher nicht explizit thematisiert worden, tendenziell lässt sich anhand der Ortsgrammatiken und Sprachatlanten aber ebenfalls eine stärkere Durchsetzung des er-Plurals als im StandarddeutschenStandarddeutsch vermuten (vgl. Groß 1989; Reuter 1989). Die trotzdem fehlende Durchsetzung der Plural-Diminutive lässt sich auch in diesem Fall möglicherweise durch die Anlehnung an den Standard erklären.

Das Zusammenwirken der genannten Gründe sorgte von Beginn an dafür, dass das Luxemburgische die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv funktionalisierte und eine klare Suffix-Zuordnung schaffte, während sie im DeutschenDeutsch anscheinend nur eine stilistische Variante neben dem Nullplural darstellten. Die moselfränkischen Dialekte nehmen eine Zwischenstellung ein, denn auch wenn sie dem LuxemburgischenLuxemburgisch strukturell näher sind, orientieren sie sich am StandarddeutschenStandarddeutsch. Das Kriterium der Überdachung durch die Standardsprache scheint für sie entscheidend. Das Luxemburgische entwickelte sich unter ähnlichen Voraussetzungen, aber mit der Herauslösung aus dem deutschen Dialektgefüge und damit aus der Überdachung des Standarddeutschen, so verlief die Entwicklung genau entgegengesetzt zu den moselfränkischen Dialekten. Bereits im 19. Jahrhundert ist diese Entwicklung nachvollziehbar: Aus den Ergebnissen der Wenkerbögen (Luxemburg 1888 und moselfränkischer Raum 1879) lässt sich für die Plural-Diminutive eine deutliche Isoglosse ablesen, die genau entlang der damals ca. 50 Jahre alten politischen Grenze verlief2.

4 Synchrone Interpretation der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv

Synchron besteht bisher kein Konsens über den Status der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv. In der Literatur sind vor allem vier (a), b) I+II und c)) synchrone Erklärungsmodelle zu finden, die eine verschieden hohe Plausibilität haben.


a)b)c)
{blätt}{er}{chen}{{blätt}er}{chen}{blätt}{er{chen}}
„Infix“I. Fuge(n-ähnlich)reanalysiertes Suffix
II. DIM von PL-Form

Tabelle 5

Zusammenfassung der Segmentierungsmöglichkeiten

In einigen Forschungsarbeiten (u.a. Bruch 1949; Chapman 1997) wird der äußerst problematische Terminus Infix für das eingeschobene -er- verwendet (vgl. Tabelle 5). Dieser ist insofern problematisch, da tatsächlich kein Morphem in den Stamm, sondern ausschließlich zwischen Stamm und Suffix eingefügt wird.

Auf den ersten Blick plausibler erscheint die Interpretation als FugenelementFugenelement (u.a. Naumann 1986) oder „Einheit (…) in einer der Fuge ähnlichen Funktion“ (Eisenberg 2006: 273) (vgl. Tabelle 5). Für das Deutsche ist diese Interpretation dennoch höchst fragwürdig. Zum einen ist für eine Interpretation als Fuge ungünstig, dass -er- in diesem Fall die morphologische Funktion der Pluralmarkierung übernimmt, während Fugen eigentlich „synchronisch nur noch als funktionslose, ‚erstgliedstammbildende‘ Elemente gelten können“ (Bußmann 2002 ‚Fugenelement‘; vgl. Nübling/Sczcepaniak 2011). Zum anderen ist die den Fugen eigentlich immanente Funktion der phonologischen Optimierung des komplexen Wortes im Fall der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv nicht nachzuvollziehen. Die wenigen Stämme mit dieser Suffix-Kombination sind im Plural daktylisch, was für das Deutsche ein untypischer und standardmäßig gemiedener Rhythmus ist. Für das Luxemburgische ist die Interpretation als Fuge dagegen plausibler. Da es deutlich silbensprachlichere Züge hat als das Deutsche, optimiert der er-Einschub das komplexe Wort, da sich dadurch eine bessere CV-Struktur eröffnet und der Daktylus im Plural auch weniger problematisch ist als im DeutschenDeutsch. Gegen die Fuge spricht hier allerdings, dass -er- nicht, wie für Fugen allgemein üblich, zum Erstglied des komplexen Wortes, sondern zum Suffix gehört.

Seebold (1983) und Ettinger (1974) interpretieren die ungewöhnliche Suffixreihenfolge als Diminution einer Pluralform auf -er (auch Donalies 2006: 42) (vgl. Tab. 5, II). Diese Interpretation eignete sich für die PL-DIM in den früheren Stufen des DeutschenDeutsch, in denen tatsächlich nur solche DiminutiveDiminutiv das komplexe Suffix annahmen, deren Stämme zur er-Pluralklasse gehörten. Spätestens mit dem Aufschwung der komplexen PL-DIM im Deutschen des 18. und 19. Jahrhunderts und dem kurzzeitigen Überschreiten der Genusschranke wird diese Interpretation problematisch. Auch für das Luxemburgische ist die Erklärung hinfällig: Hier sind die Pluralmarkierungen der Diminutive vollständig unabhängig von den Pluralklassen der Diminutiv-Basen. Dementsprechend lässt sich festhalten, dass die Diminuierung der er-Plurale ein erster Schritt auf dem Weg zu einem als Einheit reanalysierten Suffix -erchen gewesen sein kann (vgl. Tab. 5), aber synchron anders zu interpretieren ist.

Die vierte synchrone Betrachtungsweise der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv verläuft in bereits erwähnter Richtung hin zu einem reanalysierten Suffix, das über einen Prozess entstanden ist, den Haspelmath (1995) als affix telescoping1Affix bezeichnet:

AffixAffix telescoping is a case where a secondary derivate is related by speakers not to its immediate base (the primary derivate), but to the base of the primary derivate. As a result, the two affixes are reanalyzed as one single affix.

Haspelmath (1995: 18)

Die PL-DIM weichen von dieser Definition insofern ab, als es sich nicht um zwei Derivationssuffixe, sondern um ein Flexions- und ein Derivationssuffix handelt. Haspelmath (1995:18) zufolge ist diese Abweichung jedoch nicht sehr problematisch, da er in Bezug auf Reanalyse-Prozesse keine nennenswerten Unterschieden zwischen Flexions- und Derivationsaffixen feststellen kann (ebd.). Mit dieser Einschränkung wird die Definition auf die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv anwendbar: Die Diminuierung findet nicht ausschließlich an pluralischen Stämmen statt. Stattdessen liegt dem Plural-Diminutiv ein er-loser Diminutiv im Singular zugrunde. Das Wortbildungssuffix ist also eigentlich primär, nicht die Pluralisierung.


(1)
Blatt
Blätt-erBlätt-er-chenReanalyse: Blätt-erchen
Blatt.PLBlatt.PL.DIM
neues Suffix -erchen, z.B. Stühl-erchen, Geiß-erchen

Berücksichtigt man die Geschichte der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch und ihre synchrone Verbreitung im LuxemburgischenLuxemburgisch, ist diese Interpretation die schlüssigste der vier vorgestellten Möglichkeiten. Sowohl die Analyse als Infix als auch als FugenelementFugenelement müssen aufgrund o.g. Argumente relativiert werden. Stattdessen ist anzunehmen, dass die Plural-Diminutive in tatsächlichen Diminuierungen von Pluralformen ihren Anfang fanden, mit der Zeit aber eine Reanalyse des Suffixes stattfand, das sich in der Folge auf neue Stämme ausbreitete.

5 Fazit

Das Phänomen der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv zeigt einmal mehr, dass das Luxemburgische und Standarddeutsche sich weiterhin stark auseinanderentwickeln und eine Überdachung durch das Deutsche im LuxemburgischenLuxemburgisch nicht mehr gegeben sein kann – im Gegensatz zu den moselfränkischen Dialekten.

Das Luxemburgische hat die er-haltige DiminutivDiminutiv-PluralPlural-Markierung, die im späten Mittelhochdeutschen entstand und bis zum 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum Verwendung fand, vollständig funktionalisiert und analogisch ausgebreitet, während sie im restlichen deutschsprachigen Gebiet zurückging. Das Deutsche bevorzugt seitdem aus phonologischen und prosodischen Gründen den Nullplural. Die moselfränkischen Dialekte haben trotz ihrer großen verwandtschaftlichen Nähe zum LuxemburgischenLuxemburgisch die Plural-Diminutive nicht weiter funktionalisiert, sondern wie ihre standarddeutsche Dachsprache ausschließlich Reliktformen mit er-haltigen Diminutiv-Plural-Suffixen zurückbehalten. Statt eines Nullplurals findet sich hier seit dem Frühneuhochdeutschen ein durch den er-Plural angereichertes komplexes Suffix -cher.

Die Gründe für die jeweilige Präferenz der Pluralmarkierung bei Diminutiven sind phonologisch-prosodischer und struktureller Natur: Das Deutsche als Wortsprache hat keinen Vorteil darin die SilbenstrukturSilbenstruktur zu verbessern, während im LuxemburgischenLuxemburgisch insgesamt bessere Silben bevorzugt werden. Das MoselfränkischeMoselfränkisch hält sich trotz silbensprachlicherer Strukturen nicht an das strukturell ähnliche Luxemburgische, sondern an das überdachende Deutsche.

Die unterschiedliche Handhabung der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv hat zur Folge, dass sich die Sprachgrenze zwischen dem DeutschenDeutsch und dem LuxemburgischenLuxemburgisch verfestigt.


Abb. 2

Die Verteilung der Suffix-Varianten im Raum (nach „Apfelbäumchen“ in den Wenkerbögen von 1879 (moselfränkisch) und 1888 (luxemburgisch)

Schon im 19. Jahrhundert war die Bedeutung der Landesgrenze zwischen den beiden Ländern auch in sprachlicher Hinsicht erkennbar und das obwohl die Landesgrenze damals noch relativ jung war. Mit einigen wenigen Ausnahmen sind die jeweiligen Varianten, das einsilbige Suffix -cher und die zweisilbigen Suffixvarianten -ercher/-erchen, auf dem zu erwartenden Gebiet zu finden. Die Staatsgrenze ist also aus morphologischer Sicht zur Sprachgrenze geworden (cf. Abb. 2).

Auf einer theoretischen Ebene konnten die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv und ihr synchroner Status oberflächlich näher beleuchtet werden. Mit dem luxemburgischen Vergleich ließ sich zeigen, dass eine Interpretation der Formen als Diminuierung eines Plurals unzureichend ist, da sich das Suffix im LuxemburgischenLuxemburgisch von der Pluralklasse entfernt hat. Auch die Begriffe Infix und Fuge sind in diesem Zusammenhang zweifelhaft. Lediglich die Interpretation als ein durch affix telescoping reanalysiertes Suffix lässt sich in keinem Punkt direkt widerlegen. Dennoch besteht hier ein dringendes Desiderat, die Form näher zu betrachten, auch aus der Perspektive, wie es überhaupt zu einer Diminuierung von Pluralformen kommen konnte. Zukünftig bleibt auch die Frage interessant, wie sich die Varietäten weiterentwickelt haben und ob die Sprachgrenze sich auf der Landesgrenze verfestigt hat.

 

Abb. 3

Zusammenfassung der Geschichte der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv