Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

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Macht diese Organisationsform die Welt besser?

Ich glaube schon: weil Verantwortung und Rechenschaft transparenter werden. Die einzelnen Teile sind ja keine atomistischen Gebilde. Es gibt darüber ein Dach, es gibt einen code of conduct. Ein loosely coupled network hat meist ein ausgeprägtes Wertesystem: Wenn nicht die Struktur zusammenhält, muss es die Ideologie tun. Jeder wird gefragt: Was hast du aus dem dir Anvertrauten gemacht? In synergiesuchenden Systemen finden Sie extreme Abstimmungsrituale. Die Handlungsfähigkeit des einzelnen Akteurs ist außerordentlich beschränkt, sodass er massiv mit Koalitionen arbeiten muss. Aber Verantwortung? Danken, wenn es gut gelaufen ist? Jemand zur Rechenschaft ziehen, wenn Mist gebaut worden ist? Das ist in solchen Systemen gar nicht mehr möglich, weil das System mit seinen Ritualen und Routinen verantwortlich ist!

Die katholische Kirche veranstaltet alle paar Jahre eine Synode, die Richtungsänderungen diskutiert oder an Grundfragen weiterarbeitet. Eine ganz andere Form von Abstimmung, über Metathemen! Natürlich gibt es Situationen, wo die Zentralgewalt reagieren muss, nehmen wir die Verbrechen vieler Priester an Kindern. Da hat die Selbstverantwortung der Subsysteme nicht funktioniert. Die Zentrale hat die Möglichkeit, selektiv einzugreifen, wenn Werte verletzt werden. Ich bin Ex-Katholik. Als Ex ist man ja immer sehr bewusst und schaut sich das an … ohne loosely coupled system hätte die Kirche sich nie so ausgebreitet.

Ja, wir Katholiken haben das Modell der Einheit in Vielheit. Seit Jahrhunderten diskutieren wir über Inkulturation, immer wieder: in China, in Afrika. Die faktischen Lösungen sind oft erstaunlich offen.

Die meisten Organisationen diskutieren die Vielfalt in der Einheit. Klüger wäre vermutlich, über Einheit in der Vielfalt zu diskutieren. Diese Einheit muss sehr präzise ausgearbeitet werden, sie ist ja der kleinste gemeinsame Nenner, der alle zusammenhält. Eine konföderative Struktur. Konföderativ ist schöner als dezentral. Sie entspricht dem Trend zur Netzwerkorganisation in der Wirtschaft.

Was heißt das für die Universität? Soll sie eine konföderative Struktur entwickeln? Hat sie sie vielleicht, ist aber verkalkt? Braucht es eine Phase eines starken Präsidenten, der mit einer Koalition von Veränderern das System wieder öffnet? Einen Gorbatschow für die Universität? Eigentlich sind Universitäten durch ihre Gliederung und ihre hohen Freiheitsgrade Konföderationen. Das hat zu extremer Langsamkeit der Veränderung beigetragen, wie in der Kirche. Darin liegt ein Wert. Oder ein Problem: wenn es den Diskurs abtötet. Solange der Diskurs lebt, lebt auch die Möglichkeit der internen Erneuerung: der humanistische Weg, die Evangelisierung … Aber ich habe mehr als eine sklerotisch erstarrte Hochschule erlebt. Einmal habe ich ein Konsortium von vierzehn Firmen gewonnen, die der Universität Hannover vorschlugen, für gestandene Ingenieure ein berufsbegleitendes Masterstudium Kunststoff- und Kautschuktechnologie einzurichten. Das Thema wurde drei Jahre lang zerhackt zwischen den Dekanaten Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik. Und scheiterte. Ich kann Ihnen Dutzende Geschichten erzählen von begeisternden Ideen, die in sklerotischen Strukturen zerbrachen. Schauen Sie, wie lange es gedauert hat, Mechatronik als Lehrberuf zu etablieren! Heute bräuchten wir dringend eine Synthese aus Informatik und Maschinenbau. Da gibt es eine enorme Unfähigkeit zur Reform.

In Amerika diskutiert man heute, wie die Technikwissenschaften Humanwissenschaften einbeziehen könnten. In Deutschland nicht: kein Erkenntnis-, sondern ein Machtproblem! Wo konföderative Universitätsstrukturen gut und organisch funktionieren, sollen wir sie pflegen. Aber wenn Fliehkräfte und autistische Silos zu stark werden, braucht es Gegensteuerung.

Ethik und Management: Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie Sie in Ihrer beruflichen Praxis moralisches Handeln im Unternehmen gefördert haben?

Ich erinnere mich noch gut. Ich habe 1994 meiner geliebten Daimler Benz AG wegen des damaligen DASA-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp gekündigt und ging zur Lufthansa. Sie steckte damals voll im Privatisierungsprozess – mit allen Chancen und Risiken. Mein dortiger Chef, Dr. Heiko Lange, und ich haben das berühmte magische Dreieck geschaffen, das es bei der Lufthansa immer noch gibt. Heute ein triviales Thema, aber 1994, als der Börsenkapitalismus nach Deutschland kam, eine Revolution. Wir sagten: Unser Unternehmen soll dem Kunden, dem Mitarbeiter und dem Aktionär dienen. Exakt in dieser Reihenfolge. Das magische Dreieck! Wir haben einen Kreis außen herum gemacht – die Gesellschaft – und es im Vorstand vorgestellt. Es hat nachhaltig gewirkt, nach 9/11 zum Beispiel. Als einzige Airline der Welt haben wir damals auf Massenkündigungen verzichtet. Nach der Krise wollten wir diejenigen sein, die dem Kunden wieder möglichst angenehmen und reibungslosen Service bieten. Wir dachten in dem Dreieck, schützten unsere service professionals und hielten sie an Bord, um auf sie zählen zu können, wenn der Kunde sie brauchen würde. Für den Shareholder nahmen wir den Einbruch des Ertrags kurzfristig in Kauf. Man kann in so einem Dreieck denken und handeln!

Nach dem Datenschutzskandal bei der Telekom[3] – ich war damals etwa ein Jahr da – saßen wir abends zusammen und diskutierten die Wucht des Skandals. Wie sollten wir damit umgehen? Da habe ich zu meinem Vorstandsvorsitzenden, René Obermann, gesagt: »Aber wir reden ja überhaupt nicht über unsere beschissene Unternehmenskultur!« Er fühlte sich persönlich angegriffen, obwohl er erst seit Kurzem Vorstandsvorsitzender war. Ja, es war faktisch ein Angriff, aber er hätte elegant sagen können: »Ja, Thomas, schon recht, aber ich kann erst jetzt die Weichen stellen.« Es folgte eine erbitterte Auseinandersetzung, über Stunden! Am nächsten Morgen kam er in mein Büro: »Thomas, es war nicht so nett gesagt, aber in der Sache hast du Recht.« Dann haben wir guiding principles eingeführt.[4] Bis ich ging, gab es einen sehr lebendigen Prozess der Entwicklung von Werten. Und eine ständige Reflexion darüber, wo wir stehen, wie wir das machen. Wir haben weltweit den guiding-principles-Tag eingeführt, an dem unsere Mitarbeitenden darüber reflektieren, wie sie mit dem Thema umgehen. Wir haben in vierteljährlichen Pulsbefragungen immer wieder gefragt: Macht das Thema Fortschritte? Wird es gelebt? Um zu sehen, wo man justieren muss. Über viele Jahre war das ein Leitthema unserer Veranstaltungen für Führungskräfte.

Nachdem ich ausgeschieden war, erzählte mir ein externer Trainer, drei junge Talente hätten ihm gesagt, die guiding principles würden nicht mehr gelebt. Er habe zurückgefragt, warum. »Der Obermann hat sie in seiner Rede zum neuen Jahr nicht erwähnt, also sind sie ihm nicht mehr so wichtig!« Sagt er: »Dann fragt ihn doch selber, wie das ist!« »Wir können doch nicht fragen, wir bekommen da keine Antwort.« »Dann seid ihr selber schuld. Dann bewegt ihr an der Situation nichts.« Da hätten die drei eine Mail geschrieben: »Herr Obermann, wir haben den Eindruck, die guiding principles sind fünf Jahre nach ihrer Einführung nicht mehr wichtig, weil Sie sie in der Rede nicht erwähnt haben.« Obermann schrieb innerhalb einer Stunde zurück: »Entschuldigen Sie, ich habe tatsächlich gedacht, das Thema sei schon verinnerlicht. Ich habe nicht gespürt, dass sich die Menschen denken werden, es sei nicht wichtig, wenn es nicht erwähnt wird.«

Zwei prägende Projekte also, durch die ich mitgeholfen habe, das Thema Unternehmensethik in die Bildung von Führungskräften aufzunehmen.

Das gab es vorher noch gar nicht?

In Deutschland, 1994/95? Nein, überhaupt nicht! Damals ist das European Business Ethics Network, EBEN, erst entstanden. Den ersten Kongress haben wir in unserem Lufthansa-Bildungszentrum veranstaltet. Auch der Vorstand war dabei und hat sich mit dem Thema Ethik auseinandergesetzt.

Haben diese Prozesse ein ethisches Bewusstsein hervorgebracht, Menschen sensibilisiert und eine höhere Verantwortlichkeit in unserer Kultur verankert?

Verankert nicht, nein. Immer wenn eine neue Herrschaft antritt – ein neuer Vorstandsvorsitzender, ein neuer Personalchef –, ist die Frage wieder da: Reetabliert er oder sie das Bestehende, oder geht er oder sie einen anderen Weg? Ich habe eben zwei Evangelisierungsprozesse beschrieben. Solche Prozesse sind immer an Menschen gekoppelt, die in der Verantwortung stehen, die helfen, anschieben, ermuntern, immer wieder. Und anregen, dass man sich mit diesen Themen auseinandersetzt. Würden die Nachfolgenden das immer weitertragen, wäre es verankert. Aber meist ist das nicht so. Deshalb ist die Frage, die Karl Popper einmal stellte, ja so interessant: Wie können wir Institutionen so bauen, dass Despoten nicht zu viel Schaden anrichten können? Die Evangelisierung ist offensichtlich notwendig, aber nicht hinreichend.

Bildung und Ethik

Wie lässt sich ethische Bildung in Schule und Universität verankern?

Ich habe viel mit business schools zusammengearbeitet. Die Ethikdebatte traf diese Community heftig und von außen: Sie war mit ihren MBA-Programmen ja Lakai der Finanzwirtschaft. Sie begannen also, Ethikkurse dazuzumischen. Aber es geht nicht nur darum, Ethik in die Lehre zu integrieren, sondern eine ethische Institution zu bauen. Ein fundamentaler Unterschied! »Ich mach da ein Modul« reduziert Ethik auf die Abteilung fürs Gute. Natürlich kann Ethik in der Lehre mithelfen, aber zu einer ethischen Institution gehört viel mehr: Sie setzt bei der governance einer Institution an: Wer sitzt im Hochschulrat? Welche Rolle spielen moralische Maßstäbe bei der Berufung von Professoren? Wie sanktioniert eine Universität unethisches, wie wertschätzt sie moralisches Verhalten?

 

Man muss Ethik mit der Machtausübung in Beziehung setzen, sonst nützt sie nichts.

Exakt! Dann können wir vielleicht drüber reden, dass sich das Thema verankert oder entpersonalisiert hat und zu einem institutionellen Merkmal geworden ist. Den Popper’schen Begriff »Institutionen bauen« finde ich wunderschön. Wenn diese Diskussion beginnt, erschüttert sie viele Hochschulen zutiefst.

Es geht um das Selbstverständnis einer Universität und seine regelmäßige Überprüfung. Nach welchen Kriterien lassen wir Studierende zu? Welche guidelines gelten für Fakultäten, Administration, Studierende? Welche Ziele setzt sich die governance? Wie wird diversity an der Universität gelebt oder praktiziert? Berät eine Universität ihre Absolventen, Maßstäbe zu entwickeln bei der Wahl eines Arbeitgebers? Wozu dienen Alumninetzwerke? Helfen sie auch, die Institution zu justieren? Als Stiftungsvorsitzender der Zeppelin-Universität Friedrichshafen war ich einmal auf einer Alumniveranstaltung. Da brach ein Alumnus in Tränen aus: »Nach drei Jahren kann ich zum ersten Mal wieder die Sprache sprechen, die ich an der Universität gelernt habe. Die ist mir drei Jahre lang ausgetrieben worden …« Da wäre Produzentenhaftung eine interessante Frage! Welche Verantwortung übernimmt die Universität für das Ergebnis der Mühen ihrer Absolventinnen und Absolventen? Viele spannende Diskussionen! Die Frage ist nicht, wie sich ethische Bildung verankern lässt, sondern wie sich eine ethische Institution bauen lässt.

In einem Essay in einem Managermagazin habe ich die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule in Aachen richtig böse rangenommen, sie ist ja eine der Kaderschmieden für Volkswagen! Ein Professor, der dort vor zehn Jahren das Thema Ethik vertreten hat, sagte mir: »Ich bin hier vertrieben worden. Die wollten mich und meine Lehre nicht.« Die RWTH ist halt eine effizienzgetriebene Maschinenfabrik mit Menschen, die Maschinenbestandteile sein sollen. Die nicht drüber nachdenken, wie sie ökologisch klug Produkte entwickeln, sondern wie sie Zwölfzylinder bauen können. Solche Universitäten kann man nicht verbieten, aber ich glaube, man muss sie zum Gegenstand der öffentlichen Debatte machen. Professoren müssen auch wieder Public Intellectuals werden, die hinausgehen – und ebenso muss sich eine Universität der Debatte der Stakeholder draußen stellen.

Wie viel kreativen Freiraum braucht es entlang eines Bildungswegs?

Der Bildungsweg wird ja meistens mit dem formalen Bildungsweg verwechselt. Es gibt ja auch Bildung auf der Straße.

Sicher gibt es die! Ich denke an Ihr jugendliches Engagement in der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg und an ihre Tätigkeit als politischer Aktivist in der APO – das sind ja elementare Bildungserfahrungen.

Ja, der Pfadfinder macht ja eine gute Tat jeden Tag. Hoffentlich mehr als eine, aber in der Auseinandersetzung darüber, ob ich meine gute Tat schon gemacht habe, stelle ich mir die Frage »Bin ich sonst ein böser Mensch und mache einmal eine gute Tat?« Natürlich habe ich da viel gelernt. Ich habe ja die Ministranten verlassen, um Pfadfinder zu werden. Das hat mich moralisch mehr geformt als Weihwasser- und Weihrauchkessel zu schwingen, wie wir das in Abendandachten gemacht haben, bis wir vom Rauch ganz betäubt waren. Solche Lern- und Erfahrungsfelder jenseits von Schule und Familie sind ungeheuer wichtig. Wenn es nicht nur die rohe Straße ist – aber auch da lernt man ja überleben –, sondern Fußballverein oder Pfadfinder, wo hoffentlich eine gute Pädagogik das Lernen begleitet, kann das nur hilfreich sein.

Ich selbst habe in der Schule nur gelernt, exzellent zu reproduzieren. Woanders das Produzieren, etwa bei den Pfadfindern. Wie baut man ein Lagerfeuer? Wie baut man Hängebrücken? Wie seilt man sich sicher ab? Wie baut man ein Floß? Mit viel trial and error! Bei der APO habe ich gelernt, wie man koordiniert. Wie stelle ich sicher, dass morgens früh um 4:30 Uhr 90 000 Flugblätter an 70 unterschiedlichen Orten im Raum Stuttgart sind und Menschen da sind, die nicht schlafen, sondern die Flugblätter verteilen? Solche Engagements, in denen man sich selbst und seine Leidenschaften einbringt, sind ungeheuer wichtig, damit Lernen breitbandiger wird als die Schule. Es ist wichtig, in jungen Jahren ein Portefeuille an unterschiedlichen Erfahrungsfeldern zu sammeln.

Und dann gibt es noch das, was man manchmal altertümlich »Herzensbildung« nennt. Ich erinnere mich an Lehrerinnen und Lehrer, die tatsächlich geholfen haben, dass Herzensbildung wuchs. Die Zeit hatten. Raum hatten. Ein Religionslehrer für schwierige Gespräche. Eine Klassenlehrerin in der Grundschule, der ich Blumen gebracht habe und die sich mit mir auseinandergesetzt hat, mit dem, was ich mitgebracht habe an Gedanken und Fragen. Wenn Lernfelder nicht nackt sind, sondern pädagogisch betreut, ist das optimal.

Von hier aus lässt sich Ihre Frage nach den Freiräumen leicht beantworten: Es kommt darauf an, dass ich als junger Mensch stimuliert werde, nachzudenken, wo es schön sein könnte zu lernen. Wenn es in der Schule nicht schön ist: wo es dann schön wäre, und ich meine Erfahrungen sammle. Die müssen nicht immer gleich ins Schwarze treffen. Ich dachte erst, Ministrant sein sei ganz toll. Dann waren es doch die Pfadfinder, das habe ich als Zehnjähriger entschieden.

Es war Ihre eigene Entscheidung. Keine Wahlpflichtveranstaltung, sondern Sie waren frei, ja oder nein zu sagen.

Richtig. Menschen haben mich stimuliert, solche Erfahrungen zu suchen. Lehrer und Eltern sollen nicht meinen Lebensweg programmieren, sondern mich anregen, Erfahrungen zu sammeln, sie zu bewerten und zu justieren. Ich war Austauschschüler in den USA, wo es extracurriculare Aktivitäten wie football gibt. Natürlich hattest du die Freiheit, nichts zu machen. Ich habe speech gewählt, Rede- und Disputationswettbewerbe. Mir hat keiner gesagt: Geh da rein. Ich hab das Angebot gesehen, ich fand es interessant, es stimulierte mich, ich bin hingegangen. Es hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass ich mich heute passabel ausdrücken kann. Ob das »kreative Freiräume« sind, ist gar nicht so wichtig – es sind andere Räume. Man kann ihnen nicht mit den gewohnten Routinen begegnen, weil die Logiken andere sind, ergibt es sich fast zwangsläufig, dass man eine eigene Spur legt. Deswegen glaube ich an die Stimulation von Erfahrungsfeldern: frei laufend, wie bei der APO. Dann bin ich selbst verantwortlich. Noch besser nicht nackt, sondern mit Verständnis begleitet, wie im MakerSpace der TU München. Da müssen die Studierenden nicht hin, aber sie haben das Angebot. Es ist da, ich kann es nutzen. Wenn ich Ingenieur bin, mit Leidenschaft für das Entwickeln oder sonst etwas, dann werde ich juchzen: »Gott sei Dank kann ich nach Garching fahren und komme aus dem dummen Hörsaal raus!« Raum ermöglichen, Infrastruktur, und dann etwas pädagogische Begleitung in diesen anderen Orten: Das ist der Schlüssel.

Was politisch zu tun ist

Sie kandidieren für den Deutschen Bundestag: Wofür möchten Sie sich in der Bildungspolitik einsetzen?

Es ist ja Deutschland! In der Schweiz sind die Freiheitsgrade wahrscheinlich deutlich höher. Ich möchte dazu beitragen, freie, starke Schulen und freie, starke Hochschulen zu schaffen. Schulen sollen ihr Profil entwickeln können – nicht im Sinne von Marketing, sondern in dem, was sie sein möchten, worüber sich Lehrer, Schüler, Eltern, und Leitung verständigen. Ich halte es für wichtig, den Umfang staatlicher Vorgaben deutlich zurückzunehmen. Natürlich braucht es eine gute Endkontrolle, denn der Staat gibt das Geld für die Bildung. Auch eine Walldorfschule muss zeigen, dass sie Menschen zum Abitur führen kann. Aber ich möchte die Kontrolle sehr viel stärker am Ergebnis ausrichten, als im Detail zu intervenieren. Die Stakeholder sollen sehr viel mehr Freiheit bekommen zu definieren, was Schule, was Hochschule ist.

Das Zweite ist die Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Es wird immer deutlicher, dass sie, ob jung, ob erfahren, mehr und mehr überfordert sind von der Komplexität an Lebenswelten, von den unterschiedlichen Biografien ihrer Schülerinnen und Schüler. In den Curricula führt die Entwicklung von Sozialkompetenz ein Randdasein. Es kommt darauf an, hinzuschauen, wie sehr mich diese Komplexität einschüchtert, und mich zu fragen, wie ich mit der Vielfalt umgehe, die ich bei meinen jungen Menschen erlebe. Das muss im Lehramtsstudium Platz finden.

Ja, das muss sich entwickeln. Kommunikationsfähigkeit, Fremdheitstoleranz, Empathie: Diese Beziehungsqualitäten muss man üben.

Und zwar von Beginn an, nicht erst irgendwann im Praxissemester. Menschen gewinnen Erkenntnis in interaktiven Prozessen: Praxis, Theorie, Praxis, Theorie oder Theorie, Praxis, Theorie, Praxis – wie auch immer, ob induktiv oder deduktiv. Es ist immer ein Austesten von neuem Wissen in der Realität, ein Experimentieren. Sozialkompetenz und Praxisbezug des Lehramtsstudiums sind zentral.

Drittens stehen wir vor der Aufgabe, digitale Kompetenz als vierte Kulturtechnik zu integrieren, neben Lesen, Schreiben, Rechnen. Es geht nicht um das Fach Informatik, sondern darum, dass das Thema Digitalisierung in den Fächerkanon einfließt. Drei Themen – es gibt noch mehr, aber es ist schon ein ordentliches Paket.

Zum Schluss: Was zeichnet für Sie einen gebildeten Menschen aus?

Ich komme nicht aus einer Akademikerfamilie, die ausdrücklich Bildungswerte weitergegeben hätte. Ich habe ein Soziologie-, dann ein Pädagogikstudium abgebrochen. Schließlich habe ich ein duales Studium absolviert. Ich kann nicht auf eine breite akademische Bildung aufbauen; dennoch würde ich mich als halbwegs gebildet bezeichnen.

Gebildet ist, wer Verantwortung übernimmt für die eigene Entwicklung. Wer, in einer Mischung aus Neugierde und Reflexion, sein Leben in unterschiedlichen Sphären gestaltet. Und wer unterschiedliche Perspektiven in seine Urteilsfindung zu integrieren versucht.

Annette Winkler: Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien?


Annette Winkler * 1959, studierte in Frankfurt Betriebswirtschaft und übernahm 1984 das elterliche Bauunternehmen. 1995 wurde sie Kommunikationschefin von Mercedes-Benz. Die Leitung der Braunschweiger Mercedes-Niederlassung, danach der Vertriebsgesellschaft von Daimler-Chrysler in Belgien und Luxemburg und schließlich die Verantwortung für das weltweite Händlernetz waren weitere Aufgaben. Seit 2010 ist sie Chefin von smart. Ihr Motto: Wer etwas erreichen will, muss die Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien?

> Interview: Thomas Philipp, Marielle Hofer

Annette Winkler, Sie tragen Führungsverantwortung in der Automobilindustrie. Warum ist das Widersprechen in einer großen Hierarchie so schwierig?

Auch in der Hierarchie gibt es sehr viele Führungskräfte, die eigentlich Widerspruch wollen, weil sie wissen, wie sehr dadurch Kreativität und Mitdenken aller Mitarbeiter befördert wird. Aber dennoch ist es im Alltag oft schwer, ihn zuzulassen. Manchmal ist es einfach eine Frage der Zeit. Widerspruch verlangt ja eine Debatte. Das ist oft lästig und rein zeitlich gesehen nicht möglich. Dann gibt es leider aber auch Chefs, die Widerspruch wirklich nicht wollen – wo es manchmal mehr um Hierarchiedenken und Machtgehabe geht, vielleicht auch um fehlende Souveränität, die es ja braucht, um Widerspruch nicht nur zuzulassen, sondern sogar einzufordern! Das ist dann natürlich schwierig und ausgesprochen schade, weil man sich damit viele Talente, die man im Unternehmen nutzen könnte, nicht nutzbar macht.

Das ist die Perspektive der Führungskraft, von der man erwarten würde, dass sie Widerspruch sucht. Aber es gibt ja noch die zweite Seite, die Person, die widersprechen sollte. Da gibt es leider Verhaltensweisen, die mit Angst zu tun haben. Gerade gegenüber Leuten, die Macht ausüben, ist da bei vielen einfach eine lähmende Furcht. So erlebe ich durchaus auch in einer wohlwollenden, einladenden Atmosphäre, also wenn Widerspruch wirklich gewollt ist, dass man auf Leute trifft, die gar keine eigene Meinung mehr haben oder in vorauseilendem Gehorsam das vermeintlich Gewollte sagen. Auch das macht es schwierig, zu einer Widerspruchskultur zu kommen.

 

Warum ist das Widersprechen dennoch wichtig, gerade in einer großen Hierarchie?

Die erste Stufe ist schlicht die Risikoverminderung oder -begrenzung. Wenn ich erkenne, dass irgendwo Gefahr droht, und nicht widerspreche, erwachsen daraus schnell sehr große Gefahren. Ich habe also eine wirkliche Verpflichtung, auf Risiken hinzuweisen. Fast noch wichtiger finde ich, dass durch die Nutzung einer konstruktiven Widerspruchskultur eine Vielzahl von unterschiedlichen Talenten beginnen, zusammenzuwirken und dass Kreativitätsprozesse angekurbelt werden. Das ist doch das Schönste in einem Unternehmen! Ich spreche oft vom Kneten: Das geschieht dann, wenn jemand eine Meinung äußert und sagt: »Moment mal, lasst uns doch eine andere Perspektive einnehmen« – da kommt ein kreativer Prozess zustande. Und das ist immer wichtig. Ich denke, das ist die Quelle des Gestaltens und letztlich auch des wirtschaftlichen und wertebezogenen Erfolgs.

Also eine Begeisterung für den Pluralismus und das kreative Potenzial, das er freisetzt?

Ja, genau!

Nun hat Klaus Mertes über Widerspruch und Loyalität geschrieben. Er sieht eine Art von Widerspruch, die destruktiv ist. Wie grenzen Sie konstruktiven von destruktivem Widerspruch ab?

Auch diese Frage gefällt mir gut, weil es sehr wichtig ist, diesen Unterschied zu machen. »Alles ist schlecht!« ist noch keine Widerspruchskultur! Konstruktiv ist Widerspruch, wenn er vor allen Dingen das Gesamtziel vor Augen hat, zum Beispiel ein Gesamtunternehmensziel, und nicht einfach nur eine kurzfristige Optimierung des eigenen Bereichs. Und natürlich, wenn er lösungsorientiert ist. Und ich finde auch einen dritten Aspekt sehr wichtig: Am Ende eines Entscheidungsprozesses muss der Verantwortliche entscheiden. Wenn alle Meinungen ausgetauscht sind und es geht anders aus, als man es gewünscht hat, muss man das akzeptieren. Das heißt nicht, dass man nicht sagen darf: »Ich war anderer Meinung.« Aber man muss dann trotzdem mitarbeiten, die gefallene Entscheidung erfolgreich umzusetzen.

Es braucht also einen lebendigen Dialog über Ziele. Und dann kommt es darauf an, wie groß der Raum ist: ob mein Ziel nur ist, dass mein Bereich gut läuft – dann kann es destruktiv werden –, oder ob ich bereit bin, mich mit einem großen Ziel zu identifizieren.

Genau. Das setzt natürlich voraus, dass man so ein großes Ziel kennt, dass nicht jeder nur in seinem kleinen Silo vor sich hin wurstelt, sondern dass sich alle auf ein großes Ziel ausrichten und dann auch abwägen können. Wenn ich zielorientiert für meinen kleinen Bereich etwas anders machen kann, ohne das große Ganze zu stören, soll ich das artikulieren und versuchen, die Entscheider von meiner Meinung zu überzeugen.

Welches ist denn das große Ziel von smart?

Lebensqualität und Freude in der Stadt vergrößern! Wir wollen eine Marke sein, die in den immer größer werdenden Städten und Konglomeraten den Menschen ein besseres Leben ermöglicht, natürlich für unsere Kunden in den Autos, aber auch für die Bewohner der Metropolen schlechthin. Zum Beispiel die Elektromobilität. Was würde es denn konkret bedeuten, wenn eine Million Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen fahren würden? Das ist das Äquivalent vom CO2-Ausstoß von zighunderttausend Fernflügen, von ich weiß nicht wie vielen mit konventionellen Fahrzeugen gefahrenen Kilometern, 50 Prozent weniger Geräuschpegel – und es gibt für die Menschen heute fast keinen schlimmeren Stressor als Geräusch. Und dann wollen wir Stadtautos bauen, die Farbe, Individualität in die Stadt bringen statt des grauen Einerleis auf den Straßen. Oder ein wunderschönes Beispiel in Sachen Lebensqualität: In Rom hat smart bislang den größten Erfolg. Dort fahren mittlerweile hundertzwanzigtausend smarts. Ein smart ist ein Meter zwanzig kürzer als ein durchschnittliches Auto – das heißt, wir sparen in dieser Stadt jeden Tag rund 150 km Platz: Stau, Parkraum etc. Das erklärt unsere Vision, wie wir dazu beitragen wollen, das Leben in den Städten dieser Welt besser zu machen, sehr eindrücklich.

Es geht gar nicht zuerst um Geld, sondern das große Ziel ist Lebensqualität?

Es geht immer darum, die finanziellen Ziele in ein großes Ganzes einzubetten.

Frau Winkler, wie fördern Sie denn den Mut zum Widerspruch?

Indem ich mir anvertraute Menschen immer wieder ausdrücklich auffordere, ihre Meinung zu sagen, bevor sie meine kennen.

Bevor sie Ihre kennen.

Das ist außerordentlich wichtig. Wenn sie wissen, wie ich denke, besteht die Gefahr des vorauseilenden Gehorsams: dass man mir erzählt, wovon man denkt, dass ich es so hören will. Diese Aufforderung, erst einmal seine eigene Meinung zu haben, funktioniert leider nicht immer, das Thema der oft fehlenden Zeit für eine echte Debattenkultur, wie anfangs beschrieben, betrifft mich natürlich auch. Manchmal muss ich sagen: »Kommt, Kinder, jetzt machen wir das so!« Aber ich versuche sehr viel herauszuhören, durch unser smart-Haus oder die Fabrik zu laufen, den hierarchieübergreifenden Dialog zu pflegen und auch meine Führungskräfte dazu aufzufordern. Das Allerwichtigste ist das Vorleben. Wenn es keine Kultur gibt, oder andersherum: wenn jemand widerspricht und dafür sanktioniert wird oder in seiner Karriere nicht weiterkommt, dann machen wir etwas falsch. Aber wenn ich konstruktiven Widerspruch und neue Ideen entsprechend fördere, positiv aufnehme und verstärke, gebe ich ein motivierendes Beispiel.

Hat dieser Mut zum Widerspruch etwas mit Bildung zu tun? Hat ein gebildeter Mensch mehr Mut?

Auch eine tolle Frage. Da hilft mir der Begriff des konstruktiven Widerspruchs. Wenn Sie ein stures, dummes und faules Gegenüber haben mit Mut zum Widerspruch, das kann Sie nahezu in den Selbstmord treiben. Einfach nur dagegen … Das hat überhaupt nichts mit Bildung zu tun!

Aber der Mut zum konstruktiven Widerspruch hat ganz klar etwas mit Bildung zu tun, in einem weiter gefassten Sinne. Natürlich muss jemand Ausbildung und Kompetenz mitbringen, damit er überhaupt eine Meinung einbringen kann, die hilft, Ziele zu erreichen. Aber viel wichtiger ist, dass er gelernt hat, seinen Standpunkt auf die richtige Art und Weise zu artikulieren. So wie die kanaanäische Frau Jesus auf hinreißende Art widerspricht, indem sie sagt: »Ja, Herr, du hast Recht!« (Mk 7,24–30), um ihm dann empathisch und erfolgreich dazu zu bringen, seinen Standpunkt zu ändern. Das hat etwas mit Bildung zu tun! Und auf jeden Fall hilft es, wenn man im Elternhaus und später in der Ausbildung ermutigt wurde und gelernt hat, seinen Standpunkt klar zu machen.

Also die Fähigkeit, im Dialog seine Position einzunehmen?

Ja, genau, und zwar ohne dass der andere zumacht!

Hat das nun auch etwas mit Ethik zu tun? Welche Bedeutung haben ethische Überzeugungen für das Werden eines gebildeten Menschen?

Wenn man unter Bildung mehr versteht als Ausbildung und Wissensvermittlung, nämlich auch die Fähigkeit zum Verstehen größerer Zusammenhänge und zum Entwickeln der eigenen Meinung, und den Willen, Nutzen zu stiften und im Dialog Standpunkte lösungsorientiert klarzumachen: Dann ist Ethik ein ganz wichtiges Fundament. Es ist zentral, Werte, eine Haltung zu haben, an der sich eine andere Meinung spiegeln kann. Widerspruch muss immer an Ethik gespiegelt werden. Wenn es nur darum geht, eine eigene Meinung durchzupeitschen, hat das nichts mit Werteorientierung für unsere Welt zu tun. Dann kann es sogar gefährlich werden.

Ethik ist also wie das Rückgrat?

Ja, genau: schön!

In welche Aspekte gliedern Sie Bildung?

Erstens Ausbildung im Sinne von Wissensvermittlung; zweitens die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen und diese durch Fokussierung auf das Wesentliche und Strukturierung der erforderlichen Maßnahmen zu erreichen; drittens das, was ich Herzensbildung nenne, die eine Haltung, Werte und Ethik einschließt.