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Wortbildung im Deutschen

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2 Statistische Angaben zu ung-AbstraktumAbstraktum vs. substantiviertemSubstantivierung InfinitivInfinitiv

Der Vielzahl der -ung-AbstraktaAbstraktum bei Schiller – insgesamt sind es rund 1500 – stehen nur wenige substantivierte InfinitiveInfinitiv gegenüber. Bei dem Buchstaben A z.B. ist das Verhältnis 173: 22. Die 22 substantiviertenSubstantivierung Infinitive unter dem Buchstaben A sind:1AbstraktumAbleitung (siehe auch Derivation)


(3)Absehen, Ahnden, Angaffen, Ansinnen, Arbeiten, Aufhören, Aufkündigen, Aufleben, Auflösen, Aufregen, Aufreißen, Aufschlagen, Aufschreiben, Aufwallen, Ausgehen, Auskramen, Auslaufen, Ausgehen, Ausschwitzen, Aussehen, Aussenden, Austreten.

Wie nach den Belegen (1) und (2) zu erwarten, findet man bei Schiller unter den ung-AbstraktaAbstraktum insgesamt heute ungebräuchliche Bildungen. Es sind vor allem AbleitungenAbleitung (siehe auch Derivation) von präfigierten VerbenVerb:


(4)(a)Absagung, Abschilderung, Abstechung, Abstellung, Abbestellung, Rückgängigmachung, Abwartung, Abwehrung, Abwerfung, Aneinanderstellung, Anfüllung, Annehmung, Anrühmung, Anschmiegung, Anwünschung, Auferziehung, Aufsuchung, Aufziehung, Ausforderung, Ausweichung, Bedauerung, Begehrung, Bekriegung, Durcheinanderarbeitung, Durcheinandermengung, Durcheinanderwerfung, Durchlesung, Durchschauung, Durchschießung, Durchstechung, Einredung, Entleibung, Entschwäbung, Entspringung, Entwerfung, Erbietung, Erblickung, Ertappung, Ertötung, Ertragung, Erwachung, Gegeneinanderhaltung, Gegeneinanderstellung, Herabstürzung, Herannäherung, Hervorragung, Hinopferung, Hinschmelzung, Hinwegdenkung, Hinwegschmelzung, Hinwerfung, Losgebung, Losreißung, Nachlassung, Überdruckung, Übergebung, Übernehmung, Überschauung, Verscheindung, Vorhersagung, Vorhersehung, Vormalung, Wegdrängung, Wiederauflebung, Wiedergebung, Zerbrechung.

Und AbleitungenAbleitung (siehe auch Derivation) von nicht-präfigierten VerbenVerb, die zum Teil heute nicht mehr gebraucht werden, sind:


(4)(b)

Des Weiteren gibt es bei Schiller mit FugenelementFugenelement -s gebildete substantivische KompositaKompositum mit folgender Besonderheit: Sie weisen im Vorderglied ein AbstraktumAbstraktum auf, das bei Schiller nicht als selbständiges Wort belegt ist:


(4)(c)Denkungsart*Denkung
Denkungsweise
Verfahrungsart*Verfahrung
Verhaltungsbefehl*Verhaltung, Verhalten
Verhaltungsregel
Widerstehungskraft*Widerstehung
Widerstehungsmittel
Widerstehungsvermögen

Auch folgende KompositaKompositum, die auf Suffix -ung auslauten, kommen heute nicht mehr vor. Es sind sogenannte Ableitungskomposita, da sie von verbalen FügungenFügung, die ein Adverb oder ein PräfixoidPräfixoid enthalten, abgeleitet sind:


(4)(d)Genehmhaltung, Beiseitebringung, Teilnehmung, Bekanntwerdung, Zarwerdung [wohl eine Spontanbildung; heute unüblich, weil es keine Zaren mehr gibt], Fehlschlagung, Gefangennehmung
(4)(e)Aufrechthaltung, heute Aufrechterhaltung, Farbengebung, heute Farbgebung; Grenzenverletzung, heute Grenzverletzung
(4)(f)Anschaulichmachung [trotz Google-Belegen heute eher Veranschaulichung]

Einmal ist bei diesem Kompositionstyp auch der substantivierte InfinitivInfinitiv belegt:


(5){An Körner, 27.12.1796, NA 29/30}
Ueber dem Anstaltmachen und Meditiren kam ich in die Ausführung selbst hinein, und finde, daß selbst der Plan, bis auf einen gewissen Punkt, nur durch die Ausführung selbst reif werden kann.

Aus der Beleglage im Ganzen geht somit hervor, dass das ung-AbstraktumAbstraktum bei Schiller noch ein aktives WortbildungsmusterWortbildungsmuster war3. Dass dies aber auch bereits für den substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv gilt, zeigen nun Präpositionalphrasen mit diesen beiden Typen von Abstrakta.

3 Konkurrenz von ung-AbstraktumAbstraktum und substantiviertemSubstantivierung InfinitivInfinitiv

In einer korpuslingustischen Studie zur Konkurrenz von ung-AbstraktumAbstraktum und substantiviertemSubstantivierung InfinitivInfinitiv bei Schiller hat Rosemarie Lühr (2002) bereits die Distribution dieser beiden Typen von Abstrakta untersucht und geprüft, ob diese Verteilung aspektbedingt ist. Dazu wurden sämtliche Abstrakta, die in zweifacher Vertretung, als ung-Abstraktum und als substantivierter Infinitiv, bei Schiller vorkommen, in präpositionalen Verbindungen herangezogen. Denn während etwa bei in Verbindung mit einem Verbalabstraktum eher Imperfektivität und eine Prozesslesart signalisiert, verleiht z.B. die Präposition zu der FügungFügung terminativen Charakter.

AbstraktaAbstraktum, die von perfektiven VerbenVerb abgeleitet sind und die in doppelter Vertretung hinter Präpositionen bei Schiller bezeugt sind, sind:


(6)Abrechnung/Abrechnen, Erfindung/Erfinden, Hervorbringung/Hervorbringen, Nachforschung/Nachforschen, Aufkündigung/Aufkündigen, Zerstückelung/Zerstückeln, Auffassung/Auffassen, Verheerung/Verheeren

Ganz wie im heutigen DeutschDeutsch erscheint bei Schiller mit der Präposition bei der substantivierte InfinitivInfinitiv:


(7){An Cotta, 25./26.10.1796, NA 28/318}
Trotz meiner Aufmerksamkeit sind doch einige Irrungen vorgefallen, welche ich Ihnen anzeigen muß, daß Sie beym Abrechnen mit den Buchhändlern sich darnach richten können.
(8){An Goethe, 30.8.1797, NA 29/122f.}
Es ist mir bei dieser Gelegenheit wieder recht fühlbar, was eine lebendige Erkenntniß und Erfahrung doch beim Erfinden [-] / so viel thut.
(9){Notw.Gr., NA 21/21}
Dem bloßen Liebhaber verleidet die Mühseligkeit des Mittels den Zweck, und er möchte es gern beym Hervorbringen so bequem haben, als bey der Betrachtung.

Die substantiviertenSubstantivierung InfinitiveInfinitiv sind hier von telischen VerbenVerb abgeleitet. Telische Verben bezeichnen unterschiedliche Teilereignisse, sowohl den Vorgang als auch den sich daraus ergebenden Zustand. Daher haben NominalisierungenNominalisierung, die sich nur auf einen dieser Ereignisabschnitte beziehen, entweder eine Prozesslesart oder eine Resultatszustandlesart (vgl. Demske 2000: 378; Ehrich/Rapp 2000: 252). Bei den angeführten substantivierten Infinitiven hinter der Präposition bei wird der Prozess fokussiert.

Gleiches gilt für die Verbindung mit der Präposition durch bei substantiviertenSubstantivierung Infinitiven telischer VerbenVerb, wobei die Imperfektivität oder Prozesshaftigkeit durch Adjektive verstärkt sein kann:


(10){An Ch. v. Schimmelmann, 23.11.1800, NA 30/213}
Und außer diesem, was er von der Natur erhalten, hat er sich durch rastloses Nachforschen und Studium mehr gegeben als irgend ein anderer.
(11){An Goethe, 23.11.1795, NA 28/109}
Was den Vorschuß für die Knebelschen Elegien betrifft, so glaube ich nur, wir werden Cottaen gerade jetzt, wo sein Muth in Ansehung der Horen durch das häuffige Aufkündigen der Subscription etwas Ebbe ist, nicht sehr damit erbauen.

Auch in Verbindung mit der Präposition zu kommen, wie heute üblich, substantivierte InfinitiveInfinitiv von telischen VerbenVerb vor. Es sind NominalisierungenNominalisierung von Bezeichnungen für Prozesse, die in einen Zustand münden.


(12){An Goethe, 27.2.1798, NA 29/212}
und solche Naturen, die sich zur allgemeinen Mittheilung ausbilden büssen gewöhnlich soviel von ihrer Individualität ein, und verlieren also sehr oft von jener sinnlichen Qualität zum Auffaßen der Erscheinungen.
(13){Künstler, 333–335, NA 1/210}
der, wo er schreckt, noch durch Erhabenheit entzücket,und zum Verheeren selbst sich schmücket,Dem großen Künstler ahmt ihr nach.

In allen diesen Fällen hätte Schiller also auch das ung-AbstraktumAbstraktum zur Verfügung gestanden. In der Tat ist in Schillers Sprache der substantivierte InfinitivInfinitiv perfektiver VerbenVerb nur ein Konkurrent des ung-Abstraktums, wie folgende Belege mit beiden Typen von Abstrakta mit der Präposition bei und zu zeigen:

 

(14)(a){An Cotta, 20.2.1795, NA 27/147}
Eben so leid wäre mirs, den 5ten Aufsatz abgebrochen zu sehen, da er sich nicht recht zum Zerstückeln qualifiziert.
(14)(b){Ästh. Erz., 6.Brief, NA 20/326}
Gerne will ich Ihnen eingestehen, daß so wenig es auch den Individuen bey dieser Zerstückelung ihres Wesens wohl werden kann, doch die Gattung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen können.
(15)(a){An Cotta, 10.6.1796, NA 28/224}
Hält die Decke und das Kupfer uns nicht auf, so soll in der Mitte Septembers schon etwas zum Versenden fertig seyn.
(15)(b){An Körner, 17.1.1789, NA 25/186}
Ich habe doch nun den sichtbaren Genuß von meinem Fleisse, denn ausser einem Paquet von 9 gedruckten Bogen, das neulich abgegangen ist, qualifiziert sich schon wieder ein neues von 12 zur Versendung.

Anders verhält es sich bei der Präposition nach. Hinter dieser Präposition kommt von den beiden Typen von AbstraktaAbstraktum nie ein von einem perfektiven VerbVerb abgeleiteter substantivierter InfinitivInfinitiv vor; cf. (1), (2). Es entstehen Ereignisnominalisierungen. Sie beziehen sich auf ein bereits abgeschlossenes Ereignis, das dem durch das Prädikat ausgedrückten Zeitintervall vorausgeht (cf. Demske 2000: 380–381). Cf. ferner:


(16){An Goethe, 10.6.1796, NA 28/223}
Ich bin recht verlangend nach der Ausführung Ihrer vielfachen Ideen, und erwarte recht bald etwas davon.
(17){An Goethe, 15.7.99, NA 30/71}
Es waltet ein unholder Geist über Ihren guten Vorsätzen und Hofnungen für diesen Sommer, der sich, besonders nach der glücklichen Entledigung vom Musen Almanach, so gut anließ.
(18){Demetr., Skizz., NA 11/157}
Demetrius verändert nach geschehener Erkennung seine Kleider und ist eine ganz andre Person geworden, wenn er wieder auftritt.
(19){An Goethe, 11.2.1801, NA 31/9}
Dieß würde uns viele Freude machen, und ich selbst wagte weniger, wenn ich nach der Erhitzung eines zweistündigen Lesens mich nicht der Luft auszusetzen brauchte.
(20){Vertrag/Michaelis, 15.8.1795, NA 27/211}
6) kann dieser Contract von keinem der contrahierenden Theile anders als nach vorhergegangener förmlicher Aufkündigung, welche 3 Monate nach Erscheinung des letzten Jahrganges erscheinen muß, aufgehoben werden.
(21){An F. Chr.v. Augustenburg, 21.11.1793, NA 26/317}
Nirgends aber offenbart sich die wohlthätige Veränderung der Empfindungsart deutlicher, als in der heitern und lachenden Gestalt, welche, nach Erwachung des Schönheitstriebes, Religionen und Sitten annehmen.

vs.


(22){An Huber, 13.9.1785, NA 24/21}
Heute beim Erwachen hörte ich über mir auf dem Claviere spielen, Du glaubst nicht wie mich das belebte.
(23){Demetr., Szen., NA 11/180}
Scenen aus dem Demetrius3. Erkennung des Demetrius4. Nach der Ermordung des Palatinus5. Abschied von der Lodoiska.

vs.


(24){Her.Prop., NA 22/298}
Der Künstler konnte den Augenblick des wirklichen Ermordens, er konnte den Augenblick nach der Tat und unmittelbar vor dem Abzuge darstellen.

Zu konstatieren bleibt somit: Im Gebrauch der beiden Typen von AbstraktaAbstraktum vertritt Schiller, wie auch nach den Belegen bei Kleist zu erwarten, noch einen älteren Sprachzustand als das Gegenwartsdeutsch; substantivierte InfinitiveInfinitiv perfektiver oder telischer VerbenVerb sind noch nicht hinter allen Präpositionen verwendbar. Doch hinter der Präposition bei wie auch hinter der Präposition zu erscheinen bei AbleitungAbleitung (siehe auch Derivation) von telischen Verben beide Typen von Abstrakta, und zwar in activity- und accomplishment-Lesart. Auch hinter der Präposition durch ist der substantivierte Infinitiv zur Bezeichnung von activities belegt. Hinter der Präposition nach findet sich bei Ableitungen von perfektiven oder telischen Verben jedoch nur das ung-Abstraktum. Als Ereignisnominalisierung dient es der Bezeichnung des perfektiven Aspekts1Abstraktum.

Für die Frage nach der Produktivität der beiden Typen von AbstraktaAbstraktum werden nun auch adjektivische KompositaKompositum, die ein Abstraktum fordern, herangezogen.

4 KompositaKompositum mit ung-AbstraktumAbstraktum und substantiviertemSubstantivierung InfinitivInfinitiv im Vorderglied

Die Zweitglieder dieser Adjektivkomposita bestehen aus den Adjektiven voll, würdig, wert1Kompositum. Sie sind relational und vergeben eine thematische Rolle. Diese thematische Rolle wird dem Argument sowohl in der syntaktischen Struktur als auch in der Wortstruktur zugewiesen (vgl. Olsen 1986), z.B.:


(25)erwartungsvollvoller Erwartung

Von Schillers KompositaKompositum auf -voll mit einem ung-AbstraktumAbstraktum im Erstglied gibt es heute zumeist Fortsetzungen. Doch erscheint das ung-Abstraktum auch in einer syntaktischen FügungFügung:


(26)(a)SchillerGegenwartssprache
achtungsvollvoller Achtung
ahndungsvoll
ahnungsvollvoller Ahnungen
erwartungsvollvoller Erwartung
verachtungsvollvoller Verachtung
verehrungsvollvoller Verehrung
verwunderungsvollvoller Verwunderung
verzweiflungsvollvoller Verzweiflung
vorbedeutungsvollvoller Vorbedeutungen
zersteuungsvollvoller Zerstreuung

Ein AbstraktumAbstraktum in einem Adjektiv auf -voll, das heute nicht mehr existiert, ist Erstaunung.


(26)(b)SchillerGegenwartssprache
erstaunungsvollvoller Erstaunen*Erstaunung

Keine EntsprechungEntsprechung, auch keine syntaktische FügungFügung, gibt es bei:


(26)(c)SchillerGegenwartssprache
warnungsvoll

In der Gegenwartssprache werden solche adjektivschen KompositaKompositum zumeist adverbial verwendet. Als Prädikatsnomen mit Bezug auf ein Subjekt finden sich nur vereinzelt Belege:


(27)Von Kind an würden sie [die Frauen] angehalten, sich anzupassen, hingebungsvoll zu sein und sich nützlich zu machen. (www.all-in.de [19.12.2010])

Was die Aktionsart der AbstraktaAbstraktum auf -ung in adjektivischen KompositaKompositum mit Zweitglied -voll betrifft, so bezeichnen diese bei Schiller wie in der Gegenwartssprache Resultatszustände. Im Neuhochdeutschen findet man:


(28)(a)achtungsvoll, ahndungsvoll, ahnungsvoll, anbetungsvoll, andeutungsvoll, aufopferungsvoll, bedeutungsvoll, bewunderungsvoll, beziehungsvoll, empfindungsvoll, entbehrungsvoll [veraltet], entsagungsvoll, erbarmungsvoll, ergebungsvoll, erinnerungsvoll, erwartungsvoll, hingebungsvoll, hochachtungsvoll, hoffnungsvoll, salbungsvoll, schonungsvoll [veraltet], schreckensvoll, spannungsvoll, stimmungsvoll, verachtungsvoll, verantwortungsvoll, verehrungsvoll, verheißungsvoll, verzweiflungsvoll

Ein möglicher substantivierter InfinitivInfinitiv in solchen KompositaKompositum weist heute das Element -ens auf, es findet sich aber nur bei bereits lexikalisierten substantiviertenSubstantivierung Infinitiven:


(28)(b)entsetzensvoll, lebensvoll, leidensvoll, vertrauensvoll vs. glaubensvoll

Während in fast allen dieser KompositaKompositum -s formal dem Genitiv -s entspricht, ist dieser Laut in glaubensvoll nicht aus dem Paradigma von Glaube ableitbar. Es könnte sich um den substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv Glauben handeln. Da jedoch sonst substantivierte Infinitive bei diesem Wortbildungstyp fehlen, dürfte glaubens- analogisch nach den genannten Komposita mit maskulinem oder neutralem AbstraktumAbstraktum im Vorderglied gebildet sein. -ens erscheint auch in schreckensvoll, segensvoll.

Anders verhält es sich bei den KompositaKompositum auf -würdig. Zunächst ist zu konstatieren, dass einige mit einem ung-AbstraktumAbstraktum im Erstglied gebildete Komposita Schillers in der Gegenwartssprache nicht mehr existieren. Bei einer ersten Gruppe kommt das entsprechende SimplexSimplex im heutigen DeutschDeutsch nicht vor:


(29)(a)SchillerGegenwartssprache
beneidungswürdig-*Beneidung
beweinungswürdig-*Beweinung
erstaunungsvoll-*Erstaunung

Bei einer zweiten Gruppe erscheint das AbstraktumAbstraktum als SimplexSimplex, dennoch sind nicht alle KompositaKompositum heute üblich:


(29)(b)SchillerGegenwartssprache
achtungswürdig-
anbetungswürdiganbetungswürdig
bewunderungswürdigbewunderungswürdig
darstellungswürdig-
empfehlungswürdig-
erbarmungswürdigerbarmungswürdig
hochachtungswürdig-
verabscheuungswürdigverabscheuungswürdig
verehrungswürdigverehrungswürdig

Doch gibt es bei Schiller auch KompositaKompositum mit einem substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv im Vorderglied, die heute nicht verwendet werden:


(29)(c)SchillerGegenwartssprache
beweinenswürdig-
verfluchenswürdig-
bedauernswürdig
beklagenswürdig
verachtenswürdig
vertrauenswürdig mit lexikalisiertem substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv

Die substantiviertenSubstantivierung InfinitiveInfinitiv sind von durativen VerbenVerb abgeleitet, die AbstraktaAbstraktum bezeichnen Zustände. Als Paraphrase für beide Typen von Abstrakta im Vorderglied ergibt sich eine passivische Lesart.

 

(30)Jemand ist würdig, bewundert zu werden.
Jemand ist würdig, beweint zu werden.

Eine ähnliche Bedeutung wie die Adjektivkomposita auf -würdig haben die auf -wert. Bei Schiller sind wiederum sowohl ung-AbstraktaAbstraktum als auch substantivierte InfinitiveInfinitiv im Vorderglied belegt. Bei einigen KompositaKompositum mit ung-Abstraktum bei Schiller ist heute das Element -ungs durch -ens des substantiviertenSubstantivierung Infinitivs ersetzt2:


(31)(a)SchillerGegenwartssprache
achtungswertachtenswert
erhaltungswerterhaltenswert
verabscheuungswertverabscheuungswert, verabscheuenswert
verachtungswertverachtenswert
verdammungswertverdammenswert
verehrungswert

Doch hat auch Schiller das Element -ens3DeutschKompositionsstammformFugenelementWortbildung:


(31)(b)SchillerGegenwartssprache
anbetenswert
beweinenswertbeweinenswert

Bemerkenswert ist, dass bei Schiller die Adjektive liebenswürdig und liebenswert noch nicht lexikalisiert sind. Sie bedeuten bei ihm ‚würdig‘ bzw. ‚wert, geliebt zu werden‘, in der Gegenwartssprache dagegen ‚freundlich, zuvorkommend‘.


(32)(a){DK4, I/4 [566–567], NA 7/387}
Noch hatte seine liebenswürd’ge BrautFernando nur im Bildniß angebetet –
(32)(b){MSt., II/8 [1800–1802], NA 9/68}
Nicht ihre Hand allein, auch ihre GunstDroht mir der neue Ankömmling zu rauben.Sie ist ein Weib, und er ist liebenswert.

Somit ist nach der Betrachtung der Adjektivkomposita auf -voll, -würdig, -wert festzuhalten: Adjektivabstrakta auf -voll bleiben von dem Ersatz des ung-AbstraktumsAbstraktum durch den substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv ausgeschlossen. Doch dringt der substantivierte Infinitiv bei adjektivischen KompositaKompositum auf -würdig und -wert bei Schiller bereits in die Wortbildungsdomäne des ung-Abstaktums ein, auch wenn das ung-Abstraktum im Vorderglied hier noch überwiegt. Der substantivierte Infinitiv hat in diesen Komposita eine passivische Lesart, wodurch sich die adjektivischen Komposita auf -würdig und -wert neben passivische modale Adjektivkomposita auf -bar, -lich, -fähig, die im heutigen DeutschDeutsch überaus produktiv sind, stellen:


(33)sein + Adjektiv auf -bar, -lich,-fähig, ferner -abel,-ibel (Fremdsuffixe).ModalitätUmschreibung (Passiv)
Das Auto ist reparierbar.könnenDas Auto kann repariert werden.
Der Brief ist kaum leserlich.Der Brief kann kaum gelesen werden.
Der Kranke ist transportfähig.Der Kranke kann transportiert werden.

Diese KompositaKompositum sind deswegen so produktiv, weil sie in der Satzproduktion den Anschluss von Subjekten an der Satzspitze, die nicht der Agens, sondern der Patiens sind, gestatten (cf. Roelcke 2002: 339, 2012: 339). Ausgehend von Adjektivkomposita auf -würdig und -wert könnte der substantivierte InfinitivInfinitiv dann nicht nur als Kompositionsglied, sondern auch im selbständigen Gebrauch eine passivische Lesart erhalten. Bislang ist eine solche Verwendung wohl noch nicht möglich; cf.:


(34)(a)

gegenüber


(34)(b)sie hätte ihn erhört, wenn er um Erhörung gebeten hätte (Böll, Gruppenbild mit Dame) (vgl. Pavlov 2002: 229)

mit Erhörung in passivischer Interpretation als ‚das Erhörtwerden‘.